Schwabinger Krawalle "Gummiknüppel frei!"

Konzert mit Folgen: Es hatte so harmlos begonnen
Erstveröffentlicht: 
26.06.2012

Vom Ständchen zum Aufstand: 1962 nahm die Münchner Polizei fünf Teenager fest, weil sie auf der Straße russische Lieder spielten - und hatte plötzlich Zehntausende gegen sich. Fünf Tage dauerten die blutigen Ausschreitungen zwischen Bürgern und Einsatzkräften. Erst das Wetter beendete das Chaos. Von Peter Maxwill

 

Halb Schwabing war in dieser Sommernacht noch auf den Beinen. Bärtige Studenten, Künstler in knallbunten Hosen und feierlustige Touristen flanierten unter den Pappeln der Leopoldstraße, die Jugend der Stadt saß an den Tischen der Bars, Eisdielen und Kneipen auf Münchens angesagtestem Boulevard. Etwas abseits, vor dem Wedekindbrunnen, hockten am Abend des 21. Juni 1962 fünf Teenager und zupften ihre Gitarren: zwei Gymnasiasten, ein Schreiner, zwei Lehrlinge. Sie sangen russische Volkslieder, ihr Lachen klang über den Platz, immer mehr Zuschauer kamen dazu. Als sich schon Hunderte Passanten um die muszierenden Lockenköpfe versammelt hatten, tauchten plötzlich Polizisten auf, herbeigerufen von einem genervten Anwohner. Es war 22.35 Uhr, als die Beamten die jungen Männer aufforderten, in den Streifenwagen einzusteigen. 

Während die Musiker zum Auto gebracht wurden, schallten Pfiffe und Buhrufe aus der Menge, einige Zuschauer brüllten "Nazi-Polizei". Als die Ordnungshüter auf die Provokationen nicht reagierten, eskalierte die Situation: Der aufgebrachte Mob rüttelte plötzlich den Streifenwagen, hob das Heck des Autos hoch, ließ Luft aus einem Hinterreifen ab. Mit letzter Mühe zuckelte das Auto davon. Die überforderten Gesetzeshüter forderten über Funk Unterstützung an - und die kam wenige Minuten später geballt: Neun Einsatzwagen rasten durch das Künstlerviertel, Dutzende Polizisten sprangen aus den Wagen. 

Was folgte, sollte München tagelang in Atem halten. Jugendliche und Beamte prügelten aufeinander ein - fünf Nächte in Folge. Die Wutbürger demolierten Autos, blockierten Straßen, beschimpften die Ordnungshüter. Die kesselten die Massen im Gegenzug jeden Abend aufs Neue ein. Die Polizisten prügelten sich durch die Münchner Innenstadt, laut Zeitungsberichten schlugen sie mit ihren Gummiknüppeln sogar auf Kinder, Rentner und Frauen ein. Zehntausende waren beteiligt, Hunderte wurden festgenommen. Die "Schwabinger Krawalle" sollten zum ersten Aufschrei einer Protest-Generation werden. 

"Verletzte wälzten sich auf der Straße" 

Dabei hatte die brutale Krawallwoche so friedlich angefangen, am frühen Abend vor den ersten Ausschreitungen im Englischen Garten. In der Parkanlage, die sich kilometerlang die Isar entlang schlängelt, hatte sich das Quintett getroffen - zum Musizieren, Rumalbern und Singen. Doch den Ordnungshütern war nicht zum Spaßen zumute. Seit einem Jahr stand die Berliner Mauer, die Kuba-Krise kündigte sich an: Die russischen Volkslieder der Freizeitmusiker galten deshalb per se als verdächtig. Polizisten schickten die Gruppe schließlich aus dem Park. Eine schicksalhafte Weisung, denn die Vertriebenen zogen Richtung Leopoldstraße. 

Auf der breiten Allee folgten nun Nacht auf Nacht Szenen wie aus einem Bürgerkrieg: Waren es am ersten Abend vor allem protestierende Studenten, zogen schon am zweiten Tag junge Leute aus der ganzen Stadt in die abendliche Schlacht: Die "Lederjacken" und die "Weißhemden", Banden aus berüchtigten Vierteln am Hauptbahnhof, waren darunter, auch Lehrlinge, Arbeiter und Angestellte. Die Meute blockierte den Verkehr auf einer der meistbefahrenen Ausfallstraßen, Demonstranten schnitten Autoreifen durch, warfen mit Bierflaschen, Steinen und Stuhlbeinen auf die "Nazi-Polizei". Die ließ sich nicht beeindrucken: Mit gezogenem Knüppel räumten die Beamten den Boulevard. "Verletzte wälzten sich auf der Straße", berichtete später die "Süddeutsche Zeitung", und die Münchner "Abendzeitung" kommentierte lapidar: "Polizei versagte." Da reichte es dem Stadtvater. 

Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel begab sich abends um 22 Uhr ins Krisengebiet, umringt von einer Hundertschaft städtischer Polizisten wollte er die Aufrührer zur Vernunft bringen. Vogel griff sich ein Polizei-Megafon, erhob den Zeigefinger, dann setzte er an: "Ich als alter Amtsrichter…" Mehr war nicht zu hören - der Lautsprecher war zu schwach. Also mischte sich Vogel direkt unters Volk, fragte die Jugendlichen: "Ja was wollt ihr denn eigentlich?" Die Reaktionen waren bizarr: "Bier her!", schrien ihm einige zu, andere "Es lebe de Gaulle!" Vogel war irritiert: Wusste der krakeelende Mob etwa gar nicht, wofür er protestierte? Schließlich flogen Steine, Bierflaschen und Stinkbomben - Vogel flüchtete in seinen Dienstwagen, trat frustriert den Rückzug an. 

