Reflexionen aus einer beschädigten Utopie

Beschädigt aus dem Rahmen gehen

Betrachtungen nach einem Jahr Projektwerkstatt

Die Projektwerkstatt Stuttgart schließt Ende Oktober nach einem Jahr bestehen. Im folgenden Versuchen wir eine erste Reflexion. Eine Ausführliche Reflexion der Projektwerkstatt wird in den nächsten Monaten als Broschüre im GEGEN_KULTUR Verlag erscheinen. Zu unserer Abschlussfeier haben wir auf fünf Seiten versucht unsere politische Arbeit in der ProWe zusammen zu fassen. Wir wollen damit Genoss_innen transparent machen wo Fehler gemacht wurden, und ähnlichen Projekten vielleicht bei der eigenen Selbstreflexion unterstützen.

 

-Reflexionen aus einer beschädigten Utopie
Betrachtungen nach einem Jahr Projektwerkstatt
- Auch ungelebtes Leben
geht zu Ende
zwar vielleicht langsamer
wie eine Batterie
in einer Taschenlampe
die keiner benutzt
Aber es hilft nicht viel:
Wenn man
(sagen wir einmal)
diese Taschenlampe
nach so- und sovielen Jahren
anknipsen will
kommt kein Atemzug Licht mehr heraus
und wenn du sie aufmachst
findest du nur deine Knochen
und falls du Pech hast
auch diese
schon ganz zerfressen
Da hättest du
genau so gut
leuchten können -
Erich Fried


In dem letzten Jahr haben wir Geleuchtet. Wir haben Vorträge über die direkte Aktion veranstaltet, Workshops zu gewaltfreier Kommunikation abgehalten, eine Volxküche mit Töpfen, Tassen und Tellern für 600 Personen organisiert, über 2000 Bücher und Zeitschriften archiviert, gesammelt und zum Lesen bereitgestellt, einen Kapitallesekreis begonnen, unzählige Debatten geführt, Baustellen gestürmt, Feste gefeiert, den Kommunismus propagiert und manches mal ein kleines Stück Anarchie gelebt.


In dem letzten Jahr haben manche von uns keine Kraft mehr gehabt und sind ausgezogen. Manche wurden von der Polizei fotografiert, ihre Fingerabdrücke genommen, sie wurden auf Listen geschrieben, vor Gericht gestellt, verurteilt, wieder angeklagt und wieder verurteilt. Viele haben mehr gearbeitet als sie wollten um die Miete aufzutreiben, andere haben Bücher und andere Gemeingüter geklaut. Wir haben uns gestritten, haben uns ins Private zurückgezogen und sind oft an die Grenzen unserer eigenen Sozialisation gestoßen.


Auf die Frage ob die Projektwerkstatt gescheitert ist können wir nicht antworten. Hätte sie nur ein einzelnes Ziel gehabt könnten wir sie daran messen. Aber das hatte sie nicht. Wir haben den großen Wurf gewagt. Vieles wurde probiert, manches hat sich bewährt, anderes nicht. Im folgenden versuchen wir eine erste grobe Reflektion einzelner Ansätze um dann die Projektwerkstatt noch einmal im Ganzen zu betrachten.


Die Ansätze


- Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen -
Helmut Schmidt
- Wer keine Visionen hat, soll zur SPD gehen -
Sozialistische Initiative Berlin-Schönau


Wir wollten keinen Privatraum mehr, der uns nur vereinzelt und voneinander trennt. Also haben wir gemeinsame Schlafräume eingerichtet. Wir wollten keine Menschen ausschließen, also haben wir unsere Tür in einjährigem bestehen nur einmal! abgeschlossen: Zu Silvester, als alle aus dem Haus waren und wir Angst hatten das ein paar Betrunkene unsere Leihbücherei als Interessanten Ort für ihre Böller entdecken könnten. Miete sollte solidarisch aufgebracht werden: Jede_r nach seinen Fähigkeiten und seinen/ihren Bedürfnissen. Die Leihbücherei sollte allen zugänglich sein. Keine Ausleihgebühren oder ähnliches. Arbeitsmaterial sollte gemeinsam genutzt werden, eine Spiegelreflexkamera, ein Laptop, vier Computer, 3 Drucker, Scanner, Mikrophone, Diktiergerät und Videocamera wurden kollektiviert. Sieben Fahrräder wurden vom Schrottplatz geholt, repariert, angesprayt und vergemeinschaftet. Eine Saftbar wurde im vor dem Veranstaltungsraum eingerichtet und die Getränkeeinahmen sollten andere Projekte fördern. Der Veranstaltungsraum sollte mit einem Terminkalender ausgerüstet für jede_n nutzbar sein, der sich einträgt um Doppelbelegungen
unmöglich zu machen.


