Als ich die Halle des Leipziger Bahnhofs betrete, schallt von irgendwoher ein Schrei, verstärkt durch ein Megafon: „Lügenpresse!“. Ich gucke mich um, niemand. Eine Freundin hatte mich gewarnt, allein im Zug zur Neonazi-Demo in Plauen zu fahren. Es sei zu gefährlich. Ich hielt das für Paranoia. Doch tatsächlich: Als ich auf das Gleis trete, stehen vor mir vierzig Rechte, schwarz gekleidet, Bierflasche, einer hält das Megafon in der Hand.
Ich zögere, dann gehe ich weiter das Gleis entlang. Etwas abseits stehen zwei Polizisten in Schutzwesten. Ich gehe zu ihnen und frage, ob die Rechten alle nach Plauen fahren und ob sie, die Polizisten, mitkommen würden. Der ältere der Beiden antwortet im „Was ist dein Problem?“-Tonfall: „Ja, die fahren da hin und nein, wir fahren nicht mit.“
Ich stelle mich so weit weg von den Rechten, dass ich außer Reichweite
bin. Sie können nicht wissen, dass ich Journalist bin, aber ich gehöre
offensichtlich nicht dazu. Zwei Minuten bevor die S-Bahn einfährt,
stellen sich ein paar von ihnen nah um mich herum. An ihrem
breitspurigen Auftreten kann ich sehen, wie sie meine Verunsicherung
genießen. In der S-Bahn setze ich mich möglichst weit von ihnen weg.
Nach einer Stunde steigen wir in Werdau aus. Ein Böller explodiert mit lautem Krachen auf dem leeren Bahnsteig. Der Zug nach Plauen ist einer dieser kleinen Lokalzüge, mehr Straßenbahn als Regionalexpress mit Endstation in der Provinz. Wenn ich einsteige, ist klar, dass ich zur Demo will und dass ich wohl auf der anderen Seite stehen werde. Ich dachte, ich hätte morgens neutrale Kleidung gewählt – weißes Hemd, graue Stoffhose, Sportschuhe – aber ich bin fehl am Platz. Und zum ersten Mal stelle ich mir in Deutschland die Frage, ob es sicher ist, in einen Zug zu steigen. Wenn ich mich in die kleine Bahn reinsetze, bin ich ausgeliefert, außer mir sind da nur noch ein Rentnerpaar und ein Mountainbiker.
Und dann kommt mir ein Gedanke: So funktioniert politische Gewalt. Wenn ich nicht einsteige, verpasse ich einen Teil der Demo und wenn im nächsten Zug auch Rechte sitzen, hätten sie ihren politischen Gegner, die „Lügenpresse“, matt gesetzt. Nicht im Diskurs, sondern durch physische Einschüchterung. So wie die Jugendlichen im Erzgebirge, die sich nicht mehr frei in ihrem Dorf bewegen, oder das Pärchen, das aus Hoyerswerda fliehen musste. Ich steige ein.
Als der Zug abfährt, schlängelt sich ein schmaler Typ durch seine stehenden Kameraden. Über der Tür zum Führerhaus hängt eine Kamera. Er stellt sich in den toten Winkel, holt einen Aufkleber aus der Tasche, reckt sich hoch und klebt ihn über die Linse. Von Zeit zu Zeit merke ich, wie die Rechten mich mustern, doch nichts passiert. Eine Dreiviertelstunde später sind wir in Plauen.
Lange, vierspurige Straßen gehen vom Bahnhof ab, doch sie sind leer. Keine Passanten, keine Autos. Als hätten alle Plauener die Stadt für den 1. Mai verlassen. Nur hier und da öffnet sich mal ein Fenster, lehnt sich jemand mit einer Zigarette zwischen den Fingern raus, guckt.
