Polizeigewalt – ein Trauma
Was in Halle am 07. August 2012 stattfand ereignet(e) sich auch in anderen Städten. Gerade deshalb halten wir es für wichtig zu informieren, zum einen über die strukturelle Dimension von Polizeigewalt, zum anderen über die konkrete Geschehnisse und Konsequenzen im Nachgang des Polizeiübergriffes auf einen Demonstranten.
Am 07. August 2012 hatte die NPD in Halle im Rahmen ihrer Propaganda Tour eine Kundgebung in Halle angemeldet. Die zivilgesellschaftliche Initiative Halle gegen Rechts – Bündnis für Zivilcourage(HgR) hatte zu Protesten am Kundgebungsort der Neonazis aufgerufen. Im Innenstadtgebiet waren mehrere HgR-Informationsstände besetzt, um Passant_innen für die Proteste zu sensibilisieren und über rechte Ideologeme aufzuklären. Gegen Nachmittag wurden schließlich mehrere Neonazis durch Beamte der zweiten Magdeburger Polizeihundertschaft zum rechten Kundgebungsplatz durch das historisch jüdische Viertel eskortiert.
Bereits hier zeigt sich die Ignoranz der politischen und polizeilichen Entscheidungsträger_innen. Engagierte Menschen versuchten sich diesem provokativen Akt in den Weg zu stellen. Doch noch bevor die Demonstrant_innen die Straßenkreuzung erreicht hatten, erfolgte gegenüber den gewaltfrei Protestierenden der Befehl: „Schlagstock frei“. Die Konsequenz: zwei verletzte Demonstranten*. Der Schlag eines Polizisten gegenüber einem jungen Menschen hatte so schwerwiegende Folgen, dass dieser Mensch noch am selben Tag notoperiert werden musst. Wenige Tage später folgte die zweite Operation; zum jetzigen Zeitpunkt ist sicher, dass der Betroffene irreparable Schäden durch den Akt der unverhältnismäßigen Polizeigewalt davon getragen hat. Noch am selben Tag erstattete die Anmelderin des HgR Anzeige wegen Körperverletzung im Amt in zwei Fällen. Während der Anzeigeerstattung teilten die Polizeibeamt_innen vor Ort mit, dass Kenntnis über den Namen des Tatverdächtigen bestehen würde und polizeiliche Videoaufnahmen vorliegen würden.
Ermittlungspannen, Fehleinschätzungen oder Vertuschungsversuch?
In den folgenden Tagen wurde neben der strafrechtlichen Anzeige der Körperverletzung im Amt, ebenso eine Feststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht eingereicht. Den ermittelnden Polizeibeamten wurden durch HgR Augenzeug_innen und die betreffende Polizeieinheit benannt. Während die Vernehmungen der zivilgesellschaftlichen Zeug_innen unter extrem hohem Druck forciert wurden, blieben die Landespolizist_innen erst einmal weitgehend unbehelligt.
Die polizeilichen Videoaufnahmen waren erst verschwunden und tauchten dann im Rahmen der Ermittlungen wieder auf, nachdem durch Fotoaufnahmen des HgR eindeutig nachgewiesen werden konnte, dass ein polizeiliches Videoteam vor Ort war. Der Polizeisprecher der Polizeidirektion Sachen-Anhalt Süd (PD Süd) lancierte gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung, dass der schwerverletzte Demonstrant „bereits bei anderen Demos aufgefallen [sei]“. 1
Auf Nachfrage der Initiative HgR an die PD Süd wurde die Anschuldigung als bestandloses Versehen zurückgenommen und geäußert, dass noch nie gegen den Betroffenen ermittelt wurde – eine Gegendarstellung und Entschuldigung von Seiten der PD Süd erfolgt jedoch nicht.
