„Eine Nation sucht ihre Mörder...“ Aufruf zum autonomen Antifablock auf der Demo „Rassismus entgegentreten, Faschismus bekämpfen, Verfassungsschutz auflösen“ am 03. November in Hamburg
Im November 2011 wurde bekannt was für viele Menschen, ebenso für Bullen, Politik und Presse lange Zeit unglaublich schien: Über Jahre zog eine Gruppe Thüringer Neonazis mordend durch ganz Deutschland. Sie organisierte ihr Geld mit Banküberfällen, aber auch mithilfe guter Kontakte zu Mitgliedern der NPD und Freier Kameradschaften und so indirekt durch die behördliche Finanzierung von Spitzeln und V-Leuten.
Die allgemeine Diskussion über die, in einem "Sicherheitsstaat" wie
Deutschland als unmöglich angenommene Professionalität der Mordserie,
ließ dabei sowohl die Motive der Täter_innen als auch die Geschichten
der Opfer schnell aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden. Statt
dessen überboten sich die Verantwortlichen mit Vorschlägen zu
sicherheitspolitischen Gegenmaßnahmen. Um diesem Diskurs um die NSU
entgegenzutreten, rufen wir dazu auf, sich ein Jahr nach dem
Bekanntwerden des 13- Jahre andauernden Morden des
„Nationalsozialistischen Untergrunds“, mit uns an der Demo am 03.
November in Hamburg zu beteiligen.
Politische Camouflage statt Ursachenforschung
Durch die parteipolitische Instrumentalisierung wurde die Geschichte der
Neonazis Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos im letzten Jahr recht schnell
in das aktuelle Schema der Extremismustheorie eingefügt. So warnte
Kanzlerin Merkel im November 2011, man solle „immer wieder wachsam sein,
gegen jede Form von Extremismus“. Im Zuge einer immer deutlicheren
Entideologisierung der Vorgänge scheinen von der parlamentarischen
Politik dabei bisher nur fragwürdige Mittel gegen die angeblich völlig
überraschende rechte Gewalt ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden. Die
Ausweitung staatlicher Überwachung und Kontrolle, eine oberflächliche
Reformierung der Geheimdienste und ein „Abwehrzentrum gegen
Rechtsextremismus“ gehören dabei zu ihren Paradestücken.
Was die Rolle der Geheimdienste angeht scheint ihre „Salamitaktik“,
welche Skandale in nahezu unüberschaubarer Menge, scheibchenweise
liefert aufzugehen. Eine erschreckende Neuigkeit über Unzulänglichkeiten
und Aufklärungsunwillen des Verfassungsschutzes jagt dabei die nächste
und dennoch reicht in dieser Flut keine neue Schlagzeile wirklich aus,
um das Gesamtbild des Geschehenen noch schockierender zu machen. Die
Frage nach der ideologischen Triebfeder der Taten scheint jedoch im
Angesicht der rein kriminalistischen Aufklärung und Entpolitisierung
keine Rolle mehr zu spielen.
Die gezielte Vernichtung von Leben war die letzte Konsequenz einer
durch und durch rassistische Ideologie der Täter_innen. Rassismus als
Motiv dieser Morde klar zu benennen bedeutet auch, die vermeintliche
Unschuld und Verantwortungslosigkeit einer rassistischen deutschen
Politik und einer rassistischen deutschen Gesellschaft immer wieder laut
zu in Frage zu stellen.
Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus sind in Deutschland nicht im
geringsten militanten Neonazis vorbehalten, sondern in der
Gesellschaft weit verbreitete Phänomene. Der alltägliche Rassismus als
Phänomen der deutschen Mehrheitsgesellschaft hat seit der Wende nicht
nur die Progrome von Hoyerswerda und Rostock sowie die Anschläge von
Mölln und Solingen, sondern ebenso mehr als 180 Todesopfer mit zu
verantworten. Dieser Rassismus äußert sich zur Zeit in der Mobilmachung
gegen die Flüchtlingsheime in Wolgast und Leipzig-Waren.
Nicht nur für die Täter_innen der NSU, sondern auch für Millionen andere
Menschen in diesem Land gelten die Opfer der Morde vornehmlich als
"Nicht-Deutsche", als „Fremde“. Derlei Einstellungen bezeugen die enge
Komplizenschaft der sich ein Großteil der deutschen Gesellschaft
mitschuldig macht, auch ohne den Abzug einer Waffe zu betätigen. Den
aktuellen Diskurs um die Lebensläufe und Persönlichkeiten der
Täter_innen gilt es, durch eine längst überfällige Auseinandersetzung
mit deren auch in der Mehrheitsgesellschaft weit verbreiteten
menschenverachtenden Motiven zu ersetzen.
