Der VICE Guide zu Deutschlands „Gefahrengebieten“

Erstveröffentlicht: 
10.01.2014

Seit die Hamburger Polizei letzten Samstag Teile der Innenstadt zum Gefahrengebiet erklärt hat, in dem sie „verdachtsunabhängige Kontrollen“ durchführen darf (die Gebiete wurden mittlerweile etwas verkleinert), sind bereits mehr als 400 Menschen dort kontrolliert worden (auch wenn einige es ziemlich darauf angelegt hatten). Einer der Hauptgründe für das Notstandsgesetz waren die „Anschläge“ auf die Davidwache auf der Reeperbahn gewesen, bei denen einem Polizisten angeblich mit einem Stein der Kiefer und die Nase zertrümmert wurden. Mittlerweile hat sich aber herausgestellt, dass diese Anschläge so nie stattgefunden haben: Nachdem ein Rechtsanwalt und ein Augenzeuge die Version der Polizei in Frage gestellt haben, musste schließlich sogar der Polizeisprecher zugeben, dass dort kein Polizist verletzt worden war. 

 

Trotzdem hat sich die Geschichte vom Anschlag derart verbreitet, dass der Generalbundesanwalt prüfen will, ob es sich um ein Staatsschutzdelikt handelt—kurz gesagt: Terrorismus. Jetzt fordern Polizeigewerkschaften von Hamburg bis Düsseldorf Elektroschocker oder legitimieren den Gebrauch von Schusswaffen, als ob sich in Deutschland kein Polizist mehr auf die Straße trauen könnte, ohne von einer Horde tollwütiger Autonomer zerfleischt zu werden.

 

Keine Frage, ein Stein auf den Helm ist unangenehm. Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass die Polizei auch alles andere als zimperlich sein kann, wenn es darum geht, ihr Gewaltmonopol durchzusetzen. Laut Amnesty International gibt es in Deutschland zwar keine systematische Polizeigewalt, aber eine hohe Zahl von Einzelfällen. Vom kontrollierten Rippenbruch bis zum Tod durch zwölf Pistolenschüsse kann einem alles Mögliche passieren. Und danach hast du so gut wie keine Chance, gegen einen Polizisten Recht zu bekommen. 95 Prozent der wegen Körperverletzung im Amt eingeleiteten Strafverfahren gegen Polizisten werden eingestellt, dafür stehen deine Chancen ziemlich gut, im Gegenzug von dem Polizisten angezeigt zu werden. Also pass besser genau auf, wenn du dich in den folgenden Gefahrengebieten befindest:

 

Die Demonstration um die Rote Flora am 21. Dezember hatte noch gar nicht angefangen, da wurde sie bereits von der Polizei gestoppt und mit Wasserwerfern und Pfefferspray angegriffen. Angeblich weil die Demonstranten gewalttätig geworden seien. Ungereimtheiten in der polizeilichen Darstellung und zahlreiche Augenzeugenberichte deuten jedoch darauf hin, dass die mitunter heftigen Angriffe auf die Polizei erst als Reaktion auf die Polizeiblockade losgingen. Das heißt, die Blockade hatte keinen anderen Grund, als eine angemeldete Demonstration zu verhindern.

 

Das wurde mittlerweile in einem Interview bestätigt, das die taz mit einem Polizisten führte. „Die Versammlung sollte nie stattfinden und wurde von der Polizei gezielt gewalttätig gemacht“, erklärt der Beamte. Bei den anschließenden Auseinandersetzungen wurden laut linken Gruppen 500 Demonstranten verletzt, 20 davon schwer. Eine Vorstellung vom Vorgehen der Einsatzkräfte kann man sich in diesem Interview einer Anwohnerin machen, die erzählt, wie mehrere Polizisten sich mit voller Wucht auf einen auf den Boden geschleuderten Demonstranten werfen, der bereits beim Aufprall das Bewusstsein verloren hatte. Laut Polizei sind bei der ganzen Aktion aber nur genau zwei Demonstranten verletzt worden, gegenüber circa 160 Beamten. Dazu der Polizist in der taz: „Ich weiß von einem Arzt, dass die Polizei in die Krankenhäuser gefahren ist, um Mitarbeiter unter Druck zu setzen, nichts über die Verletzten und ihre Wahrnehmung des Geschehens mitzuteilen.“

 

Die gezielte Desinformationskampagne der Polizei setzte sich im frei erfundenen Angriff auf die Davidwache und den damit begründeten Gefahrenzonen weiter fort. Dieser Erfahrungsbericht zeigt, dass sie damit sogar bei den Anwohnern der betroffenen Viertel Erfolg haben.

