Autonome, wofür steht ihr?

Erstveröffentlicht: 
24.01.2014

Vom gescheiterten Versuch, mit Hamburgs radikaler Szene ins Gespräch zu kommen. von Amrai Coen und Henning Sußebach.

 

Am Anfang erschien der Weg nicht weit. Nur drei Kilometer sind es vom Hamburger Pressehaus der ZEIT zur Roten Flora. Und auch weltanschaulich wirkte die Distanz überbrückbar, jedenfalls für ein Interview. Die steigenden Mieten in den Städten, Europas Abwehr von Flüchtlingen aus Afrika – es sind ja nicht nur Linksradikale, Autonome und Hausbesetzer, die daran gerne etwas ändern würden.

 

Aber wie?

 

Seit vier Wochen führt Hamburg angesichts heftiger Krawalle eine Gewaltdebatte, zählt die Stadt verletzte Polizisten und Demonstranten, sezieren Politik, Protestler und Medien die Schuldfrage bis ins kleinste Detail – und fühlen sich alle in ihrem jeweiligen Blick auf die Welt bestätigt. Nur an den Mieten und an der Not der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer hat sich nichts geändert.

 

Ist Gewalt also das schlechteste Mittel, um für eine bessere Welt zu kämpfen?

 

Darüber wollten wir mit den Autonomen reden, in ihrem Heiligsten, der Roten Flora, diesem seit fast 25 Jahren besetzten Kulturzentrum, das längst graffitibunte Nachrichtenkulisse geworden ist. Und je nach Sichtweise letzte linke Bastion in einer gleichgültigen Gesellschaft – oder Ausgangspunkt inhaltsleerer Gewaltexzesse.

 

Wir schrieben Mails und SMS, hinterließen Nachrichten in Postfächern und auf Anrufbeantwortern, redeten mit Mittelsmännern und Mittelsmännern von Mittelsmännern.

 

Der Erste aus der Szene, der mit uns sprach – nennen wir ihn A. –, erzählte von seiner Karriere als militanter Demonstrant, vom Symbolwert brennender Bundeswehrwagen und vom Zulauf vieler zorniger junger Männer aus den Randgebieten der Städte. Dann zog er seine Aussagen komplett zurück mit der Begründung, ein Einzelner könne nicht für eine egalitäre Gruppe sprechen.

 

Der Zweite – nennen wir ihn B. – wollte, bei aller Kapitalismuskritik, für jedes Treffen Geld.

 

Doch dann waren da "Lotta" und "Klaus" von der Pressegruppe der Roten Flora, nach eigenen Worten "versehen mit dem Mandat" für einen Rundgang mit der bürgerlichen Presse. Und bereit für ein Gespräch unter Vorbehalten: Anonym müsse es sein, nur politische Fragen. Und sie müssten ihre Aussagen mit den "GenossInnen" abstimmen.

 

Das sollte zum Problem werden.

 

DIE ZEIT: Was sind, in Stichpunkten, Ihre ...

Klaus: ... waren wir im Vorgespräch nicht schon per Du?

ZEIT: Gut. Was sind eure politischen Ideale?

Klaus: Es gibt ja so einen berühmten Marxschen Imperativ, dass die Verhältnisse aufzuheben sind, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist. Das ist der Kern. Ich sehe nicht ein, dass Gesellschaftsverhältnisse so ausgerichtet sind, dass alle Beteiligten in diesem Staat in ein ewiges Konkurrenzverhältnis, in ein Hauen und Stechen gedrückt werden.

ZEIT: Zählt die Mehrheit der Deutschen für euch zu den Geknechteten oder zu den Mittätern?

Klaus: Sie sind beides. Aber: Ich bin in der autonomen Szene, weil ich Politik in der ersten Person mache. Autonome Politik ist Selbstermächtigung einzelner Individuen. Ich zerbreche mir nicht den Kopf für die Mehrheitsgesellschaft.

ZEIT: Ihr wollt die Mehrheit gar nicht gewinnen?

Lotta: Die meisten Leute wollen Symptome bekämpfen, stellen aber nicht das System infrage. Weil sie es anscheinend mit ein paar Veränderungen doch in Ordnung finden.

