Datensammelei der Berliner Polizei im Gefahrengebiet: Anlasslos, unverhältnismäßig, diskriminierend

Erstveröffentlicht: 
08.04.2016

"Gefahrengebiete", "verrufene" oder "kriminalitätsbelastete" Orte: Egal, wie man sie nennt - in ihnen darf die Polizei Maßnahmen wie Identitätsfeststellungen und Personenkontrollen durchzuführen, allein basierend auf deren Aufenthaltsort. Die genauen Voraussetzungen und Eingriffsbefugnisse werden in den jeweiligen Landespolizeigesetzen der Länder geregelt. Aber eines haben sie gemeinsam: Die Unschuldsvermutung und Grundrechte werden außer Kraft gesetzt, dazu gehört auch die informationelle Selbstbestimmung.


Als 2014 in Hamburg große Teile Altonas, St. Paulis und der Sternschanze zum Gefahrengebiet erklärt wurden und eine öffentliche Diskussion aufkam, verfasste der Hamburgische Datenschutzbeauftragte ein Gutachten. In diesem attestierte er deutliche Einschränkungen der informationellen Selbstbestimmung und äußerte "erhebliche Bedenken", ob die Polizeipraxis verfassungsmäßig sei.

In Berlin werden Gefahrengebiete geheim gehalten, "um eine Stigmatisierung der Anwohnerinnen und Anwohner zu vermeiden." Doch das Gebiet rund um die Rigaer Straße ist durch monatelange, dauerhafte Polizeipräsenz und spätestens seit der unverhältnismäßigen Razzia am 13. Januar 2016 öffentlich als Gefahrengebiet erkennbar und war dadurch Gegenstand deutschlandweiter Berichterstattung. Die bis heute andauernden Einsätze richten sich mehrheitlich gegen "die linke Szene" oder das, was Polizei und Senat als solche bezeichnen. Der Berliner Innensenator Frank Henkel von der CDU scheint das Gebiet zum Wahlkampfplatz erklärt zu haben und aus Polizeikreisen heißt es, man beabsichtige, "ein Klima zu schaffen, in dem die Linken von alleine gehen".

Wir haben bei der Berliner Datenschutzbeauftragten gefragt, ob sie eine datenschutzrechtliche Bewertung der Gefahrengebietsproblematik vorgenommen hat. Aber weder liegt eine solche vor noch ist sie geplant. Solange die Voraussetzungen des § 21 Abs. 2 ASOG (Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin) eingehalten werden, "ist die Identitätsfeststellung aus datenschutzrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden."

 

1.883 Identitätsfeststellungen in anderthalb Monaten

 

Ein großes Problem der Personenkontrollen liegt in ihrer schieren Menge. Aus einer Schriftlichen Anfrage der Piraten im Berliner Abgeodnetenhaus ging hervor, dass vom 13. Januar bis zum 29. Februar 2016 1.883 Identitätsfeststellungen im Nordkiez Friedrichshain durchgeführt wurden. Das entspricht etwa 40 pro Tag. Und auch wenn diese Personen weder auffällig geworden sind, geschweigedenn Straftaten begangen haben, werden ihre Daten abgeglichen und im Polizeilichen Landessystem zur Information, Kommunikation und Sachbearbeitung (POLIKS) gespeichert. Ein Sprecher der Innenverwaltung Berlin erklärte gegenüber netzpolitik.org:

 

Die Daten zu den Identitätsfeststellungen werden in POLIKS in Form eines Tätigkeitsberichtes abgespeichert. Die Daten unterliegen hier den gesetzlich festgelegten Löschfristen und werden in der Regel für die Dauer eines Jahres gespeichert.