Am Bahnhof stellen sich die Rechten auf. Eine Trommler-Gruppe wird unterwiesen, einen Marsch zu spielen, rote T-Shirts mit dem Aufdruck „Deutscher Sozialismus“ und grüne Fahnen mit dem Aufdruck „III. Weg“ werden verteilt. Einer der Demonstranten trägt einen Wehrmachtssoldaten als Tattoo auf der Glatze, ein zweiter den Spruch „Aryan Hope“, ein dritter ein stilisiertes Hakenkreuz auf dem Hals.
Die Mitglieder des „III. Wegs“ verstehen sich als neonazistische Eliteorganisation, ihr Programm: Auflösung der EU, Wiederherstellung Großdeutschlands, ein nationaler Sozialismus.
Vergangenes Jahr veröffentlichten sie einen 23-seitigen Leitfaden: „KEIN ASYLANTENHEIM IN MEINER NACHBARSCHAFT! Wie be- bzw. verhindere ich die Errichtung eines Asylantenheims in meiner Nachbarschaft.“
Es ist eine schrittweise Anleitung, um Proteste zu organisieren:
- Wie gründe ich eine Bürgerinitiative?
- Wie halte ich eine Gründungsveranstaltung ab? („TIPP: Lieber einen kleineren Raum nehmen, der voll ist, als einen großen, der leer ist. Die meisten Räume kriegt man umsonst. Der Wirt verdient am Getränkeverzehr. Legen Sie die Gründungsversammlung nicht auf einen spannenden Fernsehtermin (z.B. Länderspiel)! Günstige Tage sind: Dienstag und Donnerstag. Auch immer an lokale Veranstaltungen denken.“)
- Wie richte ich eine Facebook-Seite ein?
- Wie melde ich eine Demonstration an?
- Wie verhalte ich mich auf einer Bürgerversammlung zum Thema Asylunterkunft? („Tipps zum Diskussionsverhalten: Achten Sie darauf, nicht aggressiv, unfreundlich oder polemisch aufzutreten. Die Diskussion sollte sachlich geführt werden und Sie sollten sich dabei auch durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen lassen.“ Außerdem: „Es empfiehlt sich daher Ton- oder Videoaufnahmen zum Zwecke des Nachweises von der Veranstaltung zu machen und diese dann im Anschluss im Internet zu veröffentlichen.“)
Nationaler Sozialismus hält besorgten Bürgern die Steigbügel und in Sachsen steigen Menschen vierlorts bereitwillig auf dieses Pferd.
Es gibt auf Facebookdutzende Seiten, die gegen Flüchtlingsunterkünfte mobil machen. Auf Youtube reicht es „Bürgerv…“ einzugeben, um den Vorschlag für „Bürgerversammlung Flüchtlinge“ und in der Folge dutzende Videos zu finden. Videos, wie sie vom „III. Weg“ empfohlen wurden.
Auch in Plauen versucht der „III. Weg“, anschlussfähig zu sein. Nach Abmarsch vom Bahnhof gehen die Rechten in geordneten Reihen, rufen Slogans, die an die DDR und Gewerkschaften erinnern: „Arbeiter heraus zum 1. Mai!“ Auf ihren T-Shirts steht: „Arbeit adelt!“ Anderes erinnert an Pegida in Dresden: „Volksvertreter statt Volksverräter!“
Wahrscheinlich ließen sie mich deswegen auf der Hinfahrt im Zug in Ruhe, es sollte eine geordnete Veranstaltung werden. Ob ich auch im Zug hätte zurückfahren können, bezweifele ich, kurze Zeit später bricht die Fassade.
Ich unterhalte mich für einige Minuten mit einem SPD-Politiker auf der bürgerlichen Gegenveranstaltung und schaue bei der Antifa vorbei. Auf dem Weg zurück zu den Rechten lese ich auf Twitter, dass deren Demo gestoppt wurde, nachdem jemand eine Flasche auf einen von ihnen geworfen hat. Als ich ankomme, ist die Situation unübersichtlich. Einige Anwohner und Rechte schreien sich gegenseitig an, abseits stehen Gegendemonstranten und blasen in ihre Trillerpfeifen. Mehrere Fotografen mit Helmen und Gasmasken schwirren umher.
