War die Erschießung von Benno Ohnsorg Mord?

War die Erschießung von Benno Ohnsorg Mord?

Die 68er Revolte - das heimtückisches Werk der STASI?
Oder: Wenn die Erschießung von Benno Ohnesorg Mord war ...
Vor zwei Jahren überraschten alle Leidmedien ihr Publikum mit der sensationellen Meldung, dass der Staatsschutzbeamte Karl-Heinz Kurras, der zum Schutz des Schahbesuches in Berlin am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss, als Stasi-Spion enttarnt worden sei.


Diese ›Enthüllung‹ wäre eigentlich nichts besonderes, wenn sie nicht mit dem Versuch gekoppelt gewesen wäre, zwei ganz wesentliche historische Fakten auf den Kopf zu stellen:

 

1. Da Benno Ohnesorg von einem Stasi-Spion in Polizeiuniform erschossen wurde, dessen Tod bis heute als Fanal für die 68er Rebellion verstanden wird, ist die 68er Revolte eine von der Stasi gesteuerte Auftragsarbeit, ergo die westdeutsche Regierung unschuldig.

 

2. Da der Staatsschutzbeamte Karl-Heinz Kurras in erster Linie ein Stasi-Spion war, kann und darf das, was damals in Notwehr geschehen sein soll, im Lichte dieser Erkenntnisse auch Mord sein.

 

Eine never ending story

Diese Entsorgungsleistung auf äußerst niedrigschwelligem Niveau fand nun seine Fortsetzung.

 

Mit einem dreispaltigen Artikel enthüllt die Frankfurter Rundschau vom 1.8.2011, dass auch Horst Mahler Informeller Mitarbeiter/IM der Stasi gewesen sein soll. Doch bevor man Na und? sagen möchte, schließt sich abermals ein Salto Mortale an, der wie vor zwei Jahren im selben Netz landet: Da Horst Mahler eine zentrale Figur der APO (Außerparlamentarische Opposition) war, hatte die Stasi mit diesem IM den Finger am Puls der 68er Bewegung ... und am Abzugshahn der Dienstwaffe des Karl-Heinz Kurras:

»Damit hätte er (Horst Mahler, d.V.) den gleichen Status gehabt wie der Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1968 den gegen den Schah demonstrierenden Benno Ohnesorg erschossen hat. Und zwar gezielt, vorsätzlich und kaltblütig, wie die Staatsanwaltschaft auch herausgefunden haben soll, und nicht in Notwehr, wie Kurras stets behauptet und von zwei Gerichten bestätigt bekommen hat. Es sollen sich auch noch mehr Stasi-Spitzel am Tatort aufgehalten haben, hätten die Ermittler mit Hilfe neuer Auswertungstechniken herausgefunden.«

Eine makabre Wendung in Sachen Wahrheitsfindung: Damals hielten alle auflagestarken Printmedien, von FR über FAZ bis BILD die gerichtlich verfügte These, dass es sich bei der Tötung von Benno Ohnesorg um Notwehr gehandelt hat, für überzeugend und beruhigend - und alle, die etwas anders gesehen und wahrgenommen hatten, für Spinner und Feinde der Demokratie.

Bei soviel Dilettantismus fragt man sich natürlich, warum es - auch 40 Jahre danach - ein so massives und hoch dotiertes Interesse gibt, die 68er Revolte der Stasi in die Schuhe zu schieben, die Ursachen für diese Rebellion außer Landes zu schaffen. Ändert der Umstand, dass der Staatsschutzbeamte Karl-Heinz Kurras und das APO-Mitglied Horst Mahler IM-Mitarbeiter waren, etwas daran, dass die Unterstützung eines diktatorischen Schah-Regimes in Persien nicht von der Stasi eingefädelt wurde, sondern von demokratischen Parteien in Westdeutschland, die politischen und militärischen Unterstützungsleistungen der westdeutschen Regierung im Vietnamkrieg nicht in Ost-Berlin, sondern in Bonn getätigt wurden, der hasserfüllte Antikommunismus, die reaktionäre Grundhaltung in Staat und Polizei keiner Geheimoperation der DDR geschuldet waren, sondern der fast ungebrochenen Kontinuität faschistischen Machteliten in Westdeutschland?

