Im norditalienischen Susa Tal demonstrierten am Samstag über 70000 Menschen gegen die dort geplante Hochgeschwindigkeitsbahn, die mit dem Projekt einher gehenden Betrügereinen und für die Freilassung von allen Bahngegnern, die am 26. Januar an mehreren Orten in ganz Italien einer Festnahme ausgesetzt wurden. Mehrere Tausend waren von weit her angereist, um sich an den wichtigen Protesttag zu beteiligen, der, den Ankündigungen der Bewegung entsprechend, ohne jeden Zwischenfall verlief. Als einige Hundert Rückkehrer aus dem Susatal am Turiner Hauptbahnhof in den Zug nach Mailand steigen wollten, kam es jedoch zu einer brutalen Provokation der Polizei.
Die wegen ihrer Spaltungsresistenz bereits gut bekannte Bewegung hatte einmal mehr - womöglich gar so stark wie noch nie - in wärmster Einheit tiefe Entschlossenheit und große, inzwischen deutlich über die Gegnerschaft zum Bahnprojekt hinaus gehende politische Klarheit demonstriert. Abertausende waren gekommen, um sich demonstrativ an die Seite der aktuell massiv unter Beschuss stehenden Bewegung aus dem Susa Tal und ihrer verhafteten Angehörigen zu stellen. Aus dem Tal, viele Alte, Familien, Kinder, Bewohner der Dörfer sowie die Bürgermeister mehrerer Gemeinden. Mit ihnen Tausende Unterstützer und Solidarische aus ganz Italien und auch aus dem Ausland. Die Demonstration war so warm und breit, wie die Welle der Solidarität, die seit den Verhaftungen am 26. Januar von überall her der Bewegung und den Gefangenen zuteil wurde. Bewusst hatte man davon abgesehen, einen Marsch der Wut und der Trauer zu veranstalten: ganz im Sinne der Verhafteten wurden vielmehr die Ziele der Bewegung und die Gründe für ihren vergangenen wie künftigen Widerstand gegen das berüchtigte Bauprojekt auf die Straße getragen. Die allgemeine Haltung zum Widerstand der bekanntlich höchst vielfältig zusammengesetzten Bewegung wurde u.a. bei einer Aktion deutlich, die beim Übergang von einer Gemeinde zur nächsten stattfand. Die Demonstrationsroute verlief über die acht Kilometer, die im Herzen des Tals zwischen dem Dörfchen Bussoleno und dem Städtchen Susa liegen. An der Grenze der beiden Gemeinden gaben sich acht Demonstrierende als Betroffene von Aufenthaltsverboten, die am 8. Dezember vergangnen Jahres bei einem No Tav Protest gegen sie erteilt worden waren zu erkennen. Zum Zeichen der Solidarität mit den Gefangenen No Tav zerrissen sie beim Betreten des ihnen amtlich gesperrten Territoriums der Gemeinde Susa diese Aufenthaltsverbote.
Die ständige Erhöhung der Spannung in den vergangenen Wochen hat es nicht ansatzweise vermocht, die Bewegung zu bremsen. Die Fadenscheinigkeit der juristischen Konstrukte gegen die Verhafteten, die Dämonisierung selbiger in den Medien und Strafversetzung verschiedener Gefangener in andere Anstalten und allerlei Schikanen im Gefängnisalltag ließen lediglich die Welle der Solidarität und die Nähe zueinander weiter ansteigen. In der Woche vor der Demonstration gaben sich hohe Vertreter der Justiz, Politik und Polizeibehörden bei der Erzeugung weiterer Spannung förmlich die Klinke in die Hand. Unter Bezug auf Gruppierungen des bewaffneten Kampfes im Italien der 70er Jahre (Rote Brigaden, Prima Linea) skizzierte der italienische Polizeichef die Bahngegner aus dem Susa Tal als eine von subversiven Elementen gesteuerte Bewegung. Am gleichen Tag war den Medien zu entnehmen, welch güldnen Sold in diesen Krisenzeiten der Polizeivorsteher erhält. So genannten "Anarchoinsurrektionalisten" unterstellte er gar die Bereitschaft zu töten, was sogleich auf den Titelseiten mehrerer italienischer Blätter Eingang fand. In die gleiche Kerbe schlug der Turiner Bürgermeister Fassino, der ebenfalls die 70er Jahre evozierte. Zwei Lesungen des auch schriftstellerisch tätigen, seit 1974 unter Polizeischutz lebenden Oberstaatsanwalt Caselli, der persönlich die Haftbefehle gegen die am 26. Januar festgenommenen No Tav firmiert hatte, wurden auf ebenso lärmende wie larmoyante Weise abgesagt - aufgebrachte Bahngegner würden eine Gefahr für das Publikum darstellen. Medien transportierten gar Rufe nach der Wiedereinführung der Sondergesetze der 70er Jahre. Am Rande der umstrittenen Tunnelbaustelle, die Ursache der heftigen Kämpfe vom vergangenen Sommer im Tal war wurde derweil beobachtet, wie große Mengen Materials deponiert wurden, das offensichtlich der Aufstellung neuer Zäune dienen soll. Die Bestätigung jener Zweckbestimmung lieferte am Donnerstagabend der Polizeichef persönlich: die Enteignung angrenzender Grundstücke stünde bevor.
