Zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen zogen am heutigen Samstag erneut gut 300 Menschen und Vertreter_innen verschiedener Initativen durch die Mainzer Innenstadt, um für den Erhalt von Freiräumen und explizit für das Fortbestehen des neuen sozialen Zentrums in der Oberen Austraße 7 zu demonstrieren.
Bei der Auftakt- und Zwischenkundgebung vor dem Gebäude der Stadtwerke betonten Verterter_innen verschiedener städtischer Initativen, etwa des Haus Mainusch oder des autonomen Zentrums Zelle (in Reutlingen, Anm. AMK), die Wichtigkeit von unkommerziellen und selbstverwalteten Freiräumen, gerade in Zeiten von steigenden Mieten und Verdrängungsprozessen. Sie forderten den Erhalt des neuen sozialen Zentrums in der Oberen Austraße
Das Anliegen auf die Straße tragen:
„Obere Austraße 7 bleibt!“
Gut gestimmt, entschlossen und
lautstark zog der Demonstrationszug in Begleitung von Samba-Rhythmen,
Musik und Sprechchören durch die Mainzer Innenstadt. Über
Schillerplatz, Theater und Höfchen zogen die Demonstrierenden zum
Gebäude der Stadtwerke. Nach einer Zwischenkundgebung ging es von
dort aus weiter ins soziale Zentrum in der Oberen Austraße 7, wo die
Demonstration mit einer großen offenen Küche endete.
Aufgrund
der akuten Räumungsbedrohung war es den Menschen in der Oberen
Austraße 7 wichtig, ihre Anliegen und Forderungen ein weiteres Mal
auf die Straße zu tragen. „Wir demonstrieren hier, um unseren
Standpunkten Nachdruck zu verleihen,“ sagte Alex Wildebrand: „Wir
bauen hier gerade ein Zentrum auf, welches alle interessierten
Initiativen für politische und kulturelle Projekte nutzen und
mitgestalten können. Einen Raum, in dem über gesellschaftliche
Entwicklungen und Zustände diskutiert werden kann – fern ab von
Kaufzwang und Selektion – frei von gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit.“
Stadtprozesse in Mainz: Hohe Mieten,
Zollhafen, Verdrängung kleiner Initiativen
Mitorganisatorinnen
der beiden Mainzer Nachttanzdemonstrationen betonten in ihrem
Redebeitrag vor den Stadtwerken, dass sich städtische
Lebensverhältnisse meist nur für die Menschen verbessern, die es
sich leisten können. „In der Neustadt gehen die Mieten hoch,
während der Zollhafen luxussaniert wird. Diese Prozesse hängen
zusammen“, betonte eine der Redernerinnen. Politische und
kulturelle Initativen seien dabei von der Stadt nicht erwünscht,
dies zeige sich zum Beispiel an mangelnder Unterstützung für das
Neutorschulenbündnis oder das bedrohte Haus Mainusch.
Auseinandersetzung mit Argumenten
Ein Redner des
Zentrums in der Oberen Austraße 7 setzte sich in seinem Beitrag mit
den Argumenten auseinander, die in den letzten Wochen immer wieder
gegen das Projekt zu hören waren: Dem Vorwurf, zu Lasten anderer
Initiativen auf die Agenda zu drängen, wurde entgegnet, dass sich
seit der Eröffnung des Zentrums viele Mainzer Initativen in dem
Zentrum beteiligen, und dieses allen offenstehe. Der Vorwurf diene
vielmehr dazu „die Interessensgruppe der Kulturschaffenden und der
politisch Aktiven zu spalten!“.
Dem Vorwurf der Illegalität
setzten viele Redner_innen die Legitimität entgegen, ein seit drei
Jahre verfallendes Gebäude instandzusetzen und in einen Ort des
politischen und kulturellen Austausches umzuwandeln. „Welches
Eigentum wurde sich denn hier genommen?“, fragte eine Rednerin,
„die Antwort: ein vergilbtes Stück Papier.“ Darüber hinaus
betonte sie: „Die Legalisierung des Projektes wäre kein Problem,
dafür bräuchte es nur den politischen Willen“.