Die Erfahrungswerte nach einem Jahr

 

Der Veranstaltungsraum
Der Veranstaltungsraum wurde jeden Mittwoch für das Hausinterne Plenum genutzt und jeden Donnerstag für das Plenum von Robin Wood Stuttgart. Auch wenn wir uns oft mehr Veranstaltungen bei uns gewünscht hätten: Wenig ist in diesem Jahr Projektwerkstatt nicht passiert.
Eine irische Genossin berichtete von der Kampagne Shell2Sea, es gab Prozesstrainings, Treffen der Theoriegruppe gegen Stuttgart 21, Tanz- und Filmabende, Vorträge zur Kritik der bolschewistischen Wirtschaft, Gruppen wie Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen nutzten die Räumlichkeiten wie auch Autonome Aktivist_innen.
Es ist wichtig für die Bewegung offene Räume zur Verfügung zu stellen die genutzt werden können ohne lange Anmeldephase. Ebenfalls war es für viele kleine Veranstaltungen wichtig das kein Geld bezahlt werden musste um unseren Veranstaltungsraum zu nutzten. Somit blieb seine Finanzierung (ca. 300 Euro im Monat), immer Sache der Festbewohner_innen. Sie zahlten diesen im Stillen immer mit.


Die Saftbar
Bewusst haben wir uns von Anfang an dafür entschieden, keinen Alkohol in der ProWe zu lagern. Also gab es verschiedene Säfte und Limonaden in der Bar. Besorgt und Organisiert von einem Genossen alleine war dieser auch bald am Rande der Verzweiflung. Trotz unglaublich geringer Selbstkosten (1 Liter Saft für weniger als 70 Cent und 1,5 Liter Cola für 35 Cent) und empfohlener Preise von 1 Euro pro 0,5 Liter Glas waren nachdem über die Hälfte unsere Bestände aufgebraucht waren gerade einmal knapp die Kosten gedeckt.
Es gab monatliche Einnahmen-Ausgaben Abrechnungen, die transparent machten, wie die Saftbar finanziell steht. Wenn der ausgehängte Zettel darauf hinwies, dass zuletzt Verluste gemacht wurden, war die Spendenbereitschaft höher und im Folgemonat konnten kleine Überschüsse eingenommen werden. Wenn im Folgemonat verkündet wurde, dass sich die Saftbar momentan selbst trägt, und das auch weiterhin tun wird, wenn die Menschen bereit sind, weiterhin ein wenig zu Spenden, wurden wieder riesige Finanzierungslöcher in die Kasse der Saftbar gerissen. Nach einem beständigen auf und ab, resümierte der Genosse, dass er nicht mehr motiviert war, für seine Mitbewohner_innen zwei mal die Woche Getränke einzukaufen wenn dies keine darüber hinaus wirkenden politischen Auswirkungen hat, als dass er dies tat. Die Idee mit der Saftbar die ProWe oder andere Projekte mit zu finanzieren war gestorben, die Saftbar wurde eingemottet, die Menschen kauften sich Abends wieder ihre Getränke im ReWe selbst. Die Flaschen mit auf das Etikett geschrieben Namen nahmen zu.


Die Leihbücherei
Mit knappen 1000 Büchern zogen wir in die ProWe, mit etwa knapp doppelt so vielen werden wir sie wieder verlassen. Egal ob die gesammelten Werke von Marx/Engels, Lenin, Stalin, Mao, Mehring, Brecht oder die Ausgewählten von Bebel, Zetkin, ob anarchistische Literatur, Zapatischtische oder Feministische; in der GEGEN_KULTUR Leihbücherei ist sie zu finden. Obwohl Genoss_innen in monatelanger Arbeit jeden Titel in einem Computer speicherten, archivierten, per Stichwortsuche zugänglich machten und es so für Nutzer_innen der Bücherei sehr einfach gemacht haben Bücher zu bestimmten Themen zu finden, wurde diese Arbeit oft nicht respektiert. Alle zwei Wochen ist kaum ein Buch an dem Platz zu finden wo es eigentlich hingehört. Desweiteren überfordert es auch viele Nutzer_innen einen vollständigen Namen in die Ausleihleiste zu schreiben sowie eine Möglichkeit sie zu erreichen (um Bücher zurück zu fordern die nicht zurück gebracht werden). „Freund von Thomas“ etc. sind KEINE Vollständigen Namen. Trotz Problemen und ca. 40 geklauten Büchern in einem Jahr wird die GEGEN_KULTUR Leihbücherei weiterhin bestehen bleiben. Nach dem Ende der Projektwerkstatt wird sie in anderen Räumlichkeiten weiter zugänglich bleiben. Die Gruppe welche sich weiter um die Pflege der Bücherei kümmert hat Konsequenzen aus den Erfahrungswerten gezogen und es wird einige Änderungen im Konzept geben.


