Solidarität nur mit politisch korrekten Zwangsräumungs-Opfern?

Der Anlass liegt zwar schon etwas zurück, aber das Thema ist nach wie vor aktuell. Bereits am 25.02.2013 veröffentlichte der „Tagesspiegel“ einen Artikel über den Fall von Rosemarie Fliess, die kürzlich zwei Tage nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung verstorben ist (http://www.tagesspiegel.de/berlin/neuer-protest-gegen-zwangsraeumung-blo...). Die Autorin will herausgefunden haben, dass Frau Fliess an ihrer Lage selbst schuld war, da sie ihre Nachbarn terrorisiert, von Ämtern angebotene Hilfe nicht angenommen und ihre Wohnung verkommen lassen habe. Auch das „Bündnis gegen Zwangsräumungen“ wurde vom „Tagesspiegel“ zu dem Fall befragt, worauf deren Sprecherin u.a. gesagt habe: „Natürlich unterstütze man nicht jeden [...], aber Frau F. sei sicher in ihrem Auftreten und selbstreflektiert“.

 

Aha. Und wenn Frau F. eher unsicher und wenig selbstreflektiert gewesen wäre? Wenn sie sich am Ende gar tatsächlich so asi verhalten hätte, wie der „Tagesspiegel“ behauptet? Hätte sie dann keine Unterstützung vom „Bündnis gegen Zwangsräumungen“ bekommen? Man muss es annehmen, denn dieses unterstützt – sofern die Sprecherin korrekt zitiert wurde – „natürlich“ nicht jeden, sondern offenbar nur Leute, die als sympathische und mitleidserheischende Zwangsräumungs-Opfer vorzeigbar sind, um in der Öffentlichkeit Zustimmung für das Anliegen der Kampagne zu mobilisieren.

 

Dieser Opportunismus passt zu den biederen Pressemitteilungen des Bündnisses und zu den naiv-reformistischen Parolen, die die Zwangsräumungs-Protest bisher dominieren: „Keine Rendite mit der Miete!“ (als wären Rendite und Miete für sich genommen okay, nur die Kombination von beiden nicht), „Mieten runter, Löhne rauf!“ (als wäre die Marktwirtschaft ein Wunschkonzert) u.s.w. Solche Slogans verwundern, denn wenn meine Wahrnehmung stimmt, so ist diese Bewegung maßgeblich von Linksradikalen initiiert und getragen, die Profitsystem, Privateigentum und Lohnarbeit insgesamt ablehnen. Warum dann aber diese Maskerade, das Verbergen der wirklichen Ziele unter dem Deckmantel eines Bürgerprotests?

 

Man wird wahrscheinlich antworten, dass es notwendig sei, die liberale Öffentlichkeit nicht zu verschrecken, um breitere Kreise in die Bewegung einzubinden und diese dann langsam radikalisieren zu können. Ich weiß nicht, ob dieses mittlerweile seit über hundert Jahren bemühte Mysterium vom Umschlag der Reform in die Revolution jemals funktionieren wird. Andererseits glaube ich auch nicht, dass der radikale Bruch aus dem Nichts entsteht. Damit überhaupt eine Dynamik entstehen kann, wäre es jedenfalls notwendig, dass die radikalen Kräfte etwas offener agieren, sodass erkennbar wird, dass zumindest ein Teil der Bewegung nicht eine Verteidigung des status quo, sondern eine ganz andere Stadt für eine ganz anderes Leben will.

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert

Das gewählte Zitat ist natürlich scheisse. Aber sowas kann natürlich auch eine Verfälschung durch die Zeitung sein, das Zitat ist ja auch nicht mit Anführungsstrichen.

Ansonsten ist mir deine Zielrichtung nicht ganz klar. Meinst du jetzt, dass Zwangsräumung verhindern reformistisch sei ? Möchtest du, dass der Protest klarer einordbar ist ?

Was meinst du mit offener agieren ? Was kritisierst du genau an den Protesten ? Die Slogans, die Texte oder die gesamte Ausrichtung ?

Hast du gute Vorschläge ?

Ich glaube nicht, dass die Proteste eine Maskerade betreiben. Es geht schlussendlich darum Zwangsräumungen zu verhindern, manchmal taucht auch der Slogan auf, dass Wohnraum keine Ware sein soll. Da gibt es keine geheimen Absichten, welche durch perfide geschriebene Pressemitteilungen verdeckt werden. Es geht um die konkreten Betroffenen, deren Lage geschildert wird und deren Zwangsräumung abgewendet werden soll. Manchmal gibt es eine allgmeine Einordnung, manchmal auch nicht. Die Proteste sind halt keine reinen Szeneveranstaltungen, wenn du das mit "unter dem Deckmantel eines Bürgerprotests" meinst.

Um die Problematik mal an einem extremen Beispiel deutlich zu machen: Hättest du Lust, morgens aufzustehen und dich von den Bullen verprügeln zu lassen, um die Zwangsräumung von einem Nazi zu verhindern? 

Eigentlich wäre dieser imaginiäre Nazi ja auch nur ein Opfer kapitalistischer Verdrängung, also müßten wir ihn eigentlich im Kampf dagegen unterstützen. Ich würde trotzdem im Bett bleiben... Und mit den Leuten vom Bündnis mal ein paar sehr ernste Worte reden...