Dem Argument
der Sicherheitsbedenken begegnete Selma Gabut in ihrem Redebeitrag:
„Nachdem die Einsturzgefahr widerlegt ist, fließend Wasser und
Toiletten installiert sind sowie Brandschutzmaßnahmen getroffen
wurden zeigt sich, dass sich nicht um unsere Sicherheit gesorgt wird,
sondern das Projekt nicht gewünscht ist. Das nur traut sich keiner
zu sagen!“.
„Wir bleiben!“
Eine Botschaft fand
sich in den meisten Reden wieder: Eine Räumung löst nicht das
Problem – im Gegenteil, es würde die Lage zuspitzen und eskalieren
lassen. „Wir lassen uns nicht hinhalten. Wir bleiben. Und wenn wir
geräumt werden, dann gehen wir eben woanders hin!“, beendete Jule
Klappfeld ihre Rede. „Ideen lassen sich nicht bekämpfen.“
Fotos,
Redebeiträge und mehr Infos zur Demo findet ihr auf:
https://sqtmz.phoenix.uberspace.de/
Redebeitrag zum 20. Jahrestag der Pogrome in Lichtenhagen
Auch wir von der neu gegründeten Gruppe r.e.d. Mainz solidarisieren uns mit dem soziokulturellen Zentrum in der Oberen Austraße in Mainz.
Das Projekt stellt eine seltene Oase dar inmitten der kommerzialisierten Kulturindustrie, einen Freiraum für kulturelle und politische, jedenfalls emanzipatorische Graswurzelinitiativen. Es ist der Versuch, sich der kapitalistischen Verwertungslogik zu entziehen und inmitten der depolitisierten Öffentlichkeit der deutliche Ausdruck einer wachsenden Bewegung, die sich aus den Händen der regierenden Klasse emanzipiert, die hier in Mainz nicht zu Unrecht „Handkäsmafia“ genannt wird.
Was uns in diesen Tagen am Selbstverständnis des besetzten Hauses in der Oberen Austraße besonders wichtig erscheint, ist die Passage „Rassismus und andere Herrschaftsmechanismen sind nicht auf Nazis abzuwälzen, sondern entspringen der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Wir wollen in einer Gesellschaft ohne Rassismus, Faschismus, Sexismus und andere Herrschaftsverhältnisse leben. [Wir streben an] eine Gesellschaft ohne Staat und Nation, in der es keine Grenzziehungen gibt, in der die Menschen solidarisch miteinander leben.“
Soeben haben wir erfahren, dass sich heute morgen ein Großbrand in einem Stuttgarter Asylbewerberheim ereignet hat. Zum Glück konnten sich rund 40 der Bewohner_innen selbstständig aus dem Gebäude befreien, teilweise seilten sie sich aus den höheren Stockwerken ab. Mindestens neun Menschen wurden dabei teilweise schwer verletzt, ein Bewohner schwebt noch in Lebensgefahr.
Schwer, da an einen Zufall oder ein technisches Versagen zu glauben, wo sich gerade heute die rassistischen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen zum zwanzigsten Mal jähren.
Die Bilder des brennenden „Sonnenblumenhauses“ im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen gingen damals, im August 1992 um die ganze Welt. Fortwährende Angriffe eines rassistischen Mobs auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende und eine benachbarte Vertragsarbeiter_innen-Unterkunft eskalierten zum größten Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Wie schon ein Jahr zuvor in Hoyerswerda, griffen von der Polizei völlig unbehelligt mehrere hundert Menschen über vier Tage lang die Unterkunft von Flüchtlingen und vietnamesischen Vertragsarbeiter_innen mit Steinen und Molotow-Cocktails an. Unter den Angreifer_innen befanden sich organisierte und nicht organisierte Nazis, Jugendliche, Anwohner_innen, begleitet von Tausenden, teils applaudierenden, teils unbeteiligt glotzenden Schaulustigen.
