[S] Ein Jahr "schwarzer Donnerstag"

Wasserwerfen im stuttgarter Schlosspark. Mehr Bilder unter http://visual-rebellion.com/

Vor genau einem Jahr stürmten über 1000 Polizist_innen den stuttgarter Schloßpark. Bei vielen der damals verletzten Demonstrant_innen hält sich leider bis heute die Mär von dem einen Einsatz der aus dem Ruder lief. Eine etwas andere Rückschau auf meine eigene Geschichte und die Ereignisse in und um Stuttgart um eine Frage zu beantworten: Was war so besonders am 30.9.2010 in Stuttgart? Und falls das die falsche Frage ist: Warum erscheint der 30.9. so besonders?

 

Wasserwerfen, Gummigeschosse, Tränengas - keine Seltenheit

 

Der erste Strahl des Wasserwerfers traf mich nicht am 30.9 in Stuttgart. Ich lernte diese Waffe zum ersten mal bei den Protesten gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm kennen. Zwei Jahre später waren es Gummigeschosse und Tränengaskartuschen die in Straßburg bei den Protesten gegen die Nato auf uns geschossen wurden. Aus der Zeitung erfuhren wir später, das die Zahl der Kartuschen fünfstellig war. Um 4:00 flogen uns die ersten Dosen vor die Füße aus denen der weiße Rauch  quillt, der uns die ganze Woche das Atmen zur Hölle machte. Knüppel und Quarzhandschuhe kenne ich wie so viele andere vor allem von antifaschistischen Demonstrationen.

 

Egal ob Antifaschist_in oder Castorblockierer_in, Tierrechtsaktivist_in oder Autonome: Wir alle erleben immer wieder staatliche Repression. Was macht also den "schwarzen Donnerstag" so besonders? Die vorläufige Antwort ist einfach: Eigentlich nichts. Es gab am 30.9 keine besondere Härte der Polizei zu beobachten., die sich z.b. von der Räumung des Wagenplatzes "Kommando Rhino" in Freiburg dieses Jahr sonderliche unterschieden hätte. Die Größenverhältnisse  waren anders, ein Unterschied in der Quantität, nicht in der Qualität. Die Staatsmacht setzte ihr Ziel durch, die Räumung des Parkes, und das mit allen Mitteln die sie dafür benötigte. Die unterschiede zu anderen Protestaktionen wurde mir vor allem klar als ich Menschen das Pfefferspray aus den Augen wusch, und so etwas Zeit hatte mit ihnen zu reden.

 

Als ich 2007 auf einer Bildungsdemonstration vor dem Landtag zum ersten mal Pfefferspray in meine Augen und meine Atemwege bekam, war ich schockiert. Ich hatte doch gar niemanden angegriffen. Ich wurde schnell von anderen Demonstrant_innen zur Seite genommen, mir wurden die Augen ausgewaschen, und ich wurde aufgeklärt. Ich solle mir keine Sorgen machen, das hätten hier viele schonmal abbekommen, so aggiert die Polizei nunmal.

 

Im Park am 30.9 nun versuchte ich mit Salzwasser und Tüchern das Tränengas aus den Augen und von den Lippen zu bekommen. Und außer mir und einer handvoll anderer Menschen kannte niemand die Wirkung von Pfefferspray oder Tränengas. Es war das kollektive Erstaunen über die Gewalt der Polizei was dem 30.9 seinen Charakter gibt, und nicht die Gewalt der Polizei an sich.

