Slowenien erlebt den heftigsten Aufstand seit zwei Jahrzehnten und den ersten überhaupt, der sich gegen das politische Establishment richtet, gegen den Sparkurs und in manchen Orten gegen den Kapitalismus an sich. Alles begann Mitte November mit einem Protest gegen den korrupten Bürgermeister von Maribor, der zweitgrößten Stadt in Slowenien (ca. 150.000 Einwohner*innen). Der ist mittlerweile zurückgetreten. Dabei fand ein Slogan Verbreitung, der nun zum Symbol der Proteste geworden ist: “Sie sind alle fällig.” Es handelt sich um dezentrale, antiautoritäre und nicht-hierarchische Proteste, die auch Leute umfassen, die nie zuvor auf die Straße gegangen waren. Proteste finden selbst in kleinen Dörfern statt. Wir sind gespannt wie es weitergeht!
Die Anarchistische Föderation in Slowenien (FAO – Federation of Anarchist Organizing), die Teil der IFA ist, hat uns Materialien zukommen lassen, die wir übersetzt haben und hiermit gerne veröffentlichen.
Wir machen keinen Unterschied – sie sind alle fällig!
Von Federacija za anarhistično organiziranje (FAO, Föderation für anarchistische Organisierung)
In den letzten Tagen ist die Geschichte mit all ihrer Wucht über uns hereingebrochen. Mit dem Aufstand in Maribor hat etwas begonnen, von dem viele dachten, dass es unmöglich sei: Die Menschen organisierten sich selbst, drängten ihren Bürgermeister in die Ecke und zwangen ihn zum Rückzug. Gleichzeitig zündeten sie den ersten Funken für einen breiten Widerstand gegen die politisch-ökonomische Elite und das kapitalistische System. Da wir keine Wahrsager*innen sind, können wir nicht voraussehen, was nun folgen wird, aber wir wissen, dass uns Romantisierung und Naivität nicht weiterhelfen werden, sondern nur Organisiertheit und Entschlossenheit.
Von unten nach oben und von der Peripherie ins Zentrum
Der Protest hat sich über das ganze Land ausgeweitet und ist übergegangen in einen slowenischen Aufstand gegen die Politiker*innen und die herrschende Klasse. Jeder Teil des Landes empfiehlt den Politiker*innen in seiner Sprache, dass ihre Zeit jetzt abgelaufen ist. Die Dezentralisierung des Widerstands und die Tatsache, dass der Widerstand nicht von oben oder von den Herrschenden organisiert ist, sondern von unten, von Seiten der Menschen, die von niemandem repräsentiert werden, ist eines der bedeutendsten Merkmale der jüngsten Entwicklungen der Geschehnisse. Wenn wir die Solidarität zwischen den Menschen aufrechterhalten und die Übernahme des Aufstandes durch die politische Klasse verhindern wollen, so muss die Dezentralisation vorwärts getrieben, verstärkt und verteidigt werden.
Die Polizei ist überall, doch nirgends unsere Rechte
Die Brutalität der Polizei gegen die Protestierenden ist keine Überraschung. Was allerdings überrascht, ist die Hoffnung einiger, dass sich die Polizei dem Widerstand anschließen könnte. Die Wahrheit ist, dass die Polizei nicht das primäre Ziel dieses Aufstands ist und dass die Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrierenden nicht sein eigentlicher und einziger Horizont sind. Dieser Konflikt zielt auf die kapitalistische und politische Klasse, sowie auf das ganze System als solches. Die Polizei ist nicht unser Bündnispartner, denn sie erfüllt ihre systemische Aufgabe und war nirgendwo und niemals ein Verbündeter des Widerstandes. Erinnern wir uns zurück: Die Polizei ist ein repressiver Apparat des Staates, deren strukturelle Funktion die Verteidigung der herrschenden Verhältnisse und der Interessen der herrschenden Klasse ist. Dies gilt auch weiterhin, auch wenn sich unter der Uniform ebenfalls ausgebeutete Subjekte befinden. Solange sie den Befehlen ihrer Vorgesetzten Folge leisten, werden sie Polizist*innen bleiben. Erst wenn sie das nicht mehr sind, können sie gerne Teil des Aufstandes werden. Die Hoffnung zu erwecken, dass sie auf unserer Seite stünden, ist daher letztendlich naiv. War denn ihre Intervention bei den jüngsten Demonstrationen so vorbildlich, wie es einige behaupteten und war sie tatsächlich im Interesse der Menschen? Haben wir denn die brutale Zerschlagung des Protests in Maribor und die Drohungen des Innenministers Gorenak, dass er alle Köpfe des “illegalen” Protests schnappen wird, vergessen?
