Von der Freiheit in den Bergen – Ein Besuch bei der PKK im Kandil-Gebirge.
Hunderte Kämpfer seien bei Bombardements auf das Kandil-Gebirge, das Herzgebiet der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) an der Grenze zwischen der Türkei, dem Irak und dem Iran, getötet worden, meldeten türkische Medien in den vergangenen Monaten immer wieder. Und so fühlt es sich ein bisschen mulmig an, als unser Fahrer seinen Wagen die engen Serpentinen zum Herzgebiet der kurdischen Guerilla hinaufquält.
Doch der Gedanke an die perfiden Bombardements kann sich im Gehirn
nicht so richtig festsetzen, weil das Staunen über die Schönheit der
Landschaft alle andere Gedanken verdrängt. Kandil ist die mit Abstand
schönste Gegend, die ich je gesehen habe. Zwei Guerillas halten uns kurz
an, grüßen freundlich, wir dürfen passieren und sehen zwischen klaren
Gebirgsbächen, grünen Wäldern und erhabenen Gipfeln immer wieder Bilder
von Abdullah Öcalan und Sakine Cansiz.
Spätestens als der Fahrer uns an einem Treffpunkt an Heval Zagros und seinen Begleiter Heval D., einen jungen Kämpfer aus Bakur, übergibt, sind unsere Sorgen so weit entfernt, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, wovor wir Angst hatten. Denn zum einen – und das werden wir am heutigen Tag noch dutzende Male hören – sind die Luftschläge der türkischen Streitkräfte gegen die PKK nahezu wirkungslos. Die Guerilla weiß schlichtweg, wie man sich hier bewegt. Zum anderen aber lässt die selbstverständliche Gelassenheit der Menschen in Kandil gar keine Furcht zu.
„Man kann nicht in dauernder Panik leben“
Heval Zagros setzt uns neben die Kalaschnikow auf dem Rücksitz in seinen Geländewagen und fährt los. Zuerst sehen wir die Auswirkungen der Bombardements. Weil der Staat die Guerilla nicht trifft, bestraft er die Zivilbevölkerung. 61 Dörfer gibt es in der gesamten Gegend, in denen etwa 8000 Menschen wohnen. Mit der Guerilla leben sie friedlich zusammen, die Kämpfer*innen sind willkommen und gehören zum normalen Leben.
Fährt man durch die Gegend, weist nichts darauf hin, dass die Türkei diesen Ort zum Kriegsgebiet gemacht hat. Hirten treiben ihre Schafs-, Ziegen- und Kuhherden über die holprigen Wege, Frauen bestellen Felder, vor den kleinen Shops sitzen Kinder und lutschen Melonen-Eis. Einzig die Ruinen, die zwischen den intakten Häusern zu sehen sind, verweisen auf die Angriffe der Flugzeuge, die zumeist von Drohnen begleitet werden.
In einem Dorf, Zergelê, töteten diese Attacken im August 2015 8 Menschen – und zwar auf besonders perfide Weise. Als die Bewohner die Geräusche von Explosionen hörten, flohen sie. Zurück blieb eine ältere Frau, die durch einen Treffer in der Nähe verletzt wurde. Die Dorfbewohner kamen zurück, um sie zu retten, die Flugzeuge nahmen die Bewegung wahr und brachten insgesamt acht Menschen um.
Dennoch trotzen die Bewohner des Gebirges dem türkischen Terror. Und zwar durch die simple Aufrechterhaltung normalen Zusammenlebens. Später, als wir vor dem nach einem der ersten hier beerdigten Märtyer, Mehmet Karasungur, benannten Friedhof zu Mittagessen und Cay mit einer Einheit Frauenguerillas zusammentreffen, frage ich Heval Zagros, ob es nicht gefährlich ist, wenn wir mit so vielen Leuten gleichzeitig zusammensitzen. Er gibt die simple und wahre Antwort: „Sicher. Aber man kann nicht in dauernder Panik leben.“
Gegen die Türkei und Daesh
Der
Mehmet-Karasungur-Friedhof ist ein Architektur gewordenes Monument der
Ausdauer und Legitimität des kurdischen Befreiungskampfes. Über 400
gefallene Kämpfer*innen liegen hier begraben. Dass sie für die Sache der
Freiheit und Gleichheit starben, zeigt sich schon an den Schlachten, in
denen sie gefallen sind: „Hier liegen Märtyrer aus den Gefechten mit
der KDP, aus dem Krieg gegen die Türkei in den 1990er Jahren, aus dem
Angriff des Irans und viele, die im Kampf gegen Daesh in Syrien und im
Irak ihr Leben ließen“, erzählt uns Heval D. „Wer in Frieden und
Freiheit leben will, muss leider Opfer bringen.“
Wie bedeutend dieser Kampf ist, zeigen schon die Lebensentwürfe, die die Gegner der Guerilla von der türkischen Regierung bis Daesh einem aufnötigen wollen. Die Guerilla dagegen hat in ihrem Zusammenleben bereits – so gut das eben im Krieg geht – das vorweggenommen, was sie sich auch für die Gesellschaft im Allgemeinen vorstellt: Die Hevals leben gemeinsam, entscheiden gemeinsam, schaffen sich ihre Lebensmittel gemeinsam und teilen sie untereinander, sie diskutieren, kritisch und selbstkritisch. Es mag romantisierend klingen, aber es ist nicht gelogen: Die zwischenmenschlichen, genossenschaftlichen Beziehungen hier sind von einer so anderen Qualität als die, die wir gewohnt sind, dass man sich zu schämen beginnt.