 

In einer früheren Antwort auf eine Kleine Anfrage hieß es, Daten in POLIKS würden bei "Fällen von geringer Bedeutung" fünf Jahre gespeichert. Wir haben nachgefragt, wie das zustande kommt. Update: Antwort des Innensenats:


Es besteht kein Widerspruch der Angaben in den von Ihnen genannten parlamentarischen Anfragen. Die Antwort 2a zu Drs.-Nr. 17/12356 nennt als Beispiel Prüffristen bei Daten von Tatverdächtigen auf der Grundlage von § 48 Abs. 4 ASOG Bln i.V.m. § 1 PrüffristenVO. Im vorliegenden Fall (Drucksache 17/18089) wurden Identitätsfeststellungen aber nicht unbedingt gegenüber Tatverdächtigen getätigt, sondern auch gegenüber Personen, von denen selbst keine unmittelbare Gefahr ausgeht. Aus diesem Grund ergibt sich für die hier erhobenen personenbezogenen Daten eine kürzere Prüffrist von einem Jahr nach Speicherung auf Grundlage von § 43 Abs. 1 ASOG Bln.

 

Unverhältnismäßige Speicherfristen

 

In Hamburg betrug die Speicherfrist drei Monate. Und schon das kritisierte der Datenschutzbeauftragte als "unverhältnismäßig":

 

Selbst wenn man die Auffassung vertritt, dass eine Speicherung der Daten von Passanten anlässlich von Personenkontrollen im Gefahrengebiet grundsätzlich erfolgen darf, so kann dies nach Maßgabe der Erforderlichkeit nur in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Ausweisung des Gefahrengebiets in Betracht kommen.

 

Laut Innensenat hat die Polizei bei ihren Identitätsfeststellungen Zugriff auf neun verschiedene Datenbanken:

  • POLIKS - Polizeiliches Landessystem zur Information, Kommunikation und Sachbearbeitung
  • VOIS (ehem. EWW) - Verfahren Einwohnerwesen in Berlin
  • AZR - Ausländerzentralregister
  • SIS - Schengener Informationssystem
  • INPOL - Informationssystem der Polizei
  • VISA - Visa-Informationssystem
  • ZEVIS - Zentrales Verkehrs-Informations-System
  • KVA - Kraftfahrzeugzulassungswesen in Berlin
  • NWR - Nationales Waffenregister

Eine Übermittlung von Daten an andere Behörden finde nicht statt. Das heißt längst nicht, dass andere Behörden keinen Zugriff haben. Denn aus einer früheren Anfrage wissen wir:

 

[Es gibt] einen automatisierten Nachrichten- und Informationsaustausch zwischen den Systemen POLIKS und Informationssystem Polizei (INPOL), der aber nicht die Bedeutung eines direkten Zugriffs im Sinne der Fragestellung hat.

 

Zugriff auf INPOL haben BKA, Bundespolizei, Zollbehörden und die Landespolizeien. Daten aus POLIKS können jedoch auch sonst an andere öffentliche und nichtöffentliche Stellen weitergegeben werden.

 

"Wenn alle so rumlaufen würden wie er, würde nix passieren"

 

Bei den Kontrollen in Berliner Gefahrengebieten findet oft noch eine anderer, direkt spürbarer Eingriff in die Privatsphäre der Kontrollierten statt. Neben der anlasslosen Personalienfeststellung ist die Durchsuchung der Personen, die sich in den Gefahrengebieten aufhalten, erlaubt. Laut Aussage des Senats gibt es keine Anweisungen dazu, von "welchen Personen(-gruppen) [...] Identitäten festgestellt oder schwerpunktmäßig festgestellt" werden sollen. Doch die Realität sieht anders aus. Christine Frantz, eine Anwohnerin der Straße, die in Wirklichkeit einen anderen Namen hat, sprach mit uns über die allgegenwärtigen Kontrollen. Ihr 15-jähriger Sohn Frank war vor der eigenen Haustür in einer Gruppe mit Freundinnen und Freunden von der Polizei kontrolliert und durchsucht worden. Ein Großteil der Jugendlichen habe "ein bisschen punkig" ausgesehen, so die Mutter. Sie hat die Szene auf der Straße beobachtet und war dann nach unten gegangen, da sie die Kontrolle der 14- bis 15-Jährigen zuerst für ein Missverständnis hielt. Als sie einen Polizisten nach dem Grund für die Kontrolle fragte, wies dieser auf das Outfit der Jugendlichen hin. Bundeswehr-Jacke, Anarchiezeichen, Mercedessterne. Einer trug Collegejacke und Turnschuhe. "Wenn alle so rumlaufen würden wie er, würde nix passieren", zitiert die Mutter den Polizisten.