Keineswegs sind wir überrascht vom Moralisieren über “Randalierer*innen” und “Gewalt”, das sich in den sozialen Netzwerken ausbreitet. Die Regierung und die Medien haben uns einen Knochen hingeworfen, auf den sich manche sofort gestürzt haben. Doch was sind zehn entglaste Fenster, eine zerschlagene Tür eines öffentlichen Gebäudes, eine aufgerissene Straße im Vergleich zur strukturellen Gewalt des Staates? Die Perspektivlosigkeit der Jugend, Arbeitslosigkeit, Prekarität (die stete Unsicherheit des Arbeitsplatzes), Kürzung von Stipendien, Suppenküchen, Entlassungen von Erzieher*innen in den Kindergärten, Leistungskürzungen in der Gesundheitsversicherung, Kürzungen im Bildungs- und Forschungsetat, Zwang zur Frühverrentung, Senkung von Löhnen, Renten, Urlaubstagen und das Verschwinden von billigem Wohnraum, junge Menschen, die als Untermieter oder bis zum Alter bei ihren Eltern leben müssen, die Verletzung der Rechte von Homosexuellen, Migrant*innen, Frauen, religiöse Minderheiten … wir könnten diese Reihe noch weiter fortsetzen. Aber mit ihr haben wir noch nicht das Thema der Korruption angesprochen, der Vetternwirtschaft, des Klientelismus und der Kriminalität der herrschenden Elite. Sie zwingen uns immer mehr zu arbeiten, doch die Früchte dieser Arbeit eignet sich die kapitalistische Klasse immer wieder aufs Neue an. Dieses System basiert auf Ausbeutung.Und nun sage jemand, wer denn hier an wem Gewalt ausübt? Wie können wir es uns erlauben mit den Menschen, die uns die Zukunft stehlen, zusammenzuarbeiten? Die Jugend ist wütend und sie hat keine Zeit zu verlieren. Deswegen hört auf sie zu verurteilen: Gemeinsam können wir unsere Aufmerksamkeit auf die wirklichen Probleme lenken.
Eine noch größere Gefahr ist es, sich auf die Repression nach innen und die Zusammenarbeit mit der Polizei zu stützen. Haben wir in unserer Gesellschaft nicht schon genug Kontrolle, Kameraüberwachung und Repression? Sollen wir nun etwa auch der Polizei helfen bei ihrer Jagd nach “Randalierer*innen”, sie ihnen ausliefern, um dadurch viele junge Leute aus diesem Aufstand auszuschließen, die überhaupt erst einen entscheidenden Beitrag zu ihrem Zustandekommen geleistet haben? Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist ein Schlag ins Gesicht für unsere Sache, die Verurteilung von jungen Menschen, die ihre Forderungen direkter artikulieren, blockieren die Entwicklungspotentiale des Widerstandes. Die Herrschenden bezeichnen das Zerschlagen von Glas als Gewalt, in Zukunft könnte diese Gewaltbezichtigung auf alle möglichen Formen des Widerstandes ausgeweitet werden, die unangemeldet oder passiv sind und letztlich keinen Schaden zufügen. Für ein System, das uns seit Jahren erniedrigt, ausraubt und vernichtet, sind wir alle Randalierer*innen. Deshalb drücken wir diesmal erneut unsere volle Solidarität gegenüber den Gefangenen aus und fordern ihre Freilassung, das Ende der medialen und juristischen Verfolgung, so wie die Rücknahme aller Strafen gegenüber den Menschen, die sich an den Demonstrationen beteiligt haben.
Alle Macht den Menschen, nicht den Parteien
Wegen der anfänglichen Spontaneität des Aufstandes, in der die Kreativität der Massen zum Ausdruck kam, eröffnete sich auch ein Raum für strategische Überlegungen. Damit sich der Aufstand zu einer sozialen Bewegung mit konkreten Forderungen, Zielen und Visionen entwickeln kann, müssen die richtigen Formen gefunden werden, wie diese Forderungen ausgedrückt werden können. Zudem muss eine organisatorische Form gefunden werden, die dies alles ermöglicht. Falls nicht, wird der Aufstand sich verflüchtigen und die Verhältnisse werden weiterhin bleiben, wie sie sind.
Wenn es um die Bestimmung der Forderungen geht, sollten wir Schritt für Schritt vorgehen. Wir sollten mit denjenigen Forderungen anfangen, die bereits innerhalb des Aufstandes zum Ausdruck kamen. Dabei geht es um soziale Fragen, das öffentliche Gesundheitssystem, das Bildungssystem und das Arbeitsrecht. Das heißt jedoch nicht, dass wir nicht einfach das alte System verteidigen wollen. Neben der Verteidigung der Rechte, die in jahrhundertelangen Kämpfen errungen wurden, müssen wir gleichfalls auch eine langfristige Perspektive haben. Solange Staat und Kapital existieren, werden die Ursachen der Ausbeutung und Zerstörung innerhalb des Schul-, Gesundheits- und Sozialsystems weiter erhalten bleiben. Daher müssen wir uns auf diesen Gebieten weiter selbst organisieren und aufhören, über Brotkrumen zu verhandeln. Denn Rechte werden nicht gewährt, sondern erkämpft!