„Wir haben unsere Freiheit gefunden“
Am Mittagstisch in der Nähe des Friedhofes sitzen wir mit einer
Fraueneinheit der Guerilla zusammen. Wir decken den Tisch, es gibt
köstliches Hühnchen, Reis, und gerilla ekmek, Brot, dass die
Kämpfer*innen selber backen. „Es schmeckt sehr unterschiedlich“, sagt
Heval Berivan. „Manchmal gut, manchmal schlecht. Wenn die Männer es
machen, meistens schlecht“, sagt sie und lacht.
Heval Berivan ist aus zwei Gründen in die Berge gekommen. „Die beiden wichtigsten Faktoren für mich waren: Eine Frau zu sein, und Kurdin zu sein.“ Die Diskriminierung kurdischer Kultur und Sprache, die Erniedrigungen erfuhr auch sie in ihrem früheren Leben. „Ich erinnere mich, dass ich kein Türkisch konnte und zur türkischen Schule musste. Ich verstand nichts, es war eine andere Kultur. Wir kurdischen Kinder fühlten, dass etwas nicht stimmt, aber wir verstanden es nicht. Sie wollen etwas aus dir machen, was du nicht bist, etwas von deiner Kultur weit entferntes. Und sie erniedrigen dich.“ Sie sei nachhause gekommen und habe ihre Mutter gefragt, warum sie zwar mit ihr Kurdisch sprechen dürfe, aber in der Schule nicht. „Wir wussten, hier war ein Widerspruch. Aber wir begannen es erst mit der PKK zu verstehen.“
Auch als Frau war der Beitritt zur PKK ein Neuanfang. „Es war wie eine zweite Geburt. Die Verhaltensweisen, die wir aus der Familie, der Gesellschaft, dem System kannten, sind ganz anders. Die Perspektive auf Frauen, die Natur und das Leben ist hier ganz verschieden.“ Im System seien Frauen Menschen zweiter Klasse, erklärt Berivan. „Sie werden wie ein Möbelstück angesehen oder wie eine Maschine zur Produktion von Kindern.“
Hier in den Bergen lernten sich die Frauen erst wirklich kennen. „Nachdem wir getreten worden waren, begannen wir hier ein Bewusstsein von uns zu entwickeln und wir merkten, wir können selber Dinge tun. Wir haben unsere Freiheit gefunden und es ist ein gutes Gefühl.“
Sicher, auch das Leben in den Bergen hat seine Schwierigkeiten, gesteht Heval Berivan zu. Aber: „Du erschaffst dich selbst neu. Wenn du all das durchstehst, wird das Bewältigen der Schwierigkeiten sehr leicht für dich. Die Schwierigkeiten machen dich stärker, lebendiger.“
Aus der Bundeswehr in die Berge
Auch aus Deutschland kommen viele hier her. Über Kevin Jochim, den in
Rojava gefallenen Internationalisten mit dem Kampfnamen Dilsoz Bahar,
hören wir die Anekdote, er habe sich so gut kurdisch und türkisch
beigebracht, dass man ihn zur Koordination der Kommunikation zwischen
den Einheiten einsetzte.