Trotz Augenzeug_innen, die den Tathergang, als auch den Tatverdächtigen beschrieben und Fotos, die den polizeilichen Übergriff dokumentierten wurden im März die Ermittlungen von Seiten der Staatsanwaltschaft Halle eingestellt. Am 08. August 2012 ließ der ermittelnde Staatsanwalt Klaus Wiechmann in der Mitteldeutschen Zeitung verlautbaren: „Das sind schwere Verletzungen, wir nehmen das durchaus Ernst. Hier soll nichts unter den Teppich gekehrt werden“. 2
Wie ernst es der Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen wirklich war, ließ sich im Frühjahr 2013 beispielhaft ablesen. Zuerst erfolgte die Verfahrenseinstellung. Daraufhin wurde durch den juristischen Vertreter des Geschädigten, Rechtsanwalt Sven Adam, Widerspruch eingelegt und die öffentliche Empörung ließ sich in Zeitungsartikeln, Pressemitteilungen, Kommentaren und Stellungnahmen ablesen. So wurde das Verfahren kaum drei Tage später wiederaufgenommen. Die Wiederaufnahme ist bei der dokumentierten, lückenlosen Ablaufkette auch kaum verwunderlich. Ein junger Mensch geht gesund auf eine politische Veranstaltung, der Polizist wird dabei fotografiert, wie er den jungen Menschen angeht, der Betroffene wird an diesem Ort unter den Augen der umstehenden Polizist_innen in den Krankenwagen gebracht und im Krankenhaus notoperiert. Doch Staatsanwalt Wiechmann rechtfertigt die Einstellung wie folgt: „Die Ermittlungen hatten nicht ausgereicht, die Tat nachzuweisen“ 3. Hierbei müssen sich die ermittelnden Beamten die Frage stellen lassen, in wie weit die Ermittlungen tatsächlich ernsthaft geführt wurden. Denn neben den oben erwähnten Merkwürdigkeiten, wurden den Augenzeug_innen bis heute nicht einmal Wahllichtbildaufnahmen des Tatverdächtigen zur Identifikation vorgelegt.
Auch ist fraglich in wie weit Staatsanwalt Wiechmann seiner Sorgfaltspflicht nachgekommen ist. Denn obwohl den Zeug_innen bis heute nicht einmal Lichtbildaufnahmen des Tatverdächtigen vorgelegt wurden, konnte ein Tatverdächtiger ermittelt werden. Was benötigt die Staatsanwaltschaft mehr um Anklage zu erheben und somit durch das Gericht die Bewertung der Beweise vorzunehmen?
In der Art und Weise, wie die Ermittlungen geführt werden, wird der strukturelle Missstand von ermittelnden Polizist_innen gegen tatverdächtige Polizist_innen deutlich. So wäre es nicht verwunderlich, wenn das Verfahren, eben auf Grund der politisch nicht korrigierten strukturellen Missstände, erneut eingestellt werden würde. Eine unabhängige Ermittlungskommission hätte den Übergriff auf den jungen Demonstranten zwar nicht verhindert, wäre jedoch zumindest der Versuch einer Annäherung an das Credo der Unabhängigkeit der Judikative.
Polizeigewalt – Kein Einzelfall
Der „Hamburger Kessel“ aus dem Jahre 1986 ist zu einem Symbol des öffentlichen Bewusstseins von rechtswidriger Polizeigewalt geworden. 23 Jahre danach machte der „Freiburger Kessel“ Furore, unter anderem weil dabei die Polizei einem Arzt die Versorgung einer gefesselten Epileptikerin untersagte. Aktuell bewegen die Bilder von massiver Polizeigewalt aus Frankfurt gegen Blockupy-Aktivist_innen, bei denen mehr als 200 Menschen verletzt wurden die kritische Öffentlichkeit. 4 Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in irgendeinem Lokalblatt wieder ein Fall von rechtswidriger Polizeigewalt öffentlich wird. Sei es im Rahmen der Einschüchterung von Menschen bei der Ausübung des Demonstrationsgrundrechts, der Drohung mit oder Ausübung von Gewalt zur Beweismittelgewinnung oder der rassistisch motivierten polizeilichen Gewaltpraxis. So wurden 2011 1.963 Fälle von Körperverletzung im Amtangezeigt. 5
Im selben Jahr erfolgten jedoch nur 73 Anklageerhebungen 6, was einer Anklageerhebungsquote von 3,7 % entspricht. 7 Ganz anders sah 2011 beispielsweise die Anklageerhebungsquote der zivilen Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheitmit 23,9% aus. Hier wird deutlich, dass für Polizist_innen bereits vor der Anklageerhebung andere Spielregeln gelten und ebenso andere Mechanismen wirken. Dies zeigt sich auch bei der extrem hohen Dunkelziffer der Fälle von Körperverletzung im Amt, wie Strafrechtsanwält_innen einschätzen. Dies ist kaum verwunderlich, wenn die Betroffenen mit einem Automatismus der Gegenanzeige zu rechnen haben 8, Gewalterfahrungen durch Polizist_innen bei Polizist_innen anzeigen müssen, bei Betroffenen Unkenntnis über die eigenen Rechte bestehen oder generell von einer Anzeige abgesehen wird, weil in Anbetracht der Einstellungsquote bei Verfahren gegen Polizist_innen keine Erfolgsaussichten erwartet werden. Der hallesche Fall von Polizeigewalt hat persönlich betroffen gemacht, eben auch durch dadurch, dass die drastischen Konsequenzen nicht länger nur abstrakt blieben, sondern fühlbar wurden. Egal ob Polizist_innen Menschen beleidigen, schuppsen, einkesseln, schlagen oder sogar töten, unabhängig davon, ob Polizeigewalt eine_n Freund_in trifft oder einen Menschen am anderen Ende der Welt, werden bei derartigen Übergriffen die unvermeidliche Konsequenz des Gewaltmonopols sichtbar.
