Heilbronn - Ich fühlte mich wie in einem Belagerungszustand", erinnert sich Helmut Woda an den 1. Mai 2011, als er mit Hunderten anderen Demonstranten viele Stunden auf dem Heilbronner Bahnhofsvorplatz eingekesselt war. Die Polizei hinter den Absperrgittern habe eine "aggressive Ausstrahlung" gehabt.
Für ihn als Gewerkschafter sei es äußerst unbefriedigend gewesen, dass die Einsatzkräfte den Rechtsextremen der NPD die Straßen frei machten und die Gegendemonstranten auf dem Platz festhielt. Woda und vier weitere Betroffene haben vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart geklagt, um die Einkesselung als rechtswidrig einstufen zu lassen.
Befragungen
Der Vorsitzende Richter Rolf Vondung befragt die Kläger gestern ausführlich zu den Abläufen an jenem 1. Mai. Sie waren am Morgen mit dem Zug nach Heilbronn gekommen, um an einer der drei Demonstrationen gegen den Aufmarsch der Rechten teilzunehmen. Die Polizei wollte beide Lager strikt getrennt halten und drängte die Gegendemonstranten aus dem bürgerlichen und linken Spektrum auf den Vorplatz. Erst abends gegen 20 Uhr konnten sie nach Feststellung ihrer Personalien den Platz verlassen.
Die Schilderung der Abläufe durch Kläger und der Behördenvertreter weichen extrem voneinander ab. Vondung zitiert aus einem Aktenvermerk, den zwei Bereitschaftsrichter nach einer Ortsbesichtigung angefertigt haben. Von "hoher Aggressivität" der Demonstranten auf dem Platz ist die Rede. Es habe "Beleidigungen und Schmähgesänge gegen die Polizei" gegeben. Die Richter hielten die Aufnahme der Personalien für notwendig, um später Straftaten verfolgen zu können.
Kläger Johannes Beck erinnert sich ganz anders. Er habe Angst vor den Polizisten in "martialischer Ausrüstung" gehabt. Die hätten ihn barsch zurückgewiesen. Selbst ein Gang auf die Toilette sei über Stunden nicht möglich gewesen. Es habe Durchsagen gegeben, man könne den Platz an einer Stelle verlassen, räumt er ein. Das habe er sich schon wegen seines Aussehens mit roten Haaren nicht getraut. Auch der Kläger Thomas Trüten war auf dem Platz, konnte diesen aber verlassen, weil er sich mit einem Presseausweis freies Geleit verschaffte. Obwohl Trüten Organisator einer der Gegendemonstrationen war, ging er dann nicht zum angemeldeten Versammlungsort.
Durchsagen
Aus Vondungs Fragen lässt sich heraushören, dass es für die juristische Abwägung wichtig ist, ob die Polizei den Gegendemonstranten eine Chance auf Verlassen des Platzes einräumte. Oberregierungsrätin Lang vom Regierungspräsidium verweist auf die protokollierten Durchsagen.
Die Einkesselung verteidigt sie: Die Polizei hätte Hinweise gehabt, dass gewaltbereite Vermummte entlang der Strecke des NPD-Aufzuges Blockaden errichten wollten. Deshalb sei das Angebot zum Verlassen des Platzes an die Bedingung geknüpft gewesen, sich durchsuchen zu lassen. Als Lang darauf beharrt, dass die Polizei die Versammlungsfreiheit der Rechten schützen müsse, gibt es Proteste der rund 30 Zuhörer.
Am Nachmittag vertagt Vondung den Prozess. Ein neuer Termin ist noch nicht festgesetzt.