 

Pinke Mütze statt Kapuzenpulli

 

"Wir haben nichts getan, außer dass wir hier wohnen. Und das reicht schon aus, um kriminalisiert zu werden", regt sie sich auf. Selbst wenn sich niemand einschüchtern lassen will, an manchen Stellen merke man den Effekt der Kontrollen bereits. Ein Nachbar habe sich mittlerweile eine pinke Mütze gekauft. Immer wenn er nasse Haare hatte und sich deswegen eine schwarze Kapuze aufgezogen hat, müsse er mit Kontrollen rechnen. Auch Frank hat sich schon einmal überlegt, ob er wirklich das T-Shirt mit dem Anarchiezeichen anziehen will - um Stress mit der Polizei aus dem Weg zu gehen. Sind diese Eingriffe in Privatsphäre und andere Grundrechte verhältnismäßig? Christines Antwort ist ganz klar: "Nein." Seit 14 Jahren lebt sie in der Rigaer Straße, ihr ist nie etwas Negatives passiert, außer einigen lauten Abenden im Sommer habe sie nie Probleme mit den linken Projekten in der Straße gehabt. Jetzt stört die Polizei den Nachtschlaf. Die immer wieder um den Block kreisenden Einsatzfahrzeuge erkenne sie mittlerweile bereits am Motor. Christine und viele andere wollen das nicht hinnehmen. Sie klagen gegen die unverhältnismäßigen Maßnahmen. Die Jugendlichen sollen nicht das Gefühl haben müssen, "in einem Polizeistaat zu leben" und "sich alles gefallen lassen zu müssen."

 

Unschuldsvermutung? Grundrechte? Fehlanzeige.

 

Die massenweise erhobenen Personendaten bieten der Polizei die Möglichkeit, sich ein Bild von der Zusammensetzung der Menschen zu machen, die sich in der Rigaer Straße aufhalten. Gerade am Wochenende und rund um Veranstaltungen ist die Polizeipräsenz besonders hoch. Wer hält sich zusammen mit wem wann in der Gegend auf? Wer besucht "szenetypische" Kneipen und Co? Jede Person ist verdächtig. Und in der Datenbank der Berliner Polizei wird das gespeichert, egal, ob von der Person ein Problem ausging. "Das Gefahrenabwehrrecht kennt keine Unschuldsvermutung", sagte der Berliner Polizeisprecher Stefan Redlich nach dem Einsatz am 13. Januar. Und auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sucht man bei den Polizeimaßnahmen in Gefahrengebiet vergebens.

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Dann soll halt der ganze Kiez nur noch mit schwarzem Hoodie aus dem Haus gehen, soll Henkels Schweineapparat doch vor Arbeit kollabieren.

Es gab mal einen Ansatz in einer norddeutschen Stadt in dem kleine Gruppen im Kiez immer wieder freiwillig in die Kontrollen gelaufen sind. Einige Leute sind dabei in ca 5-6 Stunden bis zu 60 mal kontrolliert worden. Die Bullen waren mega genervt und wollten keine Kontrollen mehr durchführen, aber die Aktivist / innen haben auf die Kontrollen bestanden und haben bei nicht erfolgter Kontrolle den Einsatzleiter kontaktiert. Zudem hatten einige Leute Taschen und Rucksäcke mit unheimlich viel Kleinkram und Müll dabei der von den Bullen durchsucht werden musste.

 

Das ganze natürlich mit kosequenter Ausssageverweigerung (Informationelle Selbstbestimmung) wobei die Frage der Bullen "wo kommen Sie her?" bzw "wo wolllen Sie hin" ehr sehr amüsant war.