Vielleicht wird sich ein Teil der korrumpierten politischen Elite mit der Tatsache zufrieden geben, dass ihre Zeit nun abgelaufen ist und die politische Bühne verlassen. Allerdings werden andere an ihre Stelle treten, die von uns dafür keine Legitimität bekommen haben und sie werden Entscheidungen in unserem Namen fällen. Ihre Interessen sind nicht unsere Interessen, und das zeigen sie uns tagtäglich mit unzähligen Beispielen von Vetternwirtschaft und Korruption sowie Reformen und Gesetzen gegen die kapitalistische Krise, die uns weiter an den gesellschaftlichen Rand und darüber hinaus drängen. Deswegen müssen alle abtreten, vom ersten bis zum letzten. Es wäre naiv daran zu glauben, dass es irgendwo saubere und unverdorbene Menschen gibt, und wir ihnen bei den Wahlen nur unsere Stimme geben müssten, damit sie uns, da sie ja das Beste für uns wollen, aus der Krise retten. Das politisch-ökonomische System mit seiner Autorität und Hierarchie macht ein Leben unmöglich, dass in Einklang mit unseren Wünschen und Bedürfnissen steht und uns nicht zu entfremdeten Wesen macht. Solange der Kapitalismus existiert, in dem eine Minderheit über die Mehrheit herrscht und sie ökonomisch und sozial am Boden hält, wird unser Leben leer bleiben. Wenn wir uns nicht erheben und uns für die Alternative entscheiden, wird es immer jemand geben, der über uns herrschen wird: der Patriarch in der Familie, die Dekan*innen und die Studentenvertreter*innen an den Fakultäten, die Vorgesetzten auf dem Arbeitsplatz und die Politiker*innen in der Regierung. Die verlogene Demokratie, die sie uns regelmäßig bei Wahlen feilbieten, ist nicht die einzige Möglichkeit gesellschaftliches Leben zu organisieren.
Organisieren wir uns dort, wo wir arbeiten, leben und studieren
Damit der Aufstand und seine Forderungen eine reale gesellschaftliche Macht hervorbringen kann, ist Selbstorganisation notwendig. Wenn wir von Organisation des Aufstandes sprechen, denken wir selbstverständlich an die Form der Organisierung, die eine andere sein wird, als die uns bisher bekannten Formen der gesellschaftlichen und politischen Organisierung. Wir müssen uns von unten her organisieren, ohne Hierarchie oder irgendwelche Anführer*innen, und überall dort, wo man uns ausbeutet und unterdrückt: in unseren Kiezen, am Arbeitsplatz, in den Bildungsinstitutionen. Die Bauern und Bäuerinnen sollten sich zu Genossenschaften zusammenschließen, und die Genossenschaften sollten sich mit städtischen Strukturen zusammenschließen. Eine spontane und kreative Selbstorganisation entwickelt die freiheitlichsten Verhältnisse und erzeugt Strukturen, welche dem Einzelnen volle Partizipation ermöglichen. Ihr folgen die Prinzipien der direkten Demokratie, der gegenseitigen Solidarität, des Antifaschismus und der Abwesenheit von Autorität.
Als Methode einer derartigen Organisierung empfehlen wir zu Beginn die Institution einer direktdemokratischen Versammlung, wie sie in den letzten Jahren während den Aufständen weltweit praktiziert wurde. Wir können uns lokal organisieren, in kleineren Gruppen, um dann gemeinsam unsere zu Zukunft gestalten. Dabei erkennen wir unsere Bedürfnisse sowie die Bedürfnisse der einzelnen Lebensräume, Städte und Dörfer. Gleichzeitig können wir gemeinsam unsere Vorschläge formulieren, unsere Potentiale entdecken und sie in großem Maßstab gleichfalls verwirklichen. So werden wir die Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit wiederherstellen. So werden wir die Einigkeit herstellen, in der allen alles zugänglich ist und wo für diejenigen, die Herrschaft wollen, nichts mehr da ist.
