Bochum: 25.000 protestieren gegen Erdogan

Demo auf der Castroperstrasse

Letzten Samstag fanden ab 14 Uhr Proteste gegen die Verleihung des Steiger Awards an Recep Tayyip Erdoğan statt. Der ehemalige Bürgermeister von Istanbul und heutige Ministerpräsident der Türkei sollte mit dem Preis für „Menschlichkeit und Toleranz“ ausgezeichnet werden. So sollte die seit 50 Jahren bestehende deutsch-türkische Freundschaft geehrt werden.

 

Unter Erdoğans Regierung sind Tausende politische Gefangene im Gefängnis – nach offiziellen Angaben waren es 2009 47693 Männer und 5593 Frauen, Tendenz jährlich steigend1. Zudem erkennt seine Regierung den Massenmord an Armeniern im Ersten Weltkrieg immer noch nicht an und leugnet diesen stets. Menschen, die sich auf den Massenmord berufen, stehen unter Strafverfolgung. Im Gegenzug propagiert Erdoğan die Auffassung, die Armenier hätten grausame Vernichtungen an türkischen Einwohnern verübt.2 Doch nicht nur Armenier leiden unter dem türkischen Regime – auch Kurden werden unterdrückt, schikaniert, ins Gefängnis gesperrt, ihre Parteien verboten und viele von ihnen umgebracht. Neben Kurden sind es zudem Menschen alevitischen Glaubens in der Türkei, die bis heute keine Entschädigung für das Massaker in der Stadt Sivas erhalten haben. Am 2. Juli 1993 sind über 30 Aleviten ums Leben gekommen, weil ein Mob konservativer, moslemischer Gläubiger ein alevitisches Festival angegriffen haben. Die türkische Regierung scheint nicht sonderlich an der Strafverfolgung der Täter interessiert zu sein und spricht von einem „traurigen Ereignis“ anstatt von einem Massaker. Aleviten leiden heutzutage immer noch oft unter Vorurteilen gegen diese.3

 

Für viele Tausende Menschen war es dieses Wochenende schwer verständlich, wieso ein Repräsentant dieser Regierung einen Preis für Toleranz bekommen soll. So versammelten sich über den Tag über 25 000 Menschen – u.a. Aleviten, Kurden und Armenier – um gegen Erdoğan und die Preisverleihung zu demonstrieren. Beginnend um 14 Uhr mit einer Kundgebung der Alevitischen Gemeinde fanden sich über 20 000 Menschen aus verschiedensten Teilen Deutschlands im Ruhrstadion des VfL Bochum zusammen. Nach mehreren Redebeiträgen lief die Menschenmasse gegen 15.30 Richtung Bergbaumuseum. Es war für uns zur Abwechslung sehr beeindruckend zu sehen, dass mehr als 20.000 Menschen ohne Polizeibegleitung ihre Demonstration durchführen – die üblichen linken Demos bestehen ja halb aus Polizeispalieren. Nur an Kreuzungen taten die Beamten das, wozu sie sich wahrlich eignen, den Verkehr regeln.

 

Um 17 Uhr startete die kurdische Demo vom Bochumer Hauptbahnhof mit ca. 2000 Teilnehmer_Innen. Diese lief durch die Innenstadt und Bochum West. Die Polizei begleitete diese Demonstration im Gegensatz zu der anderen mit Hundertschaft, Zivilcops und dem Wanne Eickeler Staatsschutz. Auf der Abschlusskundgebung auf dem Rathausplatz kam es dann zu einer Rangelei, da es eine Person nicht lassen konnte in Mitten der Versammlung die anwesenden Personen zu provozieren.

 

Neben einer Kundgebung von türkischen Sozialdemokraten4 haben auch (zum Teil konservative) israelsolidarische Menschen gegen Erdogan protestiert. Die Proteste sind, bis auf die genannte Ausnahme, allesamt störungsfrei verlaufen. Es war toll, dass so viele Menschen über einen kurzen Zeitraum von den jeweiligen Gemeinden mobilisiert werden konnten. Die Demos waren entschlossen, kraftvoll, bunt und von allen Generationen vertreten. Pro NRW, die sich Anfang März auch angekündigt haben, wurden in der Stadt und bei den Protesten nicht gesichtet.

 

Wir verteilten auf den Demos mehrere Tausend Flugblätter mit unserer Solierklärung. Die letzten Exemplare gingen an die Haushalte, die an der Demoroute der Kurdischen Demo lagen.

 

Erdoğan selbst hat seine Teilnahme einen Tag vor der Verleihung abgesagt, offiziell aufgrund eines abgestürzten türkischen Militärflugzeuges. Der Preis der fragwürdigen Steiger Award Organisatoren wurde zurückgezogen. Schon 2007 wurde Hamid Karzai, der seit 11 Jahren Präsident von Afghanistan ist, mit dem Preis für Toleranz ausgezeichnet.

 

Antifaschistische Jugend Bochum

 

1http://political-prisoners.net/item/1353-tuerkei-doppelt-so-viele-politische-gefangene.html

2http://www.fr-online.de/meinung/auslese--rassismus-in-der-tuerkei-anti-armenische-faust-der-tuerkei,1472602,11884188.html

3http://www.alevi-bochum.de/index.php?option=com_content&view=article&id=66&Itemid=94&limitstart=2

4http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-03/demonstration-bochum-erdogan

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http://www.bo-alternativ.de/2012/03/21/aeusserst-zweifelhafter-waz-artikel/

 

Die Bochumer WAZ veröffentlichte gestern einen Bericht, in dem ein 48-jährige Student der Geschichtswissenschaft der Ruhr-Uni behauptet, bei den Demonstrationen am Samstag Opfer eines antisemitischen Übergriffs geworden zu sein. Eine Gruppe von Antifas hat eine Stellungnahme verfasst, in der dieser Darstellung heftig widersprochen wird. Der Betreffende sei als Nazi und nicht als Jude beschimpft worden.