Wie einfach wäre es doch, diesen unterirdischen Journalismus zu beenden, indem man nur zwei Fragen nachgehen würde:
Warum werden zur Aufklärung politischer, polizeitaktischer, gesellschaftlicher Hintergründe, die zur Tötung eines unbewaffneten Demonstranten geführt haben, nur geheime Stasi-Unterlagen herangezogen und nicht alle Polizeiunterlagen und Gerichtsakten jener Zeit?
Warum werden nur die Unterlagen des Geheimdienstes der ehemaligen DDR zur Klärung dieser Fragen herangezogen, und nicht alle Unterlagen (west-)deutscher Geheimdienste (BND/Verfassungsschutz)?

Ganz unverhofft käme man in den Genuss, den Fragen von wirklicher Bedeutung und Tragweite nachzugehen: Was unterscheidet einen ›Rechtsstaat‹ von einem ›Unrechtsstaat‹? Mit wem arbeiteten Geheimdienste in West bzw. Ost zusammen? Welche autoritären, diktatorischen Regime unterstützten sie?

Wenn heute die Frankfurter Rundschau via Staatsanwaltschaft schreibt, dass Benno Ohnesorg »gezielt, vorsätzlich und kaltblütig« ermordet wurde, dann stellt sich doch die Frage: War das auch die Stasi, die dies verhindert hat?

Es lohnt sich, die politischen, polizeilichen Umstände, die zur Ermordung von Benno Ohnesorg führten, die juristische Aufklärung, die damals stattgefunden haben soll, noch einmal in Erinnerung zu rufen.
Die Erschießung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967

Vom deutschen Polizisten, der in Notwehr handelte zum Stasi-Spion als Auftragskiller

Über 40 Jahre wollte es niemand wirklich gewesen sein.
Über 40 Jahre war der Staatsschutzbeamte Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg erschoss, im besten Fall in lebensbedrohlicher Bedrängnis, im schlimmsten Fall überfordert.
Jetzt steht fest:
Die Stasi
die Staatssicherheit in der ehemaligen DDR war’s!

Am 22. Mai 2009 platzierten FAZ und BILD »brisante« Enthüllungen auf ihren Frontseiten:

»Ein Stasi-Mitarbeiter erschoss Benno Ohnesorg.« (FAZ)
»Stasi-Spion erschoss Benno Ohnesorg.« (BILD)

Über 40 Jahre war es kein Mord, keine gezielte Liquidierung - jetzt, wo es kein deutscher Polizist gewesen sein soll, sondern ein Stasi-Spion, schon....
Ein makabrer Beitrag zu 60 Jahre Grundgesetz!
Was war am 2. Juni 1967 geschehen, wer schoss tatsächlich und wie wurde der Fall politisch und juristisch ›aufgeklärt‹?

Bereits im Vorfeld stimmten sich die politisch Verantwortlichen auf ein hartes polizeiliches Vorgehen ein und einigten sich auf geradezu prophetische Weise auf den Umgang mit möglichen und zwingend notwendigen »Fehlern«:
»In einem Brief an Innensenator Wolfgang Büsch sprach Polizeipräsident Erich Duensing am 13. April von einem ›Studentenkrieg‹, der nicht mit Polizei, sondern nur mit Staatsanwälten und Gerichten zu bewältigen sei. In seiner Antwort am 8. Mai erwartete Büsch dagegen verschärfte Konfrontation, die größere Polizeiaufgebote notwendig machen würde. Er versicherte Duensing, dass ›ihre Vorgesetzten auch dann für sie eintreten, wenn sich bei der nachträglichen taktischen und rechtlichen Prüfung Fehler herausstellen sollten. Das setzt allerdings voraus, dass diese Fehler nicht als Dienstpflichtverletzungen angesehen werden müssen.‹
Eine kaum kaschierte Aufforderung zur Begehung von Straftaten im Amt - wenn alle mitspielen.
Der Schah-Besuch am 2. Juni 1967 in West-Berlin

Am Mittag trug sich der Diktator im Schöneberger Rathaus in das goldene Buch der Stadt Berlin ein. Rund 400 Schahgegner riefen ›Mörder, Mörder‹ und forderten Amnestie für politische Gefangene in Persien, worauf sie von etwa einhundert Schahanhänger überfallartig mit Holzlatten, Schlagstöcken und Stahlrohren angegriffen wurden. Dutzende wurden verletzt, einige schwer, während die Polizei zuschaute und sie gewähren ließ.