 

Wir trafen Lotta und Klaus an einem nieselgrauen Nachmittag im Januar. Klaus, Mitte 30, schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarze Jacke, öffnete den Seiteneingang der Roten Flora, eine schwere Stahltür, außen ohne Klinke. In den letzten Wochen hat er einige Reporter durch das leere, kalte Haus geführt, um das jetzt wieder hitzige Debatten toben. Nur Bild darf nicht rein.

 

Aus dem Dunkel des Flures trat Lotta: schmal, klein, mit Nasenring und Häkelmütze. Klaus war wichtig, zu erläutern, dass Lotta sich Lotta nenne, weil lotta im Italienischen Kampf bedeute.

 

Autonome sind der Ansicht, dass sich die Welt nicht innerhalb staatlicher Strukturen verändern lässt, auch nicht mit demokratischen Mitteln – vielmehr seien Staaten für sie eine Ursache des Übels. Die Bewegung ist international, besonders stark in Italien und Lateinamerika. In Deutschland ging sie aus der Studentenrevolte hervor. Heute besteht die Szene aus unabhängigen, teils konkurrierenden Gruppen. Einig sind sich alle darin, dass besetzte Häuser wie die Flora erste Freiräume in einer noch zu befreienden Welt sind.

 

Lotta und Klaus führten durch die Hallen, als seien die ihre Sixtinische Kapelle: Fotos nur auf Nachfrage. Statt Fresken zieren Graffiti die Wände: Stirb, spießiger Abschaum! Scholz absetzen! Auch Anstarren ist Sexismus!

 

Während Klaus referierte, folgte Lotta still, hielt Türen auf, schaltete das Licht an und aus und sprach nur, wenn sie gefragt wurde. Wer der Stromanbieter sei? "Kann ich nicht sagen."

 

Im ersten Stock: ein "Sportraum" mit Boxsäcken, Bodenmatten und der Erklärung, dass hier Kampfsport und Selbstverteidigung gelehrt würden. Ein paar Türen weiter das Materiallager der "Demo-Sanitäter": Kartons voller Kompressen, Mullbinden, Desinfektionsmittel. Kochsalzlösung, um Tränengas aus den Augen zu spülen.

 

Eine Stunde dauerte die Tour, für die Autonomen das ideale Marketinginstrument: Der Rundgang vermittelt den Anschein von Exklusivität, lässt Reporter vergessen, Fragen zu stellen, und nährt so den Mythos. Aber begreift den Vatikan, wer eine Führung durch die Sixtinische Kapelle bekommt? Und wie soll ein leeres, kaltes Haus erklären, warum es Gewalt braucht für Gerechtigkeit?

 

ZEIT: Was wir nicht verstehen: Ihr beklagt den Zustand der Welt, aber bunkert euch hier ein. Warum verweigert ihr den demokratischen Diskurs?

Klaus: ...

ZEIT: Gibt es irgendetwas, das euch an Deutschland gefällt?

Lotta: ...

ZEIT: Dann anders: Wäre der von euch proklamierte Widerstand in Ländern wie Russland oder Katar nicht viel dringender?

Klaus: ...

 

Dass hier Pünktchen anstelle von Sätzen stehen, liegt daran, dass Lotta und Klaus den Großteil ihrer Aussagen nach tagelangem Hin und Her nicht freigegeben haben. Oder nicht freigeben durften. Sie verhandelten parallel mit uns sowie mit ihren "GenossInnen", Tag und Nacht. Zuerst hatten sie das komplette Interview zurückgezogen. Dann ließen sie sich darauf ein, eine Hälfte des Gesprächs doch noch mal zu debattieren. Davon strichen sie noch mal die Hälfte. Passagen im verbliebenen Viertel schrieben sie um. Am Ende blieb ein Manuskript voller Randbemerkungen und rot markierter Streichungen. Von diesem Rest haben wir nicht mehr alles gedruckt.

 

Eigentlich wird über einen solchen Vorgang nicht berichtet. Bevor eine Zeitung ein Interview druckt, ist es üblich, es den Befragten noch einmal vorzulegen. Oft werden dann Aussagen entschärft, manchmal auch zugespitzt. In diesem Fall kam ein Gespräch zurück, von dem nicht mehr geblieben war als von einem zerbombten Haus.

 

ZEIT: Womit verdient ihr euer Geld?

Klaus: ...