 

Darin lag wohl die Einzigartigkeit des 30.9.2011: Tausende von Menschen sind direkt betroffen oder Zeug_innen von Polizeigewalt, und fast alle kamen aus einem politischen Spektrum das solche normalerweiße nicht erlebt oder, medial gut zubereitet, diese Gewalt zumeinst als gut oder zumindest notwendig erachtet. Die kollektive Naivität und Überraschung breiter Teile des Protestes gegen Stuttgart 21 hatte so immer wieder ganz verschiedene Folgen: Einerseits wurde mit starkem Einsatz von vielen Menschen versucht der Park zu halten, und das trotz der neuen Situation für viele Demonstrant_innen, das sie von der Polizei mit Knüppeln und Wasserwerfen angegriffen wurden. Die neue und überfordernde Situation schien bei vielen Menschen eine Trotzreaktion auszulösen. Ein anderes Übel ist bei vielen Stuttgart 21 Gegner_innen allerdings immer noch sehr präsent: Die Lüge vom "schwarzen Donnerstag", vom Tag, als die sonst so heilige und gute Demokratie verraten wurde.

 

Von der bürgerlichen Ideologie...

 

Gewalt ist immanenter Bestandteil unserer Gesellschaft. Wenn du kein Geld hast und dir im Supermarkt holen willst was du brauchst, wirst du mit körperlicher Gewalt daran gehindert, vom Ladendetektiv, von der Polizei, oder, besonders bitter, von einem "engagierten" Bürger. Hast du keine Papiere, wirst du eingesperrt und abgeschoben. Hast du eine Wohnung, musst du arbeiten um sie zu behalten, hast du keine Arbeit mehr und kanns sie nicht mehr bezahlen, holen sie dich aus deiner Wohnung. In der letzten Instanz steht hinter jedem Gesetz der Polizeiknüppel. Diese permanente Gewalt sieht nun auch die Bürger_in, sieht Diebstahl, Demonstrationen und Polizeieinheiten und findet für sich zumeist die Antwort: "Der Mensch ist schlecht".

 

Wenn die Gesellschaft wie sie heute ist darüber erklärt wird wie der Mensch angeblich immer war dann ist vorsicht geboten und die bürgerliche Ideologie beginnt sich zu entfalten. Ein System in dem Gewalt alltäglich ist muss auch erklären woher diese Gewalt kommt: Aus dem Menschen selbst, seinem Kern, seiner Bosheit. Und so lesen sich dann auch viele Erklärungen über den 30.9.: Einige Polizist_innen haben überreagiert, der Staat hat reagiert (oder wird noch reagieren) und zeigt diese an. Jedes Unrecht wird gesühnt im bürgerlichen Rechtsstaat.

 

...und den ökonomischen Verhältnissen...

 

Wenn wir allerdings versuchen wirklich zu begreifen woher diese Gewalt kommt, müssen wir begreifen wie hier und heute gewirtschaftet wird. Sollange es Produktionsmittelbesitzer_innen und Menschen gibt, welche von diesen Abhängig sind, gibt es Widersprüche, die nicht zu lösen sind: Die einen wollen immer mehr Lohn, die anderen immer weniger zahlen. Die einen wollen billig Waren kaufen, die anderen sie teuer verkaufen. Zwischen diesen antagonistischen Positionen funktioniert der Staat als Klebstoff. Nur er macht es möglich, das Menschen mit so diametral entgegenstehenden Interessen trotzdem befriedet zusammen leben können. Von Frieden kann freilich keine Rede sein: Es herrscht Krieg in unseren Straßen, jeder Flaschensammler und jede Prostituierte sind Zeichen dieses Krieges.

 

...sollte bei Stuttgart 21 nicht geschwiegen werden.

 

Sollange diese Zusammenhänge in den Proteststrukturen gegen Stuttgart 21 noch so wenig diskutiert werden wie im Moment, wird sich bei vielen auch noch das Märchen halten das am 30.9 "die Demokratie zu Grabe getragen wurde" (Slogan auf einem Plakat der Montagsdemo). Ebenso verfehlt ist es von einem Volkswillen zu fabulieren, der Ausschlaggebend für den Staat sein sollte, und der bei S21 übergangen wird. "Wir sind das Volk" (Parole der S21 Gegner_innen). Innerhalb einer Klassengesellschaft gibt es verschiedene Klasseninteresse, aber keines als "Volk". Das deutsche Interesse kann, wenn überhaupt, nur das Interesse des Kapitals sein, und damit für Stuttgart 21 sein.