Für den Abschluss des eintägigen Staatsbesuchs war eine Galaaufführung der ›Zauberflöte‹ in der Deutschen Oper vorgesehen. Die Polizei hatte weiträumig abgesperrt und aufgrund der großen Zahl von GegendemonstrantInnen auf eine unmittelbare Räumung verzichtet. Stattdessen griffen immer wieder zivile Greiftrupps, zu denen auf Karl-Heinz Kurras zählte, wahllos einzelne Personen aus der Menge heraus und verprügelten sie vor aller Augen. Nachdem das Schah-Ehepaar die Oper betreten hatte, wurden die GegendemonstrantInnen von der Polizei angegriffen, nach einer Methode, die der Polizeipräsident Erich Duensing drei Tage später so beschrieb: »Nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.«

An der darauf folgenden Treibjagd (die für die Polizei eine ›Fuchsjagd‹ war) beteiligten sich abermals ›Jubelperser‹, die mit Dachlatten, Holzknüppeln, Schlagringen und Eisenstangen auf mittlerweile fliehende Demonstranten einschlugen. Da eine Flucht nicht möglich war, die Polizei gezielt Fluchtwege verstellt hatte, versuchte einige über Hinterhöfe dem ›systematischen, kaltblütig geplanten Pogrom‹ zu entkommen, so auch Benno Ohnesorg. Extra aufgestellte Greiftrupps in Zivil setzen ihnen nach. In einem Hinterhof stellten schließlich etwa zehn zivile und uniformierte Polizisten eine ebenso große Gruppe an Fliehenden, auf die sofort eingeschlagen wurde. Unter den zivilen Einsatzkräften befand sich auch Karl-Heinz Kurras von der Abteilung I für Staatsschutz: »Ohnesorg stand wenige Meter entfernt an einer Teppichstange und beobachtete die Szene. Nach Aussage des Demonstranten Reinhard B., der auf einer Mülltonne am Hofrand stand, trieb die Polizei dann alle Umstehenden hinaus; nur Ohnesorg habe sich noch im Hof befunden. Der Vorgesetzte von Kurras, Helmut Starke, bezeugte, Ohnesorg habe zu fliehen versucht, worauf Polizisten ihm den Weg abgeschnitten hätten. Erika S. sah, dass drei Polizisten um Ohnesorg herumstanden und ihn verprügelten, worauf er seine Hände halb erhoben habe. Sie habe dies als Zeichen der Ergebung und Beschwichtigung gedeutet. (…) Etwa um 20:30 Uhr fiel ein Schuss, der Ohnesorg aus etwa eineinhalb Metern Entfernung in den Hinterkopf traf.«
Unmittelbar nach den Schüssen erteilte eine männliche Stimme den Befehl: »Kurras, gleich nach hinten! Los, schnell weg!«

Nur wenige Stunden später wussten die politisch Verantwortlichen und ein Großteil der Medien sofort, wer für den Tod Benno Ohnesorg’s verantwortlich war: Alle, die den Besuch eines Diktators nicht tatenlos hinnehmen wollten. Genauso schnell wurden Polizei und Einsatzleitung in Schutz genommen: Der Bürgermeister Heinrich Albertz stellte sich demonstrativ hinter die Polizei und verteidigten deren Vorgehen ausdrücklich.
Nicht anders verhielten sich Polizei und Medien im Umgang mit den über 150 ›Jubelpersern‹, zu denen auch Mitglieder des persischen Geheimdienstes ›SAVAK‹ gehörten: Weder schritt die Polizei vor Ort ein, als diese organisiert und bewaffnet auf DemonstrantInnen einschlugen, noch wurden die Absprachen zwischen Polizei und ›Jubelpersern‹ im Nachhinein politisch thematisiert oder gar juristisch verfolgt.
Die Todesumstände von Benno Ohnesorg wurde nicht ›aufgeklärt‹, sondern vertuscht