Rechtfertigung
Von der Heilbronner Polizei gibt es zu dem aktuellen Gerichtsverfahren wegen des Polizeikessels am 1. Mai 2011 vor dem Bahnhof keine Stellungnahme. Nach dem Einsatz hatte Polizeichef Roland Eisele das Konzept, die Gegendemonstranten hinter Absperrgittern festzuhalten, verteidigt. Er sprach damals von einem vorübergehenden „Freiluftgewahrsam“. mut
Ein Leserbrief an die Redaktion der Heilbronner "Stimme"
In der Heilbronner Tageszeitung "Stimme" ist unter der Überschrift „Juristisches Tauziehen um Polizeikessel“ in der Berichterstattung über den Heilbronner Polizekessel vom 1. Mai 2011 zu lesen: „Auch der Kläger Thomas Trüten war auf dem Platz, konnte diesen aber verlassen, weil er sich mit einem Presseausweis freies Geleit verschaffte. Obwohl Trüten Organisator einer der Gegendemonstrationen war, ging er dann nicht zum angemeldeten Versammlungsort.“
Leider wird in dem Artikel nicht erwähnt, warum die von unserem Mitkläger angemeldete Verammlung nicht stattfinden konnte, weshalb er die Redaktion um Veröffentlichung seines Leserbriefes bat:
"Viele BürgerInnen, darunter auch viele GewerkschafterInnen, die an der von mir angemeldeten Versammlung am 1. Mai teilnehmen wollten, waren leider im "Polizeikessel" vor dem Heilbronner Hauptbahnhof seit 9.30 Uhr über viele Stunden im Polizeigewahrsam eingesperrt.
Unter den Eingekesselten waren auch einige der OrdnerInnen, so dass ich mich strafbar gemacht hätte, wenn ich entgegen der Versammlungsauflagen die Versammlung ohne diese OrdnerInnen durchgeführt hätte.
Im "Polizeikessel" befanden sich darüberhinaus auch vorgesehene RednerInnen und KünstlerInnen, die das muskalische Rahmenprogramm bestreiten sollten. Außerdem befanden sich auch etliche der benötigten Transparente und fast das gesamte Informartionsmaterial im "Kesselgewahrsam". Viele der eingekesselten GewerkschafterInnen waren so auch daran gehindert, sich zuvor an der traditionellen Versammlung der Gewerkschaften zum 1. Mai zu beteiligen. Beim DGB sollte im Übrigen auch mit Infomationsmaterial für die Versammlungen am nachmittag geworben werden.
Im Gegensatz zu allen anderen 450 bis 500 am 1. Mai vor dem Bahnhof von der Polizei eingeschlossenen Menschen, konnte ich mich nur aus dem Kessel heraus begeben, weil ich im Rahmen meiner journalistischen Tätigkeit vormittags über die Versammlungen am 1. Mai berichten wollte und im Besitz eines Presseausweises bin.
Ohne die Teilnahme der "Eingekesselten" hätten wesentliche Teile der Demonstration und Kundgebung schlichtweg nicht stattfinden können. Aus diesem Grund hatte ich ab Mittags versucht, vor dem Hauptbahnhof in Kontakt mit der Polizeiführung vor Ort zu kommen, um die geplante Demonstration in dem vorgesehen Umfang durchführen zu können und zu erreichen, das die Eingekesselten an der von mir angemeldeten Versammlung teilnehmen können. Meine Verhandlungen mit den nach langem Suchen von mir aufgefundenen Verantwortlichen der Polizeiführung führten leider zu keinem Erfolg.
So konnte meine vorgesehene Demonstration, deren Verbot erst am Tag vorher in zweiter Instanz vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim aufgehoben wurde, nicht durchgeführt werden. Das ist für mich ein weiterer Grund, diesen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit am 1. Mai auch juristisch anzufechten.
Als langjähriger Gewerkschafter finde ich es unerträglich, wenn gerade am 1.Mai, wenn weltweit GewerkschafterInnen für Ihre Rechte eintreten, die Teilnahme an Gewerkschaftveranstaltungen verhindert wird.
Entgegen den öffentlichen Verlautbarungen der Polizeiführung wurde somit nicht das Demonstrationsrecht aller Versammlungen geschützt. Geschützt wurde das Versammlungsrecht der Rechten, während das Versammlungsrecht von GewerkschafterInnen und AntifaschistInnen im Kessel eingesperrt war.
Dies ist umso erschütternder, wenn wir uns daran erinnern, dass einen Tag nach dem 1. Mai 1933, die Gewerkschaftshäuser besetzt, die Gewerkschaften verboten und GewerkschafterInnen inhaftiert wurden.
Auch in Heilbronn.
Mit freundlichem Gruß,
Thomas Trüten"
Quelle: AK Kesselklage