Einen, der aus Deutschland gekommen ist, treffen wir direkt vor Ort. Heval Harun ist jetzt seit einem Jahr hier. „Einer aus meiner Familie ist in Rojava als Märtyrer gefallen. Ein Teil meiner Familie ist kurdisch und ich hatte viele kurdische Freunde in Deutschland. Die wollten alle nicht kommen und ich habe mir dann gesagt: Hier wird jede Hilfe benötigt.“ Schießen musste Heval Harun wohl nicht mehr lernen, als er hier ankam. Sechs Jahre diente er als Kommandant einer Spezialeinheit in der Bundeswehr. „In der Guerilla ist alles anders als in der NATO. Dort ist ein Kommandant ein Kommandant und zeigt das auch, das kenn ich ja selber. Hier ist das anders. Hier sind alle gleich. Nur die Aufgaben sind verschieden“, lacht der freundliche, kräftige Mann. Früher hat er für Sold gekämpft, in Afghanistan, im Irak, im Kosovo. Die NATO kämpfe „ohne jede Ideologie, das ist ihr Problem. Sie kämpfen für Geld.“
Harun plagten Zweifel: „Ich habe mir jeden Tag die Frage gestellt, ist das jetzt richtig oder falsch, was ich hier tue. Ich habe mich dann entschieden, nie wieder für Geld zu kämpfen.“ Bereut hat er es nicht. Zurück will er nicht mehr. „Die meisten Leute, die beitreten kommen aus dem kapitalistischen System. Da ändert sich viel, denn damit haben wir hier wenig zu tun.“ Sein altes Leben hat er hinter sich gelassen, auch die Kinder, von denen er hofft, dass sie eines Tages nachkommen können. „Im kapitalistischen System geht es nur um Geld. Wenn du kein Geld hast, bist du nix. Und wenn du viel Geld hast, hast du viele Freunde. Bei uns ist das nicht so.“
Vor den Luftschlägen hat auch er keine Angst: „Ich sag mal so: Wir sind ständig auf Abruf für Camouflage. Wenn jetzt über Funk reinkommt, dass Drohnen oder Kampfjets kommen, dann wird direkt alles abgedeckt. Vor zwei Tagen haben sie dort drüben bombardiert“, sagt er und zeigt in ein benachbartes Tal. „8,9 Bomben haben sie geschmissen, aber da sind keine Leute von uns.“ Und er betont: „Das hier ist unser Platz, da können die uns nix. Klar mit ner F16 können sie Bomben abschmeißen. Aber wenn die hier zu Fuß reinkommen, kommen sie keine zwei Meter weit.“
Dinge, die man nicht erklären kann
„Waffenstillstand, davon kann man zur jetzigen Zeit nicht reden. Klar
ist, Frieden wollen wir alle. Dafür sind wir hier. Aber wir
kapitulieren nicht.“ Militärisch äußern sich hier viele zuversichtlich.
Die Guerilla ist stark und sie hat noch Kapazitäten. Einen Tag bevor wir
nach Kandil gingen, veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG
Videomaterial eines Hubschrauberabschusses – der erste dokumentierte
erfolgreiche Einsatz eines sogenannten Manpacks durch die Guerilla.
Zuvor hatte die Türkei behauptet, der Helikopter sei wegen eines
„technischen Defekts“ abgestürzt.
Nach dem Gespräch mit Heval Harun bewegen wir uns an den Ort, an dem wir später Bese Hozat treffen werden. Heval Hozat ist Ko-Vorsitzende der KCK und damit eine der leitenden Aktivist*innen in der PKK. Sie kommt mit einer Leibwache, doch auch sie hat keinerlei Star-Allüren. Wir erinnern uns an die Zusammenkünfte mit führenden Funktionären der PUK, einer der großen Parteien Südkurdistans. Auch sie waren freundlich zu uns, keine Frage. Doch in ihren prunkvollen Empfangszimmern verriet schon die Ästhetik den Ankommenden: Du bist bei einem wichtigen Mann, der Bedienstete hat und es „zu etwas gebracht hat“, was im Kapitalismus ja als Verdienst gilt. Bese Hozat sitzt auf den selben Plastikstühlen wie wir unter einem Baum und wie alle anderen Guerillas lebt sie hier in den Bergen, derselben Gefahr ausgesetzt. Als wir beginnen wollen, kommt über Funk die Meldung: Die Flieger kommen. Bese Hozat bleibt – im Unterschied zu uns – völlig ruhig, einzig die Fahnen müssen abgenommen werden, die Drohnen könnten sie sehen.
Die KCK-Vorsitzende wie alle anderen, die wir hier treffen, ist schlichtweg und ganz banal ausgedrückt als Person beeindruckend. Es lässt sich nicht wirklich in Worte fassen, aber die selbstverständliche Solidarität, die Gelassenheit, Ruhe und Güte dieser Menschen in jeder Geste, jedem Lachen und jedem Blick, jedem Händedruck verzaubert. Die Umgebung und die Art des Zusammenlebens hat ihre eigenen Persönlichkeiten hervorgebracht. Die Beschreibungen klingen zu kitschig, deshalb muss man es vielleicht einfach mit Heval Berivan sagen: „Man kann das Leben hier nicht vollständig erklären. Man muss es leben.“
Epilog
Heval D. nießt. Ich: sage „Çok yaşa!“, das türkische Pendant zu „Gesundheit!“, das wörtlich „Lebe lang“ bedeutet. „Çok değil… ama güzel“, sagt er und lacht. Nicht lang gilt es zu leben, sondern schön und gut.
– Von Peter Schaber, Foto Willi Effenberer
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