Dass es sich weder um Mord noch um Totschlag handelte, wussten die Ermittlungsbehörden bevor sie anfingen: Sie ermittelten wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung.
Bis es zum ersten Prozess kam, waren bereits wesentliche Indizien verschwunden bzw. Spuren beseitigt: Die Spurensicherung am Tatort wurde schlichtweg unterlassen. Das Magazin des Staatsschutzbeamten war nicht mehr auffindbar, die Kleidung, die er zur Tatzeit trug, war gereinigt worden. Aussagen, die eine gezielte Tötungsabsicht und keine Notwehrhandlung nahelegten, wurden nicht nachgegangen. Kurzum: Die Staatsanwaltschaft ermittelte nicht in alle Richtungen, sondern vor allem zur Entlastung des Todesschützen.
Selbst der parlamentarische Untersuchungsausschuss kam zu einem ähnlichen Ergebnis und warf »sowohl der Polizei als auch der politischen Führung Versäumnisse« vor, was in der Folge zu einer Reihe von Rücktritten führte: Zuerst der Berliner Polizeipräsident, dann der Innensenator, und schließlich am 29.9.1967 auch der Bürgermeister Heinrich Albertz.

Insgesamt drei Prozessen sollten der Aufklärung dienen. Mindestens genau so viele Versionen bot der Polizeibeamte, der für die › Abteilung I für Staatsschutz‹ in Zivil unterwegs war:
»Einmal sollen ihn mit Messern bewaffnete Demonstranten angegriffen haben, ein anderes Mal habe er nur einen Warnschuss abgegeben, der als Querschläger von der Decke abgeprallt sei.«
Eine weitere Version behauptete, dass sich im Handgemenge der tödliche Schuss gelöst habe.
»Keiner von 83 Zeugen – auch keiner der beteiligten Kollegen von Kurras – hörte einen Warnschuss, sah Messer, ein Handgemenge und Kurras am Boden liegen. Keiner der Festgenommenen hatte Messer oder andere Waffen bei sich gehabt.«
Trotzdem wurde Karl-Heinz Kurras in allen drei Prozessen freigesprochen.

Vier Jahre nach den tödlichen Ereignissen wurde Kurras wieder in seine alte Staatsschutzabteilung aufgenommen.
Dreißig Jahre später erklärte Kurras seine Tat: »Fehler? Ich hätte hinhalten sollen, dass die Fetzen geflogen wären, nicht nur ein Mal; fünf, sechs Mal hätte ich hinhalten sollen.«
und verriet dabei unabsichtlich, dass er nie Warnschüsse abgegeben hatte, sondern nur einen einzigen, aus ca. einem Meter Entfernung von hinten in den Kopf Benno Ohnsorgs.
Als er sich in diesem Stern-Interview 2007 zu seinen mörderischen Absichten äußerte, war er noch ganz deutscher Polizist! Niemand aus der CDU, niemand aus Kreisen der Justiz schlug die Wiederaufnahme der Ermittlungen vor…
40 Jahre Vertuschung und Irreführung – Mord verjährt nicht