ZEIT: Habt ihr Jobs?

Lotta:(lacht) Natürlich!

ZEIT: Ein Bankkonto?

Lotta: ...

ZEIT: Bei der Sparkasse?

Klaus: ...

Lotta und Klaus mussten ihre Zitate nicht nur vor sich selbst verantworten, sondern eben auch vor ihrem Kollektiv. Und das Kollektiv war offenbar der Ansicht: zu riskant. Wer Nachfragen zulässt, lässt sich auf Debatten ein. Und wer persönliche Fragen zulässt, muss sein eigenes Tun reflektieren. Der Einzelne macht sich angreifbar. Der Einzelne ist auch nur ein Mensch.

Soll man nun warten und verhandeln, bis man einen neuen Gesprächstermin bekommt, zu Bedingungen, die gänzlich das Kalkül des Kollektivs erfüllen? Nur mit Fragen, die den Interviewten genehm sind? Oder soll man eine Reportage schreiben, die das Ringen um jedes Wort verschweigt?

Vermutlich erzählt die Geschichte eines zurückgezogenen Gespräches mehr. Beispielsweise, wie unmündig man in jener Szene werden kann, die Bevormundung so tief verachtet.

ZEIT: Wie finden eure Partner eure Militanz?

Klaus: ...

 

Mit welchen Erwartungen bittet man um ein Interview mit Autonomen? Mit welchen Hoffnungen geht man hin? Mit welchen Vorurteilen? Man sitzt Menschen gegenüber, die über Wochen die Nachrichten dominieren können – aber als Individuen unerkannt bleiben. So dient als einzige Quelle der Verfassungsschutz, der sein Wissen vor allem aus Vernehmungen Verhafteter schöpft: Demnach werden 87 Prozent aller "linksradikalen Gewalttaten" von 15- bis 29-Jährigen begangen. 25 Prozent haben Abitur, 43 Prozent sind arbeitslos. 64 Prozent ihrer Angriffe gelten der Polizei, 24 Prozent Unternehmen, fünf Prozent Treffpunkten Rechtsradikaler.

 

Fragt man im Archiv nach Artikeln über die Szene, hat man bald einen dicken Stapel Papier auf dem Schreibtisch liegen. Doch darin finden sich kaum Erkenntnisse, dafür viele Bilder: Fotos von Vermummten, Fotos brennender Autos, Fotos verbotener Schlagwerkzeuge.

 

Die Bildgewalt der Autonomen ist so groß wie die Bildersucht der Medien. Das ist ihr Machtmittel. Und auch ihr Schweigen ist ein Instrument. Es sagt: Sie haben es nicht nötig, sich zu rechtfertigen. Sie befeuern Debatten, aber debattieren nicht mit. Mit der Welt da draußen wird per Verlautbarung kommuniziert.

 

Im Plenarsaal der Flora, wo Strategien und Sprachregelungen verabredet werden, hängt über dem zentralen Holztisch ein Schild: "Handy aus! Der Feind hört mit."

 

Während des Gesprächs wirkten Lotta und Klaus hin- und hergerissen zwischen ihren Rollen als Organe ihres Kollektivs und als sie selbst. Sie boten Getränke an. Sie lachten viel, manchmal mit, manchmal über uns. Und verschanzten sich dann wieder hinter verschränkten Armen.

 

ZEIT: Ihr sprecht immer von "Gewalt" der Polizei und eurer "Militanz". Was ist der Unterschied?

Lotta: Grob heruntergebrochen: Gewalt wirkt strukturell von oben nach unten. Gewalt ist das, was der Staat und andere hegemoniale Gruppen ausüben. Zum Beispiel Männer, Bosse und Bio-Deutsche.

ZEIT: Wer?

Lotta: Menschen, die sich per Ethnie oder Pass als deutsch definieren.

ZEIT: Und was ist dann Militanz?

Lotta: Dieser Gewalt entgegenzuwirken.

Klaus: Wenn auf irgendeinem Parkplatz ein Bundeswehrfuhrpark abbrennt, kann der in Kundus keinen Schaden mehr anrichten. Das ist ein klassisches Beispiel für eine militante Aktion. Auch, wenn Wohnorte von Verantwortlichen für bestimmte Missstände in dieser Gesellschaft mit Farbeiern markiert werden. Dass die wissen: Ihr könnt euer Privatleben nicht einfach so führen, als wäre nichts!