Das Büro
Ein offenes Büro muss vieles meistern. Da Computer manchmal von anderen Nutzer_innen belegt sind, mensch selbst allerdings zuvor an diesem gearbeitet hat, richteten wir einen Server ein auf dem zentral alle Daten gespeichert waren. Mit Plakaten versuchten wir den Nutzer_innen zu erklären wie anonymes Surfen funktioniert und welche Daten nicht auf öffentlich nutzbare Computer gehören. Die meisten Commons wurden pfleglich behandelt und es kann durchaus von einem allgemeinen, verantwortungsvollen Umgang mit den technischen Geräten gesprochen werden. Die bittere Pille folgte zum Ende: Der GEGEN_KULTUR Verlagslaptop und eine Gemeingut Spiegelreflexkamera wurden im August geklaut.


Die Fahrräder

Sieben Fahrräder wurden vom Schrottplatz geholt und wieder fahrtüchtig gemacht. Damit sie für uns immer gut erkennbar sind, wurden alle in einem schicken giftgrünem Ton lakiert. Alle wurden mit einem Zahlenschloss mit derselben Nummer ausgerüstet und wir hatten so die Möglichkeit, die Fahrräder gemeinsam zu nutzen. Den Sommer über funktionierte die gemeinsame Nutzung und Pflege der Fahrräder. Die Bilanz ist dennoch mehr als ernüchternd. Die Fahrräder wurden im Frühling besorgt. Jetzt, Anfang Herbst, ist nicht ein Fahrrad mehr Teil der ProWe. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Ist in einem Fall klar der Nutzer schlicht keine Verantwortung für das Fahrrad übernommen hat („Ich weiß nicht mehr wo ich es hingestellt habe“), vermuten wir auch das Fahrräder ganz einfach geklaut wurden. Grund dafür war möglicherweise auch ein (kurzzeitiger) Mitbewohner welcher der Ansicht war, dass Schlösser per se unemanzipatorisch seien. Ein Genosse arbeitet allerdings gerade an einer technischen Lösung um Fahrräder kollektiv zu nutzten und bei ihrem Verlust dennoch den Standort ermitteln zu können. Die Idee Fahrräder als Commons zu nutzten ist für uns nicht per se gescheitert. Für uns sicher ist nur die Notwenigkeit Vereinbarungen klarer zu treffen und auf ihre Einhaltung zu bestehen.


Der Wohnraum
An dieser Stelle ist das Thema Wohnraum kaum erschöpfend zu analysieren. Wir arbeiten gerade an einer größeren Reflexion die im Laufe der nächsten Monate abgeschlossen und veröffentlicht wird. An dieser Stelle ist nur zu sagen, dass Leben ohne Privatraum uns alle an Grenzen unserer eigenen Sozialisation geführt hat. Haben manche die Konsequenz daraus gezogen wieder in ein eigenes Zimmer ziehen zu wollen, arbeiten viele der ehemaligen Kommunard_innen gerade an einem Plan wie es anders weitergehen kann. Ohne Privatraum, aber unter anderen Vorzeichen. Ebenfalls umstritten ist die Bewertung des Begriffs „Offen“ ausgefallen. Manche wünschen sich für ihren nächsten Wohnraum wieder ein Hausrecht zurück, andere präferieren den Begriff „verantwortungsvollen“ oder „selbst organisierten“ Raum, um klarer die Gründe darzustellen, aus denen sie einen Raum zur Verfügung stellen


Die „Küche für alle“
Die KüFa erblickte zum ersten mal das Licht der Welt im letzten Sommer bei einer kleineren Aktion unter dem Titel 'Campen gegen Stuttgart21' in dem Sie mit geliehenen Töpfen und Kochern 70 Aktivist_innen mit leckerem veganem essen versorgte, während diese im Stuttgarter Schlosspark übernachteten und ihre Zelte von Polizeihundertschaften geräumt wurden. Allmählich baute Sie ihr Equiptment aus und mit stets wechselnder Besetzung bekochte sie nicht nur zwei Monate lang die Montagsdemos gegen Stuttgart21. Sie verköstigte auch 600 Teilnehmer_innen des Camps gegen Stuttgart21 sowie die Menschenkette gegen Atomkraft nach dem Gau in Fukusihma. Die KüFa wird auch weiterhin existieren und ist eines der Projekte der ProWe das als rundum gelungen angesehen werden darf.