Dank dieser Enthüllungen wissen wir nun, dass es kein (wirklicher) Polizist war, der einen wehrlosen Demonstranten erschossen hatte, sondern ein Stasi-Agent.
Und auf einen Schlag funktioniert der Rechtstaat wieder. Die Berliner CDU fordert nur einen Tag nach jenen ›Enthüllungen‹ dazu auf, schonungslos zu prüfen, ob es sich beim Tod von Benno Ohnesorg um einen Auftragsmord handelte. Dann müsse – was man 40 Jahre mit allen Mitteln verhindert hat – wegen Mordes ermittelt werden.
Gehen wir einmal von dieser wundersamen These aus, so bliebe eines festzuhalten: An der Indizienlage gegen den Polizisten Karl-Heinz Kurras und gegen den Stasi-Spion Karl-Heinz Kurras würde sich nichts ändern - lediglich ein Motiv würde hinzukommen bzw. sich verdoppeln.
Hält die heutige CDU-Landesregierung also etwas für Mord, was sie vor 40 Jahren vehement ausschloss, will sie uns vielleicht mehr sagen, als beabsichtigt:
Gegen den deutschen Polizisten gab es nicht genug Indizien, weil man sie nicht als solche akzeptierte bzw. verschwinden ließ. Ganz anders liegt der Fall, wenn es sich um einen Stasi-Spion handelt. Dann könnten Indizien anders bewertet werden und verschwundene Indizien wieder auftauchen. So flexibel könnte eine Rechtsstaat sein...

Jetzt warten wir nur noch auf die aller letzten ›Enthüllungen‹, die beweisen werden, dass

  • die Bundesregierung, die freundschaftliche und wirtschaftlich-florierende Beziehungen zu Diktaturen pflegte
  • die Medien, allen voran die Springer-Presse, die Jagd auf den ›studentischen Pöbel‹ machten
  • die systematischen »Versäumnisse« der Ermittlungsbehörden
  • die Gerichte, die Karl-Heinz Kurras dreimal freisprachen
  • die politisch Verantwortlichen, die nicht ihre Freundschaft zu Diktaturen, sondern den Protest dagegen, für kriminell hielten
  • das heimtückische Werk von Stasi-Spionen war.


Wolf Wetzel            2011

Mitautor des Buches: ›Die Hunde bellen – Eine Zeitreise durch die 68er Revolte‹, Unrast Verlag, Münster, 2001

Quellen:

Katja Apet, Berlin Kurier vom 2. Juni 2007, Der Tag, an dem die Demokratie erschossen wurde

 

Sebastian Haffner, Nacht der langen Knüppel, der 2. Juni 1967 – ein geplanter Pogrom, Stern 26/1967

 

Peter Damerow u.a. (Hrsg.): Der nicht erklärte Notstand, in: Kursbuch 12 (Hrsg.: Hans Magnus Enzensberger), Frankfurt/Main 1968, S. 29

 

Heiko Drescher: Genese und Hintergründe der Demonstrationsstrafrechtsreform von 1970 unter Berücksichtigung des geschichtlichen Wandels der Demonstrationsformen«
Injektion, Das Fenster zum Hof, Campus-Magazin, Hamburg, Nr.4, Frühjahr 2008
Stern vom 1.12.2007
http://de.wikipedia.org/wiki/Benno_Ohnesorg

Wer sich noch ein wenig in die Geschichte der 68er Revolte einlesen will, sei folgener Text empfohlen: http://wolfwetzel.wordpress.com/2002/05/17/68-als-staatsbegrabnis/

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Die "Enthüllungen" über Kurras' Stasivergangenheit könnten den feuchten Träumen konservativer Historiker entstammen und passen wie der "Arsch auf den Eimer" bürgerlicher Geschichtsschreibung und Geschichtsbewältigung, wie sie im Nachkriegsdeutschland ihre traurige Tradition hat. 
Es steht zu befürchten, dass die nächsten "Enthüllungen" belegen, dass auch Josef Erwin Bachmann Stasiagent war und Adolf Hitler hauptberuflich für den NKWD gearbeitet hat. Dann könnte die Geschichte des letzten Jahrhunderts auf einen Rutsch so umgeschrieben werden, wie sie das Zentralorgan der Hirntoten, die "Bild" ,seit eh und je predigt. 
Beeindruckend finde ich die "neue Sensibilität" konservativer Medien und Politiker, die meinen, dass die Geschichte nach 68 aufgrund von Kurras' Stasivergangenheit neu geschrieben werden muss. Die gleiche Sorte Medien und Politiker, die in den 50er, 60er und 70er Jahren den alten Nationalsozialisten, die in Brigadestärke in Politik, Justiz, Polizei und Wirtschaft neue Karrieren machten, demokratische Gesinnung attestierten und nicht im Entferntesten daran dachten, dass diese Tatsachen Grund für eine Neuschreibung der Nachkriegsgeschichte wären. 
Angesichts der Renegatenoffensive der letzten Jahre, in der Leute wie Götz Aly usw. versucht haben, die Geschichte der 68er aus den Symptomen ihrer individuellen Krankengeschichte abzuleiten und zu interpretieren, passen diese neuen "Enthüllungen" wie die Faust aufs Auge. 
Wenn man eine provokante These aufstellt, die dem herrschenden Zeitgeist den Bauch pinselt, wird diese begierig aufgenommen und entfaltet alleine durch ihre massive mediale Präsenz eine Wirkung, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt und ihrer Verifizierbarkeit. 
Zum momentan herrschenden Zeitgeist gehört es, jeden emanzipativen Prozess der Nachkriegsgeschichte auf seine Denunzierbarkeit und Umkehrbarkeit abzuklopfen.