 

Die Stellungnahme: »Am vergangenen Samstag fanden in Bochum zahlreiche Demonstrationen statt. Grund dafür war mit dem „Steiger-Award“ eine bislang eher unbedeutende Preisverleihung, die mit der Einladung des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan und des Israel hassenden Autors Henning Mankell verschiedenste Proteste auf die Straße brachte. Erdogan und Mankell waren nicht da, die Kundgebungen fanden trotzdem statt, und insgesamt war der Samstag ein interessanter, aber unspektakulärer Demotag. Das sieht die Bochumer Polizei übrigens genauso und hat in ihrer Mitteilung zum Demotag sogar Zeit, über ein Kind mit Faible für die schwedische Königin zu berichten.

 

Am Montag meldete sich dann allerdings der an der Ruhr-Universität Bochum wohlbekannte 48-jährige Student Jürgen Hans Grimm bei der Bochumer WAZ. Diese berichtete sogleich über einen Überfall auf Grimm, bei dem dieser als Jude beschimpft worden sein soll. Dies alles soll sich während der Abschlusskundgebung der kurdischen Demonstration am Rathaus abgespielt haben. Ein schwerer Vorwurf, der dazu geeignet ist, die Proteste gegen Erdogan zu diskreditieren sowie die Themen „Ausländergewalt“ und Antisemitismus zu verknüpfen und damit herrschende Stereotype über Migrant_Innen zu aktualisieren. Diesem Vorwurf muss allerdings widersprochen werden: Grimm ist am Rande der kurdischen Demonstration attackiert worden, ist dabei aber nicht als Jude, sondern als Nazi beschimpft worden.

Die Selbststilisierung als Opfer eines vermeintlichen antisemitischen Überfalls passt in das Bild, dass Grimm schon seit Jahren an der Uni von sich zeichnet. Er ist bekennender Fan des rassistischen Internetportals „Politically Incorrect“ (PI). PI und Freund_Innen haben das Ziel, eine neue Rechte aufzubauen. Dabei geben sie sich betont proamerikanisch und proisraelisch. Ihren Hauptfeind sehen sie im Islam und verfallen dabei in dumpfe Hetze gegen Muslim_Innen.

Auch Jürgen Hans Grimm ist unter anderem an der Ruhr-Universität Bochum schon des öfteren diesbezüglich aufgefallen. Im vom AStA betriebenen Kulturcafé hat er mittlerweile Hausverbot, und von einer Veranstaltung musste er mit Hilfe des Uni-Sicherheitsdienstes und der Polizei entfernt werden. Auch beim letztjährigen Schulstreik fiel er unangenehm auf, als er Aktivist_Innen aufforderte, doch gegen den Islam zu demonstrieren, da dieser das Hauptproblem sei. Ein weiterer Vorfall ereignete sich vor einigen Wochen im Autonomen Zentrum Mülheim, als er seine eigenen Vorstellungen der deutschen Einwanderungspolitik vorstellte und dabei bemerkte, man solle doch alle LibanesInnen abschieben, da diese kriminell seien.

 

Dass Grimm sich nun als Opfer eines antisemitischen Übergriffs sieht und die Wörter Jude und Nazi vertauscht ist ein Skandal. Durch seine Erfindung schürt er einerseits rassistische Vorurteile über vermeintlich gewalttätige Kurd_Innen und rückt diese dabei in das Licht des Antisemitismus. Gleichzeitig ist der wirklichen Bekämpfung des Antisemitismus ein Bärendienst geleistet, wenn ein Rassist sich als Opfer eines vermeintlichen antisemitischen Übergriffs präsentiert. Dieser Vorfall zeigt deutlich, wie sensibel mensch mit Übergriffsvorwürfen und deren Skandalisierung umgehen sollte. Bei Jürgen Hans Grimm handelt es sich definitiv nicht um das Opfer eines antisemitischen Übergriffs, sondern um einen deutschen Rechten, dem es wohl zu peinlich ist, als Nazi beschimpft worden zu sein, und der nun versucht, den Vorfall für seine eigenen migrant_Innenfeindlichen Zwecke zu instrumentalisieren.

Wir betrachten die Lügen und Anschuldigungen von Grimm sowohl als Angriff auf die kurdische Demonstration als auch auf die israelsolidarische Kundgebung. Es handelt sich hierbei um einen billigen Versuch, verschiedene Gruppen für die Zwecke der „Neuen Rechten“ in Deutschland zu missbrauchen. Auch wenn wir nicht mit allen Inhalten der betroffenen Kundgebungen hundertprozentig übereinstimmen, halten wir deren Anliegen – einerseits auf Erdogans Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung und andererseits auf die antisemitischen Ausfälle von Erdogan und Mankell aufmerksam zu machen – für dringend notwendig. Beide Anliegen können nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sind gleichermaßen Teil eines Kampfes für eine bessere Gesellschaft. Für rassistische SpinnerInnen ist dabei kein Platz!«