Zwar ist jede_r Polizist_in für das eigene Handeln verantwortlich, doch verkörpert die Anwendung von Polizeigewalt das gesellschaftlich bereitwillig akzeptierte Gewaltmonopol des Staates. Tobias Singelnstein bringt dies in seinem Essay „Polizisten vor Gericht“ treffend auf den Punkt: „Die Institution Polizei als Protagonistin des Gewaltmonopols soll Gewalt anwenden, gerade um sie zu monopolisieren. Dass dabei Grenzen überschritten werden und sich Eigengesetzlichkeiten ihren Weg bahnen, ist unvermeidlich, so dass bereits aus dieser Perspektive eine wirkliche Begrenzung der in der Polizei verkörperten Staatsgewalt schwierig scheint. Gleichzeitig ist eine effektive Kontrolle der Polizei von staatlicher Seite nur in Grenzen möglich und wohl auch nicht umfassend erwünscht. Denn im Vordergrund steht hier das Bedürfnis, dass die eigene Hüterin des Gewaltmonopols dieses effektiv umsetzt. Hierzu stünde es im Widerspruch, wenn die Beamten bei jedem Regelübertritt mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müssten.“ 9
Die systemische Einordnung der Polizeigewalt macht deutlich, dass Betroffenenschutz nicht mit der Ahndung der Übergriffe oder der politischen Korrekturen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse erreichbar sei, sondern das die Notwendigkeit besteht gegen die Verhältnisse selbst vorzugehen.
Fußnoten:
1 08.08.12, MZ http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?
pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1344409638318&openMenu=1012569559775&calledPag
eId=1012569559775&listid=1016799959889
2 06.09.12, MZ http://www.mz-web.de/mitteldeutschland/ermittlungen-aerzte-muessen-demon...
3 10.04.13, MZ http://www.mz-web.de/halle-saalekreis/halle-demonstrant-klagt-gegen-poli...
4 http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-06/frankfurt-demonstr...
5 BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik 2012
http://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKrim...
2ImkKurzbericht,templateId=raw,property=publicationFile.pdf//pks2012ImkKurzbericht.html
6 Statistisches Bundesamt: Strafverfolgungsstatistik (Fachserie 10, Reihe 3), 2011
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/Strafve...
gung2100300117004.pdf?__blob=publicationFile
7 Zwar lassen sich diese Zahlen nicht eins zu eins ins Verhältnis setzen, durch die minimalen
Jahresschwankungen der Fallzahlen und die deutliche Differenz der Quoten ist zumindest ein
signifikanter Unterschied festzustellen. Weiter ist zu beachten, dass eine Anklageerhebung nur der
erste Schritt zur Verurteilung ist. Die tatsächliche Verurteilungsquote liegt nochmals weit niedriger.
8 Strafverteidiger gehen davon aus, dass in 90 % der Fälle diese Kombination vorliegt.
9 Tobias Singelnstein, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der FU Berlin,
http://www.cilip.de/ausgabe/95/singelnstein_polizisten-gericht.htm
Demo: 31.08.2013
Halle (Saale) Hauptbahnhof
Start: 15:00 Uhr
http://criticaldemands.blogsport.de
07. August 2012, Halle (Saale)
Polizeigewalt – Ein Trauma, aber kein Einzelfall
Eine Zusammenfassung der Geschehnisse vom 07.08.12 bis zum Juni 2013
Was für eine Art Verletzung ist entstanden?
Was für eine Art Verletzung ist entstanden?
Verletzung
Das Opfer erlitt eine schwere Verletzung im Genitalbereich.
Das sollte als Info genügen.