Auf den Wiesen des Rostocker Neubauviertels versammelte sich der rassistische Mob zu einem Volksfest, dem sich unter der Beobachtung der Weltöffentlichkeit von Tag zu Tag mehr Anwohner_innen, aber auch Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet anschlossen.
Und die Politik – vom SPD-Oberbürgermeister Kilimann bis zum CDU-Bundesinnenminister Kanther – gab sich angesichts dessen, was sich da zusammenbraute, überrascht und entsetzt. Zugleich legte niemand auch nur die geringsten Ambitionen an den Tag, gegen den Mob vorzugehen oder die Angegriffenen zu schützen. Während die Neonazis und Sympathisant_Innen weiter wüteten, legten sie sich seelenruhig Erklärungen und Rechtfertigungen zurecht, als würden sie einem Naturschauspiel beiwohnen.
Auch einen wahrnehmbaren Protest seitens anderer Bevölkerungsteile gab es zu dem Zeitpunkt so gut wie nicht. Nur eine überschaubare Zahl Rostocker und angereister Antifaschist_innen versuchte protestierend gegen den mörderischen Mob anzugehen. Sie wurden schon nach der ersten Protestdemo mehrheitlich über Nacht in Gewahrsam genommen.
So konnten die rassistischen Angreifer_innen noch am dritten Tag ihres Pogroms ungestört weiterwüten und den von vietnamesische Vertragarbeiter_innen bewohnten Teil des Gebäudes in Brand setzen, in dem sich zu diesem Zeitpunkt immer noch etwa 100 Menschen befanden. Während die Täter_innen weiter – unter dem johlenden Beifall mittlerweile Tausender Anwohner_innen – mit Baseballschlägern in das Haus eindrangen, flohen die im Haus befindlichen Menschen über die Dächer in angrenzende Gebäude. Die Polizei hatte den Tatort dem Mob überlassen und selbst die Feuerwehr wurde effektiv an der Durchfahrt gehindert.
Die eindeutige Parteinahme, in Form der verständnisvollen Worte und vollkommener Untätigkeit gegenüber dem Treiben des rassistischen Mobs, und die Repressionen gegenüber Antifaschist_innen, machte die staatlichen Institutionen auf zuvor unvorstellbare Weise zum Kollaborateur. Schließlich kam des Volksmobs Zorn der Politik damals ausgesprochen gelegen: Das rassistisch-deutschtümelnde Klima der Nachwendezeit zum Naturphänomen stilisierend, folgte eine beispiellose, von Politik und Medien getragene Kampagne, die von den Republikanern mit dem Wahlspruch „Das Boot ist voll“ nur besonders plakativ auf einen Nenner gebracht wurde. Letztlich wurden die Pogrome von Lichtenhagen dahingehend genutzt, die faktische Abschaffung des Asylrechtes 1993 einleiten zu können.
Erst als die sich weiter ausbreitenden rassistischen Pogrome auch tatsächlich Todesopfer forderten, konkret nach dem Brandanschlag von Mölln, reagierte die bundesdeutsche Öffentlichkeit mit der Welle von Lichterketten, die bis heute als Ausweis eines „guten Patriotismus“ gelten. Zwar richteten sich die gut gemeinten Lichterketten bürgerlicher Kreise gegen die rassistische Gewalt von Neonazis, umso mehr wurde aber die Beteiligung, Unterstützung und das Verständnis breiter Kreise der bürgerlichen Mitte für „ausländerfeindliche“ rassistische Positionen unter den Teppich gekehrt. Bürgerliche Rassist_innen konnten sich ihre Hände reinwaschen, indem sie sich über die Wahl der Mittel empörten, den rassistischen Mob in seiner inhaltlichen Botschaft aber letztlich weiter bestärkten.