 

Dessau sollte eigentlich als Geburtsort des Bauhaus berühmt sein, oder dafür, dass der Komponist Kurt Weil hierher kommt, der Bertolt Brechts Dreigroschenoper vertont hat. Seit dem 7. Januar 2005 ist die Stadt aber auch als der Ort bekannt, an dem der Afrikaner Oury Jalloh unter ungeklärten Umständen in einer Zelle des Polizeireviers bei lebendigem Leibe verbrannte. Die Polizei behauptete später, der Asylbewerber aus Sierra Leone habe sich selbst angezündet.

 

Allerdings hatte Jalloh erstens kein Feuerzeug bei sich, und zweitens war er an Händen und Füßen mit Handschellen gefesselt worden. Noch unappetitlicher ist die Tatsache, dass sein Verbrennungstod überhaupt erst bemerkt wurde, als Angehörige beim Begräbnis den Sarg aufbrachen und seine verkohlte Leiche entdeckten: Die Behörden hatten ihn anscheinend still und schweigend unter die Erde bringen wollen. 

 

In allen folgenden Prozessen gingen die Gerichte davon aus, dass Jalloh sich irgendwie selbst angezündet hatte, obwohl es zu so vielen Ungereimtheiten in der Beweisführung gekommen war, dass der Vorsitzende Richter klagte, die Polizeibeamten hätten „eine Aufklärung verunmöglicht“. Der Wikipedia-Eintrag zu dem Fall lässt einen am Rechtsstaat zweifeln. Nach endlosen Verhandlungen wurde der Dienstgruppenleiter des Reviers schließlich 2012 wegen „fahrlässiger Tötung“ zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er es versäumt habe, Jalloh schneller zu helfen.

 

Dass die Sache aber auch ziemlich anders gelaufen sein könnte, zeigt ein von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh bezahltes Brandgutachten, laut dem der tödliche Brand „nur durch den Einsatz von zwei bis fünf Litern eines Brandbeschleunigers möglich gewesen ist.“ Erst nach der Veröffentlichung dieses Gutachtens kündigte die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau neue Untersuchungen an. 

 

Falls du jetzt gedacht hast, dass so etwas vielleicht einem Schwarzen in Dessau passieren kann, dir in deinem beschaulich bürgerlichen Milieu aber nicht, dann solltest du dich ein bisschen mit dem 30. September 2010 beschäftigen. An dem Tag hatten mehrere tausend Demonstranten im Schlosspark neben dem Stuttgarter Hauptbahnhof eine Sitzblockade gebildet, um den Fortschritt der Abrissarbeiten zum Grossprojekt Stuttgart 21 zu verhindern.

 

Die Polizei hatte andere Pläne. Unterstützt von Einheiten aus Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen sowie der Bundespolizei machten die Beamten sich daran, die ungehorsamen „Wutbürger“ aus dem Park zu prügeln. Als die sich vor allem mit von den Bäumen gefallenen Kastanien zur Wehr setzten, reagierten die Beamten, indem sie Demonstranten mit Schlagstöcken verprügelten, sie in Pfefferspray ertränkten oder ihnen mit Wasserwerfern die Augen aus dem Kopf schossen. „Ich habe mich total ausgeliefert gefühlt, ohnmächtig“, gab ein pensionierter Richter zu Protokoll.

 

Die Bilanz des Tages: 400 Verletzte inklusive Minderjähriger, und 380 Strafanzeigen gegen Polizisten. Übrig blieben immerhin fünf Gerichtsverfahren, alle wegen Körperverletzung im Amt. Und bei den Stuttgartern die Lektion, dass sie es sich in Zukunft zweimal überlegen, bevor sie sich mit ihrer Polizei anlegen.

 

Schneeberg passt eigentlich überhaupt nicht in diese Reihe, weil man der Polizei hier eigentlich gar nicht aus dem Weg gehen muss. Das Problem ist hier eher andersherum: Man muss die Polizei finden, die sich in den entscheidenden Momenten nicht am richtigen Ort befindet: nämlich dann, wenn die Nazis ungemütlich werden. 

 

Das ist zwar eine sehr subjektive Erfahrung von meinem Ausflug ins sächsische Weihnachtsparadies. Aber aus Gesprächen mit Anwohnern und lokalen Aktivisten weiß ich, dass es für die Nazis hier im „Kernland der NSU“ alles andere als schwierig ist, eine ständige Bedrohungslage für Andersdenkende und Ausländer aufrechtzuerhalten. 

 

Gut möglich, dass das Personal der sächsischen Polizei nicht immer ausreicht, um überall permanent für Sicherheit zu sorgen. Aber wenn von den 1000 Polizisten, die die Antifa-Demo wortwörtlich auf Schritt und Tritt begleiteten, beim Naziaufmarsch über lange Strecken plötzlich kein einziger mehr zu sehen ist, kann man sich schon fragen, ob mit dem Gleichgewichtsgefühl der Beamten irgendwas nicht stimmt. „Aber nicht, dass es wieder heißt, die Polizei in Sachsen ist auf dem rechten Auge blind!“, wie uns der freundliche Beamte im Krankenhaus später ermahnte. Warum auch? 

