Die gesichtslosen Toten von Mexico

Erstveröffentlicht: 
28.02.2015

Das Verschwinden von 43 Studenten im mexikanischen Bundesstaat Guerrero sorgt weiter für wütende Proteste in den Straßen des Landes. Ein Ende der Gewalt fordern die Demonstranten, Schluss mit der Korruption, die Aufklärung der Vermisstenfälle

 

Es sind die unzähligen Fälle von verschollenen Personen und die vielen verstümmelten Leichen, deren Identität nie ausfindig gemacht wird, die den Mexikanern so viel Bitterkeit bereiten. Sie verlangen Aufklärung, Würde und Gerechtigkeit für die Opfer. Da der mexikanische Staat hier versagt, nehmen Bürgerorganisationen die Ermittlung der Vermisstenfälle mittlerweile selbst in die Hand. 

Der kleine Mann in seinem großen weißen Transporter redet so leise und monoton, dass man die Lautstärke an seinem Laptop aufdrehen möchte. Richi Soto arbeitet bei der Spurensicherung in Ciudad Juarez. Er ist einer der Protagonisten des Dokumentarfilms "Narcocultura". In dem Film von Shaul Schwarz geht es primär um die gewaltverherrlichende Musikszene, die sich um die mexikanischen Drogenbarone entwickelt hat. Aber auch um die Alltäglichkeit der Gewalt und die Machtlosigkeit der einzelnen Bürger. Sotos Auftritte sind begleitet von Bildern, die mal weinende, mal verzweifelten und mal wütenden Frauen zeigen. Wut und Verzweiflung finden sich auch in den Gesichtern der Menschen, die seit Monaten auf die Straßen Mexikos gehen. "Yo me cansé de México" (Ich hab Mexiko satt), skandieren sie. Im Bundesstaat Guerrero, in dem im letzten Jahr 43 Studenten entführt worden sind, setzten aufgebrachte Demonstranten im November das regionale Parlamentsgebäude in Brand. Solche Aktionen zeigen: Die Wut der Bürger Mexikos richtet sich vor allem gegen den eigenen Staat.


"Nichts ist vorgefallen!"

Im Jahr 2006 kündigte der neugewählte Präsident Felipe Calderon eine Großoffensive gegen das organisierte Verbrechen an. Das Wahlergebnis war äußerst knapp ausgefallen, die Zivilgesellschaft stellte seine Rechtmäßigkeit infrage. Felipe Calderon musste schnell Legitimität für sein Regierungshandeln mobilisieren. Durch den erhöhten Einsatz der Armee sollten die Drogenkartelle sowie die Korruption innerhalb der Polizei bekämpfen werden. Unterstützt durch US-amerikanische Gelder und Geheimdienstaktivitäten tötete das mexikanische Militär während Calderons Regierungszeit 25 der 37 Kartellköpfe. Der Gewalt tat dies keinen Abbruch, im Gegenteil.

Die Festnahmen der sogenannten Capos führten zu einer Aufsplitterung der Kartelle und damit zu einer Zunahme der Bandenkriege. Laut Mexikos aktuellem Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong haben sich in dieser Zeit zwischen 60 und 80 neue Drogengruppen neben den bereits bestehenden Kartellen gebildet. Mexiko entwickelte sich zu einem Schlachtfeld: 150.000 Menschen wurden laut Amnesty International zwischen 2007-2012 vertrieben, über 60 000 Menschen ermordet. Und die Zahl der Vermissten liegt noch viel höher.

Einen Krieg im eigenen Land zu führen, fordert Opfer, auch unbeteiligte Opfer. Da ist es wichtig, nicht den Rückhalt der Bevölkerung zu verlieren. "Es wäre ungerecht, die Regierung Calderóns für die Verwüstung im Land verantwortlich zu machen", so Sergio Aguayo, Politikprofessor am Colegio de México und Mitbegründer der renommierten mexikanischen Tageszeitung La Jornada, "aber die Regierung von Felipe Calderón hat alles getan, um Informationen über diese humanitäre Tragödie der Öffentlichkeit vorzuenthalten".

Erst im August 2010 wurden zum ersten Mal offizielle Zahlen zu den Verbrechen in Mexiko herausgegeben. Sie bezifferten die Hinrichtungen in Verbindung mit dem organisierten Verbrechen. Schon im Januar 2011 gab die Regierung keine weiteren Daten mehr heraus. "Das ist eine Art Negierung der Zustände in Mexiko. Damit wird gesagt: ‚Nichts ist vorgefallen‘", so Aguayo.