Den überaus harten Angriffen zum Trotz hatten es die No Tav glänzend vermocht, aufs Gelassenste zu demonstrieren. Schon die sagenhafte Mobilisierung für die am 26. Januar fest genommenen No Tav hatte gezeigt, dass der Repressionsakt weder Abschreckung noch Spaltung zeitigen konnte. Als abschließende Antwort auf die Repression und die zahlreichen Versuche der Gegenseite, die Spannung zu erhöhen, hatten nun - in einem Tal mit 70000 Einwohnern - über 75000 Personen ein wirklich starkes und sehr ernst gemeintes kollektives Zeichen dafür gesetzt, dass nichts die Bewegung davon abhalten wird, sich weiter dem Bauprojekt zu widersetzen. Wer Teil genommen hatte, machte sich am Ende des Tages müde, aber glücklich, auf den Heimweg. So auch mehrere Hundert Leute aus Mailand, von denen etliche am Vormittag mit einem Sammelfahrschein gemeinsam ins Tal gereist waren. Das Gruppenticket á zehn Euro pro Person hatte man vor der Abfahrt aus Mailand ausgehandelt. Als die Reisenden gegen 20 Uhr aus Susa kommend im Turiner Hauptbahnhof gen Mailand umsteigen wollten, trafen sie auf Bahnpersonal und Polizisten in Kampfmontur, die den Gleis blockierten, Fahrkarten verlangten und von einem Gruppenfahrschein offenbar nichts wissen wollten. Ein Versuch, über einen neuen Gruppenfahrschein zu verhandeln, wurde jäh unterbrochen, als die Polizisten völlig unvermittelt ein erstes Mal mit ihren Schlagstöcken auf die Leute losgingen, wobei in kürzester Zeit mehrere Leute verletzt wurden. Ebenso unvermittelt öffnete sich gleich im Anschluss eine Lücke in der Polizeisperre. Zeugen zufolge wurden die Leute nun auf den zuvor gesperrten Bahnsteig getrieben. In der Zwischenzeit eingetroffene Polizei- und Carabinieri-Mannschaften stürmten daraufhin ein zweites Mal auf die Reisewilligen ein - von hinten und mit rohester Gewalt. Der Zug stand am Gleis 20, dem letzten im Turiner Bahnhof: links von den Leuten war der Zug, rechts die Mauer des Bahnhofsgebäudes - es gab also keine Möglichkeit, um dem Hinterhalt zu entkommen.
An Bord des Zuges befand sich der Metallgewerkschafter Giorgio Cremaschi, der ebenfalls Im Susa Tal gewesen und bei der Abschlusskundgebung aufgetreten war. Über das Geschehen machte er dem Online-Magazin Articolo 3 folgende Angaben: "Es hat sich um eine absolut willkürliche Aktion gehandelt. Ich kam aus Brescia, auf dem Hinweg war ich mit ihnen gereist. Es gab ein Abkommen mit den Bahnbetrieben über eine Gruppenfahrkarte. Auf dem Rückweg hieß es, dass dies nicht genügen würde. Es hat sich ein nicht nachvollziehbares Aufgebot an Ordnungskräften aufgestellt, die begonnen haben, Schlagstockhiebe zu verteilen, die ich selbst beobachtet habe. Dann haben die Beamten den Kopf verloren, die jungen Leute wurden ohne jeden Grund gejagt, als sie dabei waren, in den Zug zu steigen - ich meine sogar, dass ein Wagon unter Tränengas gesetzt wurde. Ich habe gesehen, wie sie sogar di Fensterscheiben der Waggons mit Schlagstöcken traktiert haben. Meines Erachtens ist eine Untersuchung über denjenigen, der die Handhabe der öffentlichen Ordnung inne hatte notwendig. Das Ereignis lässt sich nicht erklären, ohne Böses zu denken". Fest steht, dass die Turiner Bahnpolizei derzeit einem Beamten unterliegt, der in Zusammenhang mit der blutigen Polizeigewaltorgie in einer Schule, in der zur Zeit des G8 Gipfels 2001 in Genua sogar über die Grenzen Italiens hinaus einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte: in Zusammenhang mit einem so brutalen wie hinterhältigen Überfall auf in besagter Schule schlafende Menschen wurde er bereits in zweiter Instanz zu drei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Zur Zeit der Ereignisse im Jahr 2001 war Spartaco Mortola, so der Name des Beamten, Leiter der genuesischen Polizeiabteilung Digos. Seit dem 1. August 2011 steht er im Rang eines Quästors der Turiner Bahnpolizei bevor.