Man sollte nicht vergessen, welche Stimmung in dieser formierten Gesellschaft Ende der 60er herrschte. Viele alte Nazis saßen noch an allen möglichen Schaltstellen der Macht und es gab eine offene und verdeckte latente Gewaltbereitschaft gegen jeden, der sich nicht anpassen und einfügen wollte. Wohl jeder, der aus heutiger Sicht harmlos rebellischen Jugendlichen, hat diese Sätze häufig zu hören bekommen: "Euch sollte man vergasen." oder "Euch sollte man ins Arbeitslager stecken."

Das war die Situation in der Benno Ohnesorg durch Kurras ermordet wurde, unter Beifall von Teilen der Bevölkerung und nach monatelanger Hetze durch die bürgerlichen Medien, allen voran die "Bild". 

In seinem Text "Die schweigende Mehrheit", stellt Wolfgang Pohrt die damalige Stimmung recht plastisch dar. Hier ein Auszug:

 

"Besonders die Kriegsgeneration, die mit der hohen Kampfmoral im Schlußverkauf, ist unverwüstlich. Vielleicht von jenen Leichenbergen, die sie in den Konzentrationslagern und an den Fronten schuf, nährt sich ein gnadenloser Überlebenswille. Es scheint, als habe dieses Monstrum die Lebenskräfte seiner 50 Millionen Opfer vampirhaft ausgesaugt, um diese Kräfte in solche der eigenen Zählebigkeit zu verwandeln. Der alte Kannibalenglaube, daß man durch den Verzehr des getöteten Feindes dessen Kräfte erwirbt, erklärt im 20. Jahrhundert, wo den Überlebenden die Mägen platzen müßten, äßen sie alle getöteten Feinde auf, ein Mysterium eigener Art: das deutsche Wirtschaftswunder. Wie jener Rentner, der in der Berliner Gedächtniskirche Dutschke mit seiner Krücke niederstreckte, macht diese Generation aus jedem Holzbein eine Waffe. Im 77jährigen Greis, der sich - am 8. Oktober 1980 in Hannover - über das Benehmen eines 50 Jahre jüngeren Mannes geärgert hatte und ihn deshalb im Nahkampf mit dem Messer totstach, erscheint ein bösartig gewordener Selbsterhaltungstrieb. Er klammert sich ans Leben, nicht weil er es liebt, sondern weil er will, daß alle anderen vor ihm sterben. Sein Triumph ist das Vergnügen, kurz vor dem unvermeidlichen eigenen Untergang noch den der anderen zu sehen. Sein letzter Blick sucht nicht wie der von Moses das gelobte Land, um mit der Gewißheit, daß die Kinder und Enkel dort glücklich leben werden, in Frieden zu sterben. Er möchte, bevor er stirbt, am liebsten ringsum die Atomblitze zucken sehen. Wenn er die Welt, bevor er sie verläßt, zur Hölle macht, dann hat er die Hölle im Jenseits nicht zu fürchten. Das war die Erlösungshoffnung und die Eschatologie der Nazis, die in dem Wörtchen Endsieg steckt. Kein Schwerbeschädigter, der seinen Ausweis nicht wie einen Haftbefehl, und kein Rentner, der seine Platzkarte nicht wie eine Dienstmarke präsentieren würde. Sie legen nicht Wert auf den Sitzplatz, sondern auf die Befehlsgewalt, andere, die weder Krüppel noch verwelkt und verbittert sind, zu vertreiben. Wenn es nur möglich wäre, riefen sie gleich die Polizei und ließen alle verhaften. 