 

Vielleicht ist nach einem Jahr "schwarzer Donnerstag" vor allem auch an all die Repression in und um Stuttgart zu erinnern, die mit viel weniger Medienbegleitung stattfindet: Die Kurd_innen, welche wegen einer Schlägerei mit türkischen Faschisten nun in Stammheim eingesperrt sind. Der Antifaschist Chris, der für 11 lange Monate nach Stammheim gesperrt wurde wegen Aktivitäten rund um den Gründungsparteitag "Der Freiheit". Die Hausdurchsuchungen ihm Rahmen der Ermittlungen wegen dem Naziaufmarsch in Dresden. Der massive Polizeieinsatz gegen die Antifaschist_innen welche die Veranstaltung von Pax Europa störten.

 

Am Ende

 

Der 30.9 ist also ein besonderer Tag, vor allem da er ein besonderer Tag zu sein scheint Er sticht noch hervor wenn wir die Geschichte der Polizei in Stuttgart anschauen, er reiht sich ein wenn wir die letzten Jahre in Deutschland anschauen und er geht unter wenn wir nur die staatliche Repression dieses Jahr in Europa anschauen. Stichworte sollen hier Griechenland, Italien und Frankreich sein. Am Ende bleibt zu sagen das der 30.9 natürlich ein Beispiel für staatliche Gewalt ist und als solches auch nicht heruntergespielt werden soll. Wichtig ist den Maßstab zu wahren um nicht die bürgerlichen Ideologie des Einzelvorfalls zu bedienen. 

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Das Besondere an diesem Tag liegt im allgemeinen Sichtbarwerden eines im Verborgenen längst bestehenden Zustandes polizeistaatlicher Willkürherrschaft.

 

Die Bullen haben auf einmal keinen Wert mehr darauf gelegt vor ihrem brutalen Angriff die Zielgruppe politisch zu isolieren.

 

Warum haben sie diesen unverzeihlichen Fehler gemacht, der Schwarzgelb die Wiederwahl kostete?

 

Ein Anhaltspunkt könnte in der amerikanischen Terrorwarnung vom darauffolgenden Sonntag liegen, worin europäische Bahnhöfe als Ziele benannt wurden, welche von den deutschen Behörden erst betreten abgeschmettert aber dann im Wintertheater doch plagiiert worden ist.

 

Oder im dröhnenden Schweigen von Grünrot zu den Geheimdienstskandalen unter der Vorgängerregierung.

 

Offenbar ist nur wenig vor diesem Tag im Zusammenhang mit dem S21-Konflikt etwas unsichtbar weltbewegendes geschehen, das sämtliche der Polizei übergeordneten Behörden in erstklassige Panik versetzt hat.

 

Schließlich hatte diese sich auch schon den Zeitpunkt der rechtsmißbräuchlichen Baumhausräumung von jenen vorschreiben lassen müssen.

 

Womöglich hat sich jemand mit den Demonstranten in Stuttgart solidarisiert, angesichts dessen Namens Geheimpolizeien rund um den Globus in Amoklaufphantasien ausbrechen.

 

Da sind ja schließlich noch eine ganze Menge Zwischenstufen zwischen den Zielpersonen der Spitzelaffäre und irgendwelchen Islampredigern.

 

"Es gibt keinen Grund mehr, auf die neusten Nachrichten zu reagieren, vielmehr ist jede Information als Operation in einem feindlichen Feld von Strategien zu verstehen, die zu durchschauen ist, Operationen, die gerade zum Ziel haben, bei diesem oder jenem diese oder jene Reaktion hervorzurufen; und diese Operation für die wirkliche Information zu halten, welche in den sichtbaren Nachrichten verborgen ist."