Dann, ohne Vorwarnung, preschen die Rechten auf eine lose Polizeikette los. Sie reißen ihre Fahnenstangen hoch und schlagen damit auf die Polizisten ein. Die versuchen, ihre Reihe zu schließen, sprühen Pfefferspray auf die Angreifer, schubsen und rangeln. Die Rechten ziehen sich drei, vier Meter zurück, doch einzelne stürmen immer wieder vorwärts. Ihre Fahnenstangen sausen nieder.
Ich bringe einen Zaun zwischen mich und die Angreifer. Auf der anderen Seite steht eine Gegendemonstrantin, zeigt den Mittelfinger und bläst in eine Trillerpfeife. Ein Rechter geht zu ihr hin, holt mit einem Kamerastativ aus und schlägt ihr auf den Kopf. Ein zweiter kommt angerannt, schubst sie, ihr Kopf klatscht gegen eine Hauswand, sie bricht bewusstlos zusammen. Am Kopf klafft eine Platzwunde.
Die übrigen Rechten wechseln die Richtung, dutzende stürmen eine Querstraße runter, stoßen vor in Richtung Gegendemonstration, schleudern Flaschen und bengalische Feuer. Ein Stück die Straße runter schneiden Polizisten ihnen den Weg ab, sprühen Pfefferspray. Zwei Wasserwerfer fahren vor, durchnässen die Rechten.
Nach zehn Minuten beruhigt sich die Situation und die Polizei begleitet die Demo zurück zum Bahnhof. Statt mit Trommeln vorne weg und in disziplinierten Viererreihen wie vorher, laufen die Rechten im wütenden Mob. Die Parolen jetzt: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ und „Merkel ins KZ!“
Zurück am Bahnhof zieht sich die Polizei zurück, bildet nur noch einen weiten Kreis um die Demonstranten. Und obwohl die Rechten mehrere Polizisten verletzten, eine Frau niederschlugen und zur Gegendemonstration durchbrechen wollten, dürfen sie vor dem Bahnhof eine Abschlusskundgebung durchführen. Statt Personalienfeststellung, Einkesselung und Festnahmen durch die Polizei, wie man es nach so einer Demo erwarten würde, gibt es belegte Brötchen und Cola und die Organisatoren halten ungestört ihre rassistischen Reden. Die sächsische Polizei scheint Rechten gegenüber nicht nachtragend zu sein.
Am Schluss kommt vom rechten Lautsprecherwagen die Durchsage: „Der nächste Zug fährt um 15.59 Uhr.“ Polizisten werden nicht im Zug sein. Ich auch nicht.
Impressiv
Vielleicht hilft es zum weiteren Verständnis zu diesen Texten zu greifen:
Döring, Uta: Angstzonen : Rechtsdominierte Orte aus medialer und lokaler Sicht;
Verlag für Sozialwissenschaften 2007
Es ist überdeutlich, dass entweder die 1990er Jahre in Bezug auf Neonazis wiederkehren oder
nie vergangen sind.
Für jene Menschen die in Ostdeutschland leben, und in keinen rechten Mainstream passen,
egal ob sie nun People of Colour, Punks, Linke, Muslime oder auch antirassistisch engagierte Christen sind, ist es sicher
sehr schwer dort. Jenseits von Berlin, Potsdam, Leipzig ist es sicher sehr schwer dort.
???
Nicht alle Orte im Osten sind Naziverseucht!
jein
sind sie zwar nicht alle, aber die tendenz ist klar.
darum geht es.
Toll
kann ich mich nur anschliessen
danke!
Bin von Chemnitz aus im Zug angereist
Vielen Dank für den interessanten Bericht. Ich bin sehr früh von Chemnitz aus mit dem Zug angereist, um pünktlich um 9 beim Antifatreffpunkt zu sein. Da waren zum Glück noch keine Nazis unterwegs. Ich war aber sehr froh, dass mich Chemnitzer Genossen mit dem Auto zurück transportiert haben; sächsische Verhältnisse....
Alerta!