Die Unerträglichkeit des Normalzustandes
Die Skrupellosigkeit organisierter deutscher Neonazis, der breite
rassistische Konsens der hiesigen Gesellschaft und der
menschenverachtende Charakter der deutschen Politik zeigen sich als drei
Teile eines eng verzahnten Systems rassistischer Ideologie. Dem
öffentlichen Interesse, die mordenden Nazis durch Reden von Extremismus
und Ausnahmen, weitab der deutschen Politik und Gesellschaft zu
verorten, muss unbedingt widersprochen werden. Auf der einen Seite der
Staat der rassistischen Sondergesetze auf der anderen Seite die
rassistischen Morde: das sind die zwei Seiten einer Medaille. Hier
werden der selben Idee unterschiedliche Praxen gewidmet.
Die Neonazis der NSU standen, wie viele ihrer auch öffentlich agierenden
Mitstreiter_innen nie außerhalb der deutschen Gesellschaft, weder vor
noch nach ihrem Untertauchen. Die Leugnung dieser Tatsache gehört zum
festen Repertoire staatstragender Politik, und doch sind die
Verbindungen alles andere als schwer zu erkennen. Von „Du bist
Deutschland“ ist der Sprung zum „Ich bin stolz, Deutscher zu sein“
ebenso leicht wie von der plakativen Attitüde doch „nur“ etwas gegen
„kriminelle Ausländer“ in Deutschland zu haben. Oder der als
Meinungsfreiheit ausgelegten „Das wird man ja noch sagen
dürfen“-Mentalität hin zum gesellschaftlich verpönten „Ausländer raus!“.
Neonazistische Gewalt wie sie in großen Teilen Deutschland
Tagesgeschehen und nicht Ausnahme ist, kann nicht ohne die Rückendeckung
einer Bevölkerung funktionieren, die diese Gewalt als Normalzustand
trägt und durch Stammtischrassismus, einen vermeintlich „gesunden“ Stolz
auf die Nation oder auch durch Desinteresse und Schweigen Rückhalt
gibt. Die obligatorische und oberflächliche Distanzierung von der
körperlichen Gewalt der Neonazis wird als Argument zur Abgrenzung von
diesen genutzt. Die alltägliche Gewalt der Mehrheitsgesellschaft ist in
rassistischer Sprache, in Stereotypen und sozialer Ausgrenzung
aufgehoben und findet ihren staatlichen Ausdruck in rassistischen
Sondergesetze.
Die zahlreichen Institutionen deutscher Politik tun dabei einiges dafür
ein Bild Deutschlands als multikulturelle Einheit entwerfen, in welcher
alle die es nur wollen und sich der Verwertung zur Verfügung stellen,
einen Platz zu haben. Die Realität zeigt aber, dass dieses von
„Bedingungen“ und „Anforderungen“ geprägte Bild des
Deutschland-Marketings schöner Schein bleibt. Der institutionelle
Rassismus des deutschen Staates ist vielmehr ein wichtiger Teil
deutschen Alltags. Die unmenschliche Unterbringung von Geflüchteten bis
zu ihrer Abschiebung in Armut, Verfolgung und Tod sind dabei eine Seite
einer rassistischen Praxis, welche sich auf der anderen Seite durch die
faktische Weigerung zur historischen Aufarbeitung der eigenen
Vergangenheit und das Ziehen von Konsequenzen wie es das bedingungslose
und uneingeschränkte Recht auf Asyl und Einreise wäre, deckt.
Ebenso wie die nur schemenhafte Aufarbeitung der kolonialen
Vergangenheit erweckt auch der Umgang mit der nationalsozialistischen
deutschen Geschichte den Eindruck, vielmehr erzwungenen Eingeständnissen
als tiefgreifenden Einsichten geschuldet zu sein. Das Grundrecht auf
Asyl als Konsequenz der politischen Verfolgung im Nationalsozialismus
ist heute de facto abgeschafft. In der massenhaften Abschiebung und
institutionalisierten Diskriminierung zehntausender Roma und Sinti setzt
sich als ein Stück deutschen Staatsrassismus fort.