Der Großteil der Morde sind auf das organisierte Verbrechen zurückzuführen, aber auch staatliche Sicherheitskräfte sind involviert, schreibt Amnesty International. Seit langem existieren Vorwürfe gegen Polizei und Armee wegen willkürlichen Festnahmen, Folter und Hinrichtungen. In den offiziellen Zahlen von 2010 fanden sich zu den Opfern durch Armee und Polizei keine Angaben.

"In seinen Reden sprach Calderon davon, dass der Kampf gegen das organisierte Verbrechen auch Menschenleben kosten wird. Durch das Zurückhalten von Informationen über die Opfern werden diese unmenschlich gemacht, und die Täter werden als jemand gesehen, der nur seine Aufgaben erfüllte", erklärt Aguayo. Zudem sprach Calderon stets in der Wir-Form. Damit verteilte er die Verantwortung auf den Staat, die Kriminellen, seine Kritiker und auch die Opfer, so Aguayo.

 

Hat ein Toter kein Gesicht, hat er auch kein Recht

Weitaus gravierender als die Zahl der illegalen Hinrichtungen, ist die der vielen Toten ohne Identität. 15 921 nicht identifizierbare Kadaver sind laut Amnesty International allein im Jahr 2012 in die Morguen eingeliefert worden. Verstümmelt, verbrannt, unkenntlich gemacht. Die meisten dieser Fälle bleiben ohne Aufklärung, die Identität der Opfer bleibt unbekannt, die Verschwundenen bleiben verschwunden, und die Angehörigen bleiben im Dunkeln über das Schicksal ihrer Vermissten.

Hat ein Opfer keine Identität mehr, ist es schwieriger den Täter ausfindig zu machen und vor Gericht zu stellen. Vielen staatlichen Einrichtungen ist das gar nicht so unlieb, wenn Anklagen verschleppt oder gleich verweigert werden. Nicht nur wegen der hohen Korruption und der Verbindung von Staatsmännern und organisierten Banden, wie jüngst im Fall der 43 Studenten wieder deutlich wurde, sondern auch in den Fällen, in denen Verbrechen von Seiten der staatlichen Sicherheitskräfte begangen wurden.

Laut einem internen Bericht des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der amerika21 vorliegt, führen nur zwei Prozent aller Delikte zu einer Verurteilung. Es bestünden "grundsätzliche Zweifel, ob mexikanische Regierungsstellen in der Lage sind, ihrer Schutzverantwortung nachzukommen", schreib das BMZ.


Vermisstensuche im Behördendschungel

Doch Korruption und willkürliche Rechtsverschleppung sind nicht der einzige Grund für die mangelnde Aufklärung der Vermisstenfälle. Wenn jemand in Mexiko ein Familienmitglied sucht, muss er durch verschiedene Behörden, die der Gemeinde, des Bundesstaates und die vom Bund, in der Hoffnung, in einer dieser Einrichtungen Informationen über den Vermissten zu finden.

Mexiko ist ein föderaler Staat, oft ist es nicht geklärt, wer einer Vermisstenmeldung nachgeht, die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates oder die der Republik. Wenn die Informationen, die bei der Aufgabe eine Vermisstenanzeigen gemacht wurden, nicht deutlich genug sind, geschieht es oft, dass die Fälle zwischen bundesstaatlicher Behörde und Bundesbehörden hin. und hergeschoben und nicht bearbeitet werden, erzählt Edgar Cortez, vom Mexikanischen Institut für Menschenrechte und Demokratie (Imdhd).

Mangelnde Koordination und ungeklärten Zuständigkeit enden in einer Art Kampf um die Kompetenzen. Denn eigentlich gibt es zu viele Einrichtungen, die mit dem Thema betraut sind. Im Fall der 43 Studenten kamen die Kommission für die Opferbetreuung, die nationale Kommission für Menschenrechte (CNDH), das Regierungssekretariat und diverse andere bundesstaatliche und staatliche Einrichtungen auf die Familienangehörigen zu, erzählt Cortez. Für die Familien war es schwierig zu verstehen, wer ihnen jetzt wirklich helfen konnte. Sie hatten nicht das Gefühl, auf diesem Weg eine schnelle und effiziente Aufklärung zu bekommen also haben sie erst einmal abgeblockt. Erst kürzlich haben sie wieder Kontakt mit den CNDH aufgenommen.