Mit Knüppeln auf den Jugendamtsleiter 

Die Behörde suchte indessen nach Gründen, das harte Vorgehen zu verteidigen - schließlich hatte sich München erst zwei Wochen zuvor nach einem Mottowettbewerb zur "Weltstadt mit Herz" erklärt. Nun war die Stimmung in der Stadt eine Mischung aus Hass, Gewalt und Misstrauen. Polizisten hatten die Wohnungen der klimpernden Jugendlichen vom ersten Abend durchsucht und vermeintlich den Beweis dafür gefunden, dass es sich um linksradikale Hetzer handeln musste: Die Beamten hatten Bücher des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski sichergestellt, außerdem einen Teekocher aus sowjetischer Produktion. Die Presse überzeugten diese Argumente nicht, die Massen auf den Straßen erst recht nicht. Am 23. Juni erreichten die Krawalle ihren vorläufigen Höhepunkt. 

10.000 Menschen blockierten an diesem dritten Krawall-Abend die Leopoldstraße, stundenlang kämpften 150 Polizisten gegen die Masse an, verprügelten auch unbeteiligte Passanten, Journalisten, Priester. Und diesmal hatte die Polizei einen strategischen Vorteil: Kavallerie. Berittene Polizisten galoppierten über die Terrassen der Bars, scheuchten die Besucher auf und zerschmetterten das Mobiliar, andere zerrten die ahnungslosen Gäste aus den Cafés. Die Bilanz der Nacht war verheerend: Dutzende Festnahmen, 14 Schwerverletzte, der Student Hans Georg Fritz schwebte nach einem Leberriss sogar in Lebensgefahr. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte München nicht mehr so viel Gewalt erlebt. 

Am nächsten Abend ging ein 62-jähriger Pädagoge zur Leopoldstraße, um das Chaos zu schlichten. Kurt Seelmann wollte die vierte Straßenschlacht in Folge verhindern, denn in gewisser Weise fühlte er sich als Direktor des städtischen Jugendamtes für Tausende Beteiligte verantwortlich. Doch statt zu vermitteln, geriet er selbst zwischen die Fronten. Drei Polizisten knüppelten auf den Amtsleiter ein, der verletzt zusammenbrach. Viele Beamte waren inzwischen so nervös geworden, dass sogar die bayerische Bereitschaftspolizei in Alarmbereitschaft versetzt worden war. Die Behörden befürchteten revolutionsartige Ausweitungen der Proteste, denn aus dem Aufstand gegen die Ordnungsmacht waren längst handfeste Massenschlägereien geworden: jeder gegen jeden - und Seelmann sollte nicht das letzte Prügelopfer sein. Es folgte eine weitere Nacht voller wütender Ausschreitungen. 

"Benehmen Sie sich anständig" 

Zehntausende waren mittlerweile an den Schwabinger Nächten beteiligt. In Bussen kamen Schaulustige und gewaltbereite Jugendliche aus dem Umland in die Stadt, auch die Polizei hatte ihre Einsatztruppe auf 450 Mann aufgestockt. Abends mischten sich jetzt auch Zivilbeamte unter das protestierende Volk, Einsatzleiter Manfred Schreiber hatte eine verhängnisvolle Anordnung ausgegeben: "Gummiknüppel frei!" Schließlich machten etwa 40.000 Menschen bei den Krawallen mit - und die Stadtoberen verloren zusehends die Geduld. "Die jungen Leute haben zu viel Geld und zu wenig Arbeit", sagte Münchens Universitätsrektor Julius Speer der Presse - und auch Oberbürgermeister Vogel gab nun die Diplomatie auf: "Mir sind die Knochen meiner Beamten lieber als die Gesundheit unvernünftiger Rowdys und Schreier." 

Dass schließlich nicht noch mehr Menschen verletzt wurden, war einem Wetterumschwung zu verdanken. Als die Polizei am 26. Juni erstmals mit Doppelstreifen auf der Leopoldstraße patrouillierte, um die sechste Schlacht in Folge zu verhindern, war die Leopoldstraße wie leergefegt. Die Temperaturen hatten sich am Ende der Krawallwoche schlagartig von 30 auf 13 Grad abgekühlt - und mit ihnen offenbar die Gemüter. Münchens Freizeitboulevard war an diesem Abend nicht Schauplatz einer Massenschlägerei, sondern eines Sommergewitters. Ihren Protest beschränkten die Randalierer jetzt auf Spott. An den Bäumen der Leopoldstraße hatten sie kleine Zettel geklebt, darauf stand: "Wegen schlechter Witterung fällt das Polizeisportfest heute aus." 

Abgeschlossen waren die Krawalle damit aber nicht. Denn nun begann ein jahrelanges Nachspiel: Etwa 200 Beteiligte hatte die Polizei festgenommen, nochmal so viele in Gewahrsam genommen, Hunderte Fälle landeten vor Gericht: 54 Aufmüpfige verurteilten die Richter zu Geldstrafen oder Gefängnis bis zu 13 Monaten. Von den 143 beschuldigten Polizisten wurden hingegen nur vier verurteilt. Die Beamten trugen damals weder Namensschild noch Dienstnummer bei sich, die meisten ließen sich daher nicht identifizieren. 

Als etwa der Jurist Georg Frentzel Anzeige gegen den Beamten erstatten wollte, der ihn und seine Frau verprügelt hatte, fragte er nach dem Namen des Polizisten, der seine Anzeige aufnahm. "Mein Name geht Sie einen Dreck an", antwortete der daraufhin. "Benehmen Sie sich in Zukunft anständig, dann werden Sie von uns auch nicht verprügelt." 

 

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