 

Die Berliner Polizisten gelten gemeinhin nicht als die härtesten Cops der Bundesrepublik, soviel Furcht und Schrecken wie ihre Kollegen aus Bayern (zu denen kommen wir auch gleich) verbreiten sie lange nicht. Dafür scheinen sie aber extrem schreckhaft zu sein, was in Kombination mit geladenen Schusswaffen ziemlich gefährlich werden kann. In den letzten Jahren haben das vor allem psychisch instabile Menschen zu spüren bekommen.

 

2008 tötete ein Berliner Polizist in Schönfließ einen zugekoksten Kleinkriminellen mit acht Schüssen, weil der in einem gestohlenen Jaguar flüchten wollte. Im August 2011 erschossen Polizisten eine psychisch verwirrte 53-Jährige in ihrer Wohnung in Reinickendorf, die mit einem Messer auf einen Beamten losgegangen war. Am 6. Oktober 2012 schossen Beamte einem mit einem Beil im Wedding herumirrenden Mann in die Beine und in den Bauch, bevor sie ihn dann mit Schlagstöcken, Pfefferspray, Nackentritten und Hundebissen bearbeiteten, bis der Notarzt kam. Der Mann erlag einige Tage später seinen Schussverletzungen. Und letzten Sommer schließlich wurde ein Schizophrener, der nackt mit einem Messer im Neptunbrunnen herumlief durch einen Schuss in die Brust getötet. 

 

In jedem dieser Fälle kamen starke Zweifel auf, ob Schüsse wirklich die einzige Möglichkeit waren, die Personen ruhig zu stellen. Und bei jedem kam die Frage auf, warum nicht das SEK gerufen wurde, das für derartige Fälle ausgebildet ist. Bis die Streifenpolizisten in Berlin sich das angewöhnen, sollte man aber extrem behutsam mit ihnen umgehen, und auf gar keinen Fall sollte man Messer in der Hand haben, wenn sie um die Ecke kommen. 

 

Bayern ist für Polizisten so etwas wie Jerusalem für die Kreuzritter im 11. Jahrhundert: das gelobte Land, in dem man nach Belieben rauben, morden und brandschatzen kann, ohne dass man sich je dafür verantworten müsste. In Bayern prügeln und schießen sich die Polizisten so oft in die Nachrichten, dass die Süddeutsche einen eigenen Ticker dafür eingerichtet hat.

 

Der berühmteste Fall ist vielleicht der von Tennessee Eisenberg. Der psychisch labile Berufsschüler wurde von Regensburger Polizisten mit zwölf Kugeln erschossen, angeblich aus Notwehr. Dass sich später herausstellte, dass die ersten drei Schüsse Tennessee von hinten trafen, wurde im Ermittlungsverfahren nicht zur Kenntnis genommen: keiner der Polizisten wurde angeklagt.  

Im November 2010 prügelten Polizisten eine ganze Familie krankenhausreif, obwohl die Beamten eigentlich nach jemand anderem suchten. Für Familie Eder endete der Hausbesuch in einer Woche Krankenhaus, gefolgt von Anzeigen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Das Verhalten der Beamten wurde nie auch nur untersucht.

 

Sie hatten aber auch Pech mit ihren Polizisten: deren Vorgesetzter, der Chef der Rosenheimer Polizei, war ein paar Tage davor suspendiert worden. Er hatte einen am Rücken gefesselten 15-Jährigen mehrere Male so hart mit dem Kopf gegen die Wand des Polizeireviers geschlagen, dass dem zwei Zähne rausbrachen. Dummerweise war die Mutter des Jungen gerade reingekommen und konnte so zumindest ihre Aussage gegen die des Chefs stellen.

 

Bayerische Polizeireviere sind sowieso gefährlich: so für die 59-Jährige, die in einer Polizeiwache dolmetschen sollte und nach zwei Stunden mit Beulen, Blutergüssen und in Todesangst vollgepinkelter Hose wieder auf die Straße taumelte. Oder Teresa Z., die die Polizei zum Schutz vor ihrem Freund gerufen hatte und sich aber kurz darauf gefesselt auf einer Pritsche wiederfand, wo ihr ein Polizist dann so fest ins Gesicht schlug, dass er ihr die Nase und den Augenhöhlenbogen brach—natürlich aus „Notwehr“.  

 

Wer noch mehr über die Heldentaten der bayerischen Polizei (inkl. kollektiver Nacktdurchsuchungen von Schulkindern!) erfahren will, kann das hier tun. Wenn ihr selbst mal in Bayern seid, haltet euch einfach an ein paar einfache Regeln: keine Hoodies nach Sonnenuntergang, keine Dreadlocks, und wenn Polizisten vorbeigehen: Augen fest auf den Boden und unauffällig die Straßenseite wechseln.

 

Viel Glück!

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