Zur Miete
Der Hauptgrund warum die ProWe in ihrer heutigen Form aufgelöst wird ist das Scheitern des Finanzierungskonzeptes. Zu wenig Bewohner_innen welche in der Lage waren regelmäßig Miete zu zahlen und zu wenig Veranstaltungen welche Geld einbrachten sind als Hauptkritikpunkte zu sehen. Besonders bitter ist die feste Zusage einzelner Kommunard_innen einen bestimmten Betrag zu zahlen, dem dann aber nicht nachgekommen wurde. Viele reisende Aktivist_innen haben nichts zum Erhalt ihrer (teilweise) festen Anreisestation ProWe Stuttgart beigetragen, so das die gesamte finanzielle Last von fast 3000 Euro im Monat an den (zweitweiße) 5 – 6 festen Bewohner_innen lag. Dies konnte auf die Dauer nicht gutgehen. Für eine genauere Reflexion siehe projektwerkstatt-stuttgart.de in den nächsten Monaten.


An dieser Stelle sei aber noch einmal gesagt: Linksradikale Projekte bewegen sich im Kapitalismus immer in Widersprüchen und bekommen diese zu spüren. Selbst der Verwertungslogik unterworfen zu sein ist kein gewählter Teil des Projekts sondern bittere Realität. Es kann also nicht oft genug gesagt werden: Ziel kann es nicht sein alle Ansätze linksradikaler Politik und -Wohnformen auf Verwertbarkeit zu überprüfen oder anhand von Finanzierbarkeit zu selektieren. Das finanzielle Scheitern der ProWe ist nicht nur bei Kommunard_innen zu suchen, sondern innerhalb einer Logik  die jedes Projekt und Lebensabschnitt von Menschen zu einem degradiert, das wirtschaftlich sein muss. Es kann nur um eines gehen: Die Überwindung des Kapitalismus!


Zum Abluss und wie es weitergeht


la lotta Continua


Die Projektwerkstatt Stuttgart war selbst ein Projekt. Es hat uns in vielem weitergebracht: All die Veranstaltungen und die Agitation waren nicht umsonst – sie haben ihre Wirkung erzielt, egal ob es das Projekt weiterhin geben wird oder nicht. Viele Projekte wie die KüFa oder die Leihbücherei wird es weiterhin geben. Wurden wir zwar immer wieder Desillusioniert was die Bereitschaft angeht, langfristig Verantwortung für Projekte zu übernehmen, hat uns die spontane Solidarität von Menschen immer wieder überrascht, fasziniert und begeistert. So blieb ein Genosse aus Dänemark kurzerhand drei Tage länger in Stuttgart um uns beim Kochen für 600 Menschen zu helfen.

Gescheitert ist vor allem der Versuch einen offenen, funktionellen Wohnraum in dieser Form alleine über Mieten zu finanzieren. Daraus werden für zukünftige Projekte Konsequenzen gezogen werden. Die Kommunard_innen haben für sich ganz verschiedene Konsequenzen gezogen. Manche deuten einen Rückzug ins private an, andere flüchten nach Vorne: Bereits seid Wochen findet in der Projektwerkstatt eine Organisationsdebatte statt. Aus ihr wird über kurz oder lang auch eine neue politische Gruppe erwachsen. Aber nicht nur eine neue politische Organisation wird angestrebt. Nach wie vor suchen wir auch nach Möglichkeiten Veranstaltungsräume, linke Kultur und Treffpunkte zu schaffen. Nichts bleibt wie es ist, aber:

 

Der Kampf geht weiter
Sowieso

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Das ist ein sehr guter Bericht und diese öffentliche Dokumentation ist sehr wichtig. Vieles kam mir bekannt vor und an einigen Stellen musste ich schmunzeln. Eine solche ehrliche Dokumentation hätte ich mir z.B. auch in der Mainzer Strasse (Berlin) gewünscht, die es so nie gab und ohne diese nun ein falsches Bild übrig bleibt.

Auch wenn ich persönlich mit vielem, was ihr probiert habt, enorme Probleme habe und den Grossteil als reine Angelegenheit des persönlichen Lebensstils und nicht als gesellschaftlich-emanzipatorisch ansehe muss ich euch für eure offene und ehrliche Stellungnahme hohen Respekt zollen.  Ihr lügt weder euch in die eigene Tasche noch macht ihr ein Propagandaspektakel nach "draussen" auf. Das ist - auch und gerade in einer Linken (und damit meine ich keinen bestimmten Teil, das betrifft alle Spektren), für die das bereits erwähnte Propagandaspektakel und die Lüge Teil der täglichen Daseinsberechtigung geworden ist - , sehr rar geworden. Dafür vielen Dank!