Charakter und Stil des Übergriffs auf die heimkehrenden Demonstranten im Turiner Bahnhof weisen tatsächlich genügend Ähnlichkeiten mit Aktionen wie in der Diaz Schule auf, um sie der gleichen Polizeikultur zuzuordnen. Der Hinweis des Gewerkschafters auf "Böses", das sich mangels Nachvollziehbarkeit der Aktion erahnen lässt, dürfte jedoch eher dem hier und jetzt und nicht den Parallelen zu vergangenen Ereignissen gelten, da im Tal die Enteignung von Grundstücken und die Räumung einer Hütte der Bahngegner unmittelbar bevorstehen. Diese sollen der Erweiterung der am 27. Juni 2011 illegal implementierten "Baustelle die es nicht gibt" dienen. Es handelt sich dabei um ein Bereich in der Nähe des im Rahmen des Bahnbauprojekts geplanten Tunnelausgangs. Im Vorfeld des eigentlichen Baus müssen geognostische Untersuchungen und der Bau eines Zuliefertunnels erfolgen, wovon eine satte Zahlung von EU-Geldern abhängt. Der bisher mit polizeilicher Gewalt zu diesem vermeintlichem Zweck okkupierte und mittlerweile per Dekret zur militärischen Sperrzone erklärte Bereich liegt hierfür nicht einmal an der richtigen Stelle, wohl aber in strategisch optimaler Position für die ungestörte Anfahrt und Versorgung von im Baustellenbereich untergebrachten Polizeikräften. Entsprechend lässt sich dort statt einer Baustelle eher ein befestigter logistischer Posten der Sicherheitskräfte ausmachen. Derlei bestätigte u.a. die österreichische EU-Abgeordnete Eva Lichtenberger, die am 9. Dezember mit einer Delegation von EU-Parlamentariern das Gelände beging: "Man hat vielmehr den Eindruck, sich in einer Militäranlage zu befinden, als auf einer Baustelle. Ich habe kein einziges Zeichen für den Beginn der Arbeiten gesehen. Nicht ein Bohrloch". Jenes okkupierte Territorium soll nun bereits in den allernächsten Tagen, vermutlich in der Nacht zum kommenden Dienstag ausgedehnt werden.
Im Tal sind bereits entsprechende Truppenbewegungen zu beobachten, die Ankündigung der bevorstehenden Enteignung von Grundstücken kam vergangene Woche vom Polizeipräsidenten selbst. Am heutigen Nachmittag begannen die Talbewohner und Unterstützer mit den Vorbereitungen. Sie werden sich wie seit 20 Jahren höchst entschlossen der Ausdehnung des okkupierten Territoriums widersetzen, das wurde bereits bei der Abschlusskundhebung am Samstag deutlich bekräftigt. Angesichts der Unpopularität des Bauprojektes und der Geschlossenheit der Bewegung können die Projektbetreiber, dessen Profiteure in Spe und die Staatsgewalt tatsächlich auf nichts anderes zurückgreifen, als auf die Erzeugung von Spannung und Gewalt. Ganz in diesem Sinne fanden die Ereignisse im Turiner Bahnhof - im Gegensatz zur ja friedlich verlaufenen Demonstration - rasant den Weg in die Schlagzeilen, die, eindeutig wider den Tatsachen, die Bahngegner der Gewalt beschuldigten. So sehr der Angriff auf die Demonstrationsheimkehrer als Provokation gewertet werden darf, die besonders nach der immensen Welle der Solidarisierung mit den Verhafteten vom 26. Januar darauf abzielte, Einzelne dazu zu bewegen, mit drastischen Mitteln zu reagieren, so wenig erfüllte die Aktion diesen Zweck. Der Bahnhof wurde nicht in Schutt und Asche gelegt - der erhoffte Nachweis der Gewaltätigkeit Auswärtiger, die "gute" Lokale unterwandern misslang. Die Attacke erntete die gebührende Empörung der No Tav - sonst aber entlockte sie den längst ausgiebig repressionserprobten Bahngegnern nur ein müdes Lächeln. Kein Mensch wird Zeit und Kraft darauf verschwenden, wehzuklagen und schon gar nicht, wie auch immer zurückzuschlagen. Die Verteidigung des Territoriums ist das, was auf der Agenda steht. Dem und den gefangenen No Tav wird alle Kraft gelten. Das Tal ist in Hab'Acht-Stellung, der Aufruf an Talbewohner und Unterstützer im ganzen Land, sich nach den jeweiligen Möglichkeiten einzusetzen, ist bereits ergangen. Es wird hart werden!
Hinweis: Es wurden einzelne Texte auf Italienisch verlinkt. Übersetzungen bzw. Zusammenfassungen werden noch in den Kommentaren nachgetragen.
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