Deutschland hat sich mit seinen rassistischen Verbrechen arrangiert und
sie als überwundenes Kapitel der eigenen Identität abgehakt. Sporadische
Eingeständnisse wie Denkmäler und öffentliche Sühne gehen einher mit
einer geschichtslosen politischen Praxis. Teil des Umgangs mit der nicht
zu leugnenden Geschichte ist das staatliche Dogma eines vielerorts
inhaltsleeren Prestige-Antifaschismus, der über die Illusion eines
etwaigen „Aufstands der Anständigen“ nicht hinaus kommt. Warum dies in
letzter Instanz nur inkonsequent sein kann, liegt auf der Hand, denn die
radikale Kritik an dem, was die Standbeine des Neonazismus sind, käme
der Delegitimation der eigenen deutschen Identität gleich. Wer vom
Patriotismus nicht sprechen will, muss eben auch vom Nationalismus
schweigen. Wer rassistisch selektiert und Staatsbürgerschaften nach
Stammbäumen verteilt, dem wird auch eine ernstzunehmende Kritik am
Rassismus nicht möglich sein. Übrig bleiben Leuchtfeuer wie „Gegen
Rechts-Konzerte“, Phrasen und der plakative Versuch das „Übertriebene“
vom „Wohldosierten“ zu trennen. Ein Staat, der seine eigene strukturelle
Gewalt verleugnet, kann sich in Folge dessen nur öffentlichkeitswirksam
mit der direkten Gewalt von Neonazis, nicht aber mit deren
ideologischen Fundamenten auseinandersetzen.
Konsequenzen ziehen...
Für uns kann das rassistische Kontinuum in diesem Land nur Eines
bedeuten: die Fortsetzung einer radikalen Gesellschaftskritik anstelle
einer gefälligen Anti-Naziarbeit sowie den Beweis für den dringenden
Bedarf an einem konsequenten Antifaschismus, der sich gerade in der
täglichen Praxis umsetzt.
Wir sind nicht einfach gegen die alten und die neuen Nazis, wir sind
ebenso radikal gegen die deutschen Zustände welche neonazistischen
Rassismus und Nationalismus durch Patriotismus und Deutschtümelei,
durch den Glaube an das Volk und Diskussionen um den Wert von
Migrant_innen sowie durch die Kriminalisierung des radikalen
Antifaschismus gesellschaftlich decken und inhaltlich bedienen. Dort, wo
das Interesse am Deckeln eines Problems größer ist, als die
Anstrengungen, die unternommen werden, es einzugestehen, wo weder
staatliche Institutionen noch die breite deutsche Gesellschaft ihren
glaubwürdigen Willen zu einem echten Bruch mit den ideologischen Wurzeln
des militanten Neonazismus beweisen, dort gibt es eine
gesamtgesellschaftliche Verantwortlichkeit für die rassistischen Morde
an mehr als 180 Menschen seit 1989! Lasst uns gemeinsam daraus
Konsequenzen ziehen.
Kommt am 03.11.2012 um 12 Uhr zum Hansaplatz und demonstriert mit uns
zusammen im autonomen Antifablock gegen die deutschen Zustände welche
die Morde der NSU ermöglichten.
///////////////////////////////////////////////////
Gegen die rassistische Politik Deutschlands.
Für ein Ende der historischen Unbelehrbarkeit.
Geheimdienste abschaffen.
Konsequenten Antirassismus statt staatstragender Beteuerungen.
///////////////////////////////////////////////////
Nie wieder Deutschland.
[a²] Hamburg / www.a2.antifa.de
Auf nach Wolgast
Im Text wird der Ort Wolgast erwähnt. Dort mächte die NPD nun am Jahrestag der Reichspogromnacht einen Fackelmarsch zum Asylsuchendenheim veranstalten. Seit Monaten kommt es in dem Ort immer wieder zu faschistoider Hetze und Aktion gegen die Flüchtlinge.
Kommt am 9.November nach Wolgast!
Infos unter anderem hier: http://rassistenstoppen.blogsport.eu/
Mobi zur Demo
Einen Tag vor der Demonstration, am FR den 02.11., findet im Rahmen des Antifa-Cafés noch eine letzte Mobi-Veranstaltung statt.
Das Café öffnet um 19 Uhr, beginn der Veranstaltung ist 20 Uhr in der Hafenvokü, Hafenstr. 116 (Bus 112 bis Hafenstr. oder S1/S3 bis Landungsbrüclen).