Damit wurden die Pogrome von Lichtenhagen zur Geburtsstunde eines verlogenen bürgerlichen „Antifaschismus“, der die Diskurse der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit bis heute beherrscht. Rassistische und faschistische Ideologie wurde zum vorwiegend ostdeutschen Problem der „verirrten Seelen“ jugendlicher „Vereinigungsverlierer“ verharmlost. Die tiefe Verwurzelung rassistischer Positionen in der bürgerlichen Mitte wird bis heute verschleiert.
Diese zeitgeschichtliche Phase wurde auch zur einer der Geburtsstunden der Extremismusdoktrin, welche die Treue zur staatlichen Ordnung zum entscheidenden Kriterium zwischen Gut und Böse macht, gleich ob diese staatliche Ordnung mit rassistischen Mördern kollaboriert (wie in Rostock, oder jüngst mit der NSU), oder Waffensysteme in mörderische Diktaturen wie den Iran oder Saudi-Arabien liefert (wie seit jeher), gleich ob sie Länder der europäischen Peripherie ausbeutet und unterwirft (wie verschärft in den letzten Krisenjahren) oder bürgerlich-demokratische Prinzipien bis zur Farce aushöhlt.
So endet auch die gerade veröffentlichte, halbherzige Entschuldigung der Rostocker Bürgerschaft mit dem Satz: „In Rostock gibt es keinen Platz für Extremisten!“ Und so erdreistet sich Bundespräsident Gauck, der auch 1992 als Pfarrer in Rostock tätig war und schon damals nichts gegen die Pogrome unternahm, sich morgen ganz symbolträchtig vor dem Sonnenblumenhaus zu produzieren. Im Sinne der Befriedung fiel ihm nichts Symbolträchtigeres ein, als eine „deutsche Eiche“ pflanzen. Die Assoziation mit den sogenannten „Hitler-Eichen“, die Hitler 1933 im ganzen Reich pflanzen ließ, drängt sich auf, doch das scheint den Präsidenten nicht zu stören. Seine Politik ist es, den Nationalsozialismus mittels eines staatlich „gebändigten“ und „geläuterten“, und damit vermeintlich harmlosen Patriotismus austreiben zu wollen.
Den Tausenden von Antifaschist_innen aus ganz Deutschland, die heute in Rostock sind und auf der Großdemo „20 Jahre nach den Pogromen: Das Problem heißt Rassismus“ dagegen glaubwürdig und entschlossen protestieren, wünschen wir auch von hier aus Mainz viel Erfolg! Und helfen in Gedanken schon einmal mit, diese unsägliche „deutsche Eiche“ schnellstmöglich wieder zu fällen.
An diesem Tag denken wir aber vor allem an die unzähligen Betroffenen und Opfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung 1990, von Hoyerswerda und Lichtenhagen über Mölln und Solingen bis zu der NSU-Mordserie der letzten Jahre, in die staatliche Akteure wiederum tief verstrickt waren.
Wir denken an die Bewohner_innen des Stuttgarter Asylbewerberheims, und wir denken an all diejenigen, die ihr Dasein unter ohnhin unzumutbaren Umständen fristen und zudem in doppelter Angst und Schrecken vor staatlicher Gewalt und der Gewalt des rassistischen Mobs.
Wir denken an diejenigen, die, von der Öffentlichkeit längst vergessen, durch rechte Gewalt, ihr Leben, zumindest aber ihr Lebensglück verloren. Und wir denken an die Tausenden von Menschen, die ihr Leben an Europas Außengrenzen verlieren.
Wir denken an sie alle und erneuern den kategorischen Imperativ nach Auschwitz, wie ihn Adorno formulierte: Richten wir unser Denken und Handeln so ein, „dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“ Nicht im Kleinen und nicht im Großen.
Mit allen Mitteln? Nein, aber mit allen notwendigen Mitteln!
r.e.d. mainz
(Rede gehalten am 25. August 2012 auf der Freiraum-Demo in Mainz)