Im Blick, mit dem die Alten ihre Kinder, die Chaoten, Randalierer, Terroristen und Verfassungsfeinde mustern, sticht eine mitleidlose Härte zu, welche die Deutschen sich vielleicht damals erworben haben, als sie es duldeten, daß Frau Hermine Braunsteiner in Majdanek kleine Kinder auf Lastwagen schmiß und in Gaskammern verlud und dafür mit dem Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse ausgezeichnet wurde. Vielleicht weil sie in ihren Kindern die Racheengel jener nicht im Blutrausch von einer Soldateska, sondern wider alle Gesetze einer elementaren, fast kreatürlichen Menschlichkeit von besonnenen deutschen Frauen umgebrachten Kinder fürchten, vielleicht deshalb können die Alten hier nicht mit sehnsüchtiger Liebe und wehmütigem Verzicht auf die Jüngeren schauen und mit Trauer und Schmerz wie dem Wunsch zu verzeihen auf das, was sie für die Entgleisungen und Verirrungen der Jüngeren, für ihr Unglück halten müssen. Sondern verkniffen und verhärtet, wie sie sind, wollen sie das, was die Jüngeren ihnen voraus haben, auch besitzen, und wenn sie es trotz Seniorenkost, Reformhausnahrung und Knoblauchpillen nicht besitzen können, dann wollen sie es vernichten. 

Die Mordabsichten gegen jeden Funken nicht verhärteten Lebens, denen damals die Juden und Zigeuner zum Opfer fielen, erklären heute die ungewöhnlich hohe Kindersterblichkeit im hiesigen Straßenverkehr, und sie erklären die gerade unter Rentnern besonders verbreitete deutsche Version des Bürgersinns, das Denunziantentum und das Spitzelwesen. 

In Kriegsschilderungen aus fremden Ländern ragt oft aus der allgemeinen Barbarei die Geschichte einer Frau hervor, die vor den eigenen Leuten den feindlichen Soldaten verbirgt und ihm das Leben rettet, weil er sie an den Sohn, den Bruder, den Gatten erinnert, der sich, auf der anderen Seite der Front, in einer ähnlichen Situation befinden mag. Und als im November 1973 griechische Militärpolizei die Athener Studenten durch die Straßen hetzte, da standen viele Türen offen. Für die Bevölkerung waren die verfolgten Studenten nicht mehr politische Partei, deren Anhänger oder Gegner man sein kann, sondern sie waren die eigenen, in große Not, in Lebensgefahr geratenen Kinder. Die Berliner Studenten hingegen, an denen die Polizei gerade die neue Leberwursttaktik ausprobiert hatte, waren, wie Adorno es formulierte, »die Juden der Stadt«. Und keine Scheu vor dem Gedanken, es könne der eigene Sohn oder die eigene Tochter sein; kein Mitleid mit dem Schmerz der Mütter und Väter hindert die Alten daran, durch systematische Denunziation die Jüngeren dem finalen Rettungsschuß, der Putativnotwehr oder dem lebenslänglichen Hochsicherheitstrakt zuzuspielen. 

Die rüstige Rentnerin, ohne deren Anruf bei der Polizei Günter Sonnenberg keinen Kopfschuß davongetragen hätte, prahlte nach vollbrachter Tat gut gelaunt vor dem Interviewer mit ihrer Beobachtungsgabe und ihrer Erfolgsbilanz. Denunziation ist ihr Hobby, ihr Seniorensport ist die verdeckte Menschenjagd. Sie, die jene stillschweigende Konvention gebrochen hat, auf welcher alles erklärte Recht basiert - sie würde anderswo geächtet und angespien."