Daher empfehlen wir als weitere Schritte des Aufstandes eine Vernetzung der Versammlungen und die Gründung eines Organs für den bisher zerstreuten und sich in Entwicklung befindlichen Aufstand. Wir schlagen vor, dass wir uns auf Grundlage unserer gemeinsamen Interessen zusammenfinden in einer Front aus Gruppen und Einzelpersonen. Diese Front würde keine ideologischen Grenzen kennen, sie wäre inklusiv und wäre begründet in unseren gemeinsamen Forderungen. Die Front wäre horizontal organisiert ohne vermittelnde Körperschaften oder Funktionäre. Sie würde sich auf die Autonomie der Gruppen und Einzelpersonen stützen und auf direkt-demokratische Entscheidungen.
Alle Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen, die das alles für eine gute Idee halten, rufen wir dazu auf, sich über die offenen Versammlungen in ihren lokalen Gemeinden zu organisieren. Die Versammlungen bieten uns später die Möglichkeit, uns miteinander zu vernetzen. Holen wir uns gemeinsam unser Leben zurück!
Von den Straßen und Plätzen, 6. Dezember 2012.
FAO:
- Alternativa obstaja (Alternative bleibt)
- Anarhistična Fronta Posavje [ AFP ] (Anarchistische Front Posavje)
- Anarhistična pobuda Ljubljana [ APL ] (Anarchistische Bewegung Ljubljana)
- Avtonomna skupina Koprive (Anarchistische Gruppe Koprive)
- Organizirana skupnost anarhistov Zasavje [ OSA ] (Organisierte anarchistische Gruppe Zasavje)
- Tovarišija anarhistk/ov Maribor [ TAM ] (Anarchistische Genoss*innen Maribor)
Federation for anarchist organizing (FAO), Slovenia
a-federacija.org //// inter@a-federacija.org
CHRONOLOGIE DES AUFSTANDS
- Maribor, Mittwoch, 21. November, 1.500 Menschen
- Maribor, Montag, 26. November, 10.000 Menschen, 31 Verhaftete (alle am nächsten Tag entlassen)
- Ljubljana, Dienstag, 27. November, 1.000 Menschen
- Jesenice, Mittwoch, 28. November, 200 Menschen
- Kranj, Donnerstag, 29. November, 1.000 Menschen, 2 Verhaftete
- Ljubljana, Freitag, 30. November, 10.000 Menschen, 33 Verhaftete, 17 Verletzte
- Koper, Freitag, 30. November, 300 Menschen
- Nova Gorica, Freitag 30. November, 800 Menschen
- Novo mesto, Freitag 30. November, 300 Menschen
- Velenje, Freitag 30. November, 500 Menschen
- Ajdovščina, Freitag 30. November, 200 Menschen
- Trbovlje, Freitag 30. November, 300 Menschen
- Krško, Samstag, 1. Dezember, 300 Menschen
- Maribor, Montag, 3. Dezember, 20.000 Menschen, 160 Verhaftete, 38 Verletzte
- Ljubljana, Moday, 3. Dezember, 6.000 Menschen
- Celje, Montag, 3. Dezember, 3.000 Menschen, 15 Verhaftete
- Ptuj, Montag, 3. Dezember, 600 Menschen
- Ravne na Koroškem, Montag, 3. Dezember, 500 Menschen
- Trbovlje, Montag, 3. Dezember, 400 Menschen
- Jesenice, Dienstag, 4. Dezember, 300 Menschen, 41 Verhaftete
- Brežice, Dienstag, 4. Dezember, 250 Menschen
- Ljubljana, Mittwoch, 5. Dezember, Studierendenprotest vor der Kunstfakultät, 500 Menschen
- Ljubljana, Donnerstag, 6. Dezember, Studierendenprotest vor dem Parlament, 4.000 Menschen
- Koper, Donnerstag, 6. Dezember, 1.000 Menschen, 2 Verhaftete
- Kranj, Donnerstag, 6. Dezember, 500 Menschen
- Izola, Donnerstag, 6. Dezember, 50 Menschen
- Murska Sobota, Freitag, 7. Dezember, 3.000 Menschen
- Bohinjska Bistrica, Freitag, 7. Dezember, 50 Menschen
- Ajdovščina, Freitag, 7. Dezember, 150 Menschen
- Ljubljana, Freitag, 7. Dezember 3.000 Menschen
- Nova Gorica, Samstag, 8. Dezember, 300 Menschen
- Brežice, Sonntag, 9.Dezember 200 Menschen
- Ljubljana, Montag, 10. Dezember, 100 Menschen
- Maribor, Montag, 10. Dezember, 200 Menschen (Solidaritätsprotest für die Inhaftierten)
- Ptuj, Montag, 10. Dezember, 200 Menschen
- Ljubljana, Donnerstag, 13. Dezember
- Maribor, Freitag, 14. Dezember
- SLOWENIEN (in allen Städten), 21. Dezember