Außerdem mangelt es an Ressourcen. Die Kommission für die Opferbetreuung hat ein Büro in Mexiko Stadt und einige in den einzelnen Bundesstaaten. Doch das sind lange nicht genug, so Cortez. "Soweit ich weiß hat die Kommission nur 50 Anwälte. Es bräuchte mehrere Hunderte bis Tausend Anwälte, um den Angehörigen den ihnen zustehende juristischen Beistand bieten zu können." Zudem fehlt weiterhin ein einheitliches System, welches die Informationen über die Vermissten sammelt, besonders ein nationales Register welches die Daten der Verschwundenen mit einer genetischen Datenbank der verstümmelten Körper abgleicht, beklagt Cortez.


Bürgerorganisationen übernehmen

All diese Faktoren haben dazu geführt, dass sich Bürgerorganisationen gebildet haben, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wenn die Familie Rückendeckung durch die Organisationen bekommen, dann wir der Druck auf die Staatsanwaltschaft größer, die Fälle tatsächlich zu untersuchen, und Ergebnisse zu liefern. Da es auch bei den Staatsanwälten an Kapazitäten mangelt, haben sie angefangen, auf eigene Faust Daten zu sammeln. Im Gegensatz zu den staatlichen Einrichtungen machen sie Feldarbeit.

Sie reden mit Familienangehörigen, Bekannten, oder mit den lokalen Medien und legen selbst kleine Datenbanken an. Denn je mehr Daten gesammelt werden, umso besser kann die Staatsanwaltschaft arbeiten. Viele der Organisationen kämpfen gegen die Zeit. Ein Rechtsverfahren kann vier bis fünf Jahre an, ohne, dass Resultate hervorgebracht werden. Das ist nicht nur emotional aufreibend, sondern auch ökonomisch. Die Organisationen müssen versuchen, immer wieder Mittel aufzutreiben, damit sie sie die Prozesse über die lange Zeit weiter begleiten können.

Die Geschehnisse in Iguala haben die Arbeit der Organisationen auf eine neue Ebene gehoben. Es gibt immer mehr Versuche, Alternativen zu dem kaputten Staatstrukturen zu schaffen. Beispielsweise die Nationale Volksversammlung (ANP), die im Bundesstaat Guerrero aus Teilen der Lehrer- und Studentenschaft Ayotzinapas und verschiedenen sozialen Organisationen gegründete wurde. Anfang Dezember beschloss die ANP eine Nationale Agenda, in welcher als Hauptziel die Umsetzung von autonome Regierungsformen im ganzen Land angegeben ist.

Nachdem Anfang des Jahres die Regierung immer noch keine glaubhaften Informationen über das Schicksal der 43 Studenten lieferte, beschloss die ANP bei ihrem 6. Treffen Anfang Januar, an dem auch Familienangehörige der vermissten Studenten teilnahmen, eine koordinierte Bürgersuche nach den 43 zu starten. Das stellte sich als weitsichtig heraus. Nur wenige Wochen später, am 27. Januar erklärte Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam die Studenten für tot. Ein Mitglied der Drogenbande Los Guerreros Unidos sei festgenommen worden. Wird damit die Akte Iguala endgültig zugeschlagen?

Zugeschlagen wird auch der Deckel eines weißen Pappkartons, den der Kriminaltechniker Soto in das Regal der Spurensicherung schiebt. Kannst du uns erzählen, was mit dem Körper vom Dienstag passiert ist?, fragt eine Stimme hinter der Kamera. Soto lächelt traurig und macht ein Zeichen mit der Hand: Kamera aus. Ein kleines, bescheidenes Männchen in einem Internetvideo, das man schließlich traurig wegklickt. Zugeschlagen wurden auch die Zeitungen, die eine AP-Nachricht vom 6. Oktober nachdruckten.

Darin wurde von dem Fund von 28 der Studenten in einem Massengrab in der Nähe von Iguala berichtet wurde. DNA-Untersuchungen ergaben, dass es sich bei den gefolterten und verkohlten Körpern nicht um die vermissten Studenten handelt. Ärgerlich, damit hätte Mexikos aktueller Präsident Peña Nieto ein vorzeigbares Ergebnis gehabt, so ging die Suche erst einmal weiter. Keiner hat jemals wieder nach den 28 anderen Körpern gefragt.

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