Mir ist schon klar, dass das Beispiel ziemlich konstruiert ist, und es auch mehr als unrealistisch ist, dass sich ein eindeutiger Nazi ans Bündnis wendet. Aber was würdest du mit Leuten machen, die anfangen, vor der Presse irgendwelche wirren Theorien von jüdischer Weltverschwörung zu erzählen, die Schuld für ihre Zwangsräumung sind? Oder mit Familien, in denen häusliche Gewalt an der Tagesordnung ist, mit Vätern, die ihre Kinder sexuell missbraucht haben, mit deutschen Familien, die öfter mal ihre türkischen Nachbarn beschimpfen oder auch nur zur WM Deutschlandfahnen von den Balkonen hängen?

Betroffene von Verdrängung sind halt ganz normale Menschen, und ganz normale Menschen (Szenemenschen eingeschlossen) können auch gleichzeitig Täter_innen in anderen Macht- und Hersschaftsverhältnissen sein. Die Welt ist halt leider nicht so schwarz-weiß, wie manche Szenezusammenhänge das gerne hätten.

Daher finde ich die Aussage, nicht jeden zu unterstützen, prinzipiell richtig und wichtig, die Entscheidung, was nicht mehr "PC" genug ist, verdammt schwierig und wahrscheinlich nur im Einzelfall zu klären.

Der zweite Teil der Aussage, Selbstreflektion und Sicherheit im Auftreten als Kriterien anzugeben, ist, zumindest so aus dem Kontext gerissen, schon ziemlich problematisch.

Fakt ist, dass Rosemarie kein ganz einfacher Mensch war, was vor dem Hintergrund ihrer Geschichte auch niemanden erstaunen sollte, und selbstverständlich ist das kein Grund, jemanden auf die Straße zu setzen, ganz im Gegenteil. Ich hab die Pressearbeit des Bündnisses aber im großen und Ganzen auch in diesem Sinn wahrgenommen und würde das Zitat daher eher als etwas missglückten (oder auch von der Presse im Mund herumgedrehten) Versuch ansehen, gegen die von der Presse vorangetriebene Hetze im Sinne von "sie war doch selber Schuld, sie wollte keine Hilfe annehnen, sie war unzumutbar und hätte eigentlich in die Psychiatrie gehört" anzudiskutieren.

Und ich glaube nicht, dass die Bewegung von linksradikalen getragen wird, die sich einen Deckmantel überwerfen, ich glaube, dass sie von Menschen getragen wird, die keine Bock mehr auf selbstverschuldetes Szeneghetto und Selbstbeweihräucherung für gesellschaftlich höchst irrelevante, dafür aber unglaublich verbalradikale Politik haben. Und von einer Menge Menschen, die mit Szene nie was zu tun hatten und mit denen sich so einige höchst "radikale" Individuen zu fein wären auch nur zu sprechen, geschweige denn zusammenzuarbeiten.

Ob jemand die Strategie verfolgt, die Proteste zu radikalisieren, weiß ich nicht, ob dies von selbst passiert oder ob es auch nur möglich ist, weiß ich auch nicht (und auch sonst niemand). Fakt ist, dass eine Dynamik bereits entstanden ist, von der ziemlich unklar und offen ist, wo sie hinführt - the future is unwritten! Und zumindest für mich ist das eine der spannendsten Sachen, die in den letzten Jahren in Berlin passiert ist. Daher ärgert mich auch der überhebliche, herablassende, stellenweise zutiefst unsolidarische und diffamierende Ton der Kritik.

heißt laut wikipedia:

 

Opportun heißt „herangetragen“ (wörtlich), „gelegen“ (figurativ), und bezieht sich auf eine günstige Gelegenheit; der Opportunist geht weiter, er nutzt eine günstige Gelegenheit ohne Rücksicht auf Konsequenzen oder eigene Wertvorstellungen zu seinem Vorteil. Es ist ein überwiegend negativ besetzter Begriff: Der Opportunismus stellt die Zweckmäßigkeit über die Grundsatztreue. Eine abgeschwächte Form des Opportunismus findet sich im Pragmatismus oder eventuell auch im Realismus wieder. Man kann als Gegenpol zum Opportunisten den Ideologen sehen. In diesem Begriffszusammenhang ist es schwierig, den Übergang zwischen Kompromissbereitschaft und Opportunismus zu definieren oder festzulegen. Politischer Opportunismus nimmt unter Umständen langfristige Nachteile in Kauf, um kurzfristig Zustimmung zu erzielen und bedeutet oftmals das Aufgeben der eigenen Meinung – teilweise oder ganz – zum Vorteil einer anderen Meinung, welcher man größere Chancen auf allgemeine Zustimmung einräumt.

 

Der Protest gegen Zwangsräumungen ist opportun in dem Sinne, dass er die Gelegenheit der sich zuspitzenden Verschärfung der Wohnungssituation in Berlin im Kontext der internationalen Krise und daraus entstandenen Widerstandsformen und Dynamiken, u.a. gegen Zwangsräumungen in Spanien und der vorangegangenen Proteste gegen Gentrifizierung in Berlin ergreift und damit gerade ziemlich erfolgreich ist.

Ob man ihn deswegen gleich als opportunistisch beschimpfen sollte, und ob Ideologie eine erstrebenswerte Alternative ist, ist eine sehr viel schwierigere Frage. Die biedere Art der PMs und naiv-reformistische Parolen taugen nicht so richtig als Argumente für den Vorwurf des Opportunismus.

"Natürlich unterstütze man nicht jeden ..."

 

Was ist daran falsch? Nazis zum Beispiel werden nicht unterstützt. Einfach mal nachdenken, bevor man hier bescheuerte Verdächtigungen raushaut.