ZEIT: Wo ist da die Grenze zum Terror?

Klaus: Terror ist, wenn man wie der NSU wahllos vermeintliche Nichtdeutsche erschießt.

ZEIT: Linken Terror gibt es nicht?

Klaus: Es ist definitiv kein Ziel unserer Politik, irgendwelche Pläne zu entwerfen, wie man möglichst effektiv viele Menschen verletzen kann.

ZEIT: Wenn jetzt einer jener 120 Polizisten mit am Tisch säße, der bei den Krawallen am 21. Dezember verletzt wurden – was würdet ihr ihm sagen?

Klaus: Dass er sich einen besseren Job suchen soll.

 

Es gab einen Moment in den Hamburger Gewaltwochen, da waren die Interessen von Lotta, Klaus und vielen normalen Bürgern beinahe deckungsgleich: Nach den ersten Krawallen hatte die Polizei ein großes "Gefahrengebiet" eingerichtet. Anlasslos konnte jeder Passant durchsucht werden. Angemessen? Übertrieben? Ein Versuch des SPD-Senats, konservative Wähler zu gewinnen?

 

Bei einer der Kontrollen zogen Polizisten eine Klobürste aus der Hose eines jungen Mannes, die Szene landete auf YouTube, die Klobürsten wurden zum Symbol friedlichen Protests. Im ganzen Gefahrengebiet waren sie ausverkauft, Al-Dschasira und die BBC berichteten. Kinder, Rentner, Familien demonstrierten mit Klobürsten in der Hand. Es ging gegen Gentrifizierung, um das Bleiberecht von Flüchtlingen. Für den Senat war dieser Protest gefährlicher als jede "Militanz".

 

Aber die Autonomen? Zogen sich zurück in ihre Flora-Trutzburg.

 

Kann es sein, dass jene, die von sich behaupten, ein richtiges Leben im falschen zu führen, ein falsches Leben für so manches Richtige führen?

Jetzt, im Nachhinein, fällt ein Muster auf, dem Lotta, Klaus und ihre unsichtbaren Freunde beim Gezerre um dieses Gespräch gefolgt sind: Sie haben kein Problem damit, sich radikal zu äußern. Schwierigkeiten haben sie mit Stellen, wo sie gemäßigt, bieder, spießig wirken könnten.

 

ZEIT: Wie soll ein Gemeinwesen ohne Gewaltmonopol aussehen? Wer verfolgt in einer Welt ohne Polizei die Vergewaltiger?

Klaus: ...

ZEIT: Lynchjustiz?

Klaus: Da habt ihr euch ja ein tolles Beispiel rausgesucht! Eine Form zwischenmenschlicher Gewalt, die ihr als transhistorisch begreift: Vergewaltigung, gab es immer, stand schon in der Bibel ...

ZEIT: ... wenn wir von Bankräubern gesprochen hätten, hättet ihr behauptet: In unserer Welt gibt es keine Banken mehr, die man überfallen muss.

Klaus: Ihr argumentiert nur bis hin zu dem Horizont, den ihr euch vorstellen könnt. Und erweckt zugleich den Eindruck, dass der aktuelle Umgang mit sexueller Gewalt in Deutschland vorbildlich sei.

Lotta: Die betroffene Person muss sich bei der Polizei und vor Gericht aber noch mal alles Mögliche gefallen lassen, was zu einer Retraumatisierung führt.

ZEIT: Ihr wollt nicht im Ernst behaupten, Lynchjustiz wäre besser.

Lotta: ...

Klaus: Ich finde, es ist eine unfaire rhetorische Figur, ein seltsames Partikularbeispiel gegen eine politische Perspektive zu stellen, an deren Fernziel der Staat überflüssig sein muss. Das erinnert mich an die Verhöre der Leute, die den Kriegsdienst verweigern wollten: "Deine Freundin wird vergewaltigt, und da liegt zufällig eine Waffe – würdest du dann nicht den Vergewaltiger erschießen?" Und schwups bist du kein Pazifist mehr, sondern Bundeswehrsoldat! Ich sehe nicht, wie das unser Gespräch nach vorne bringt. Außer dass ihr uns ein bisschen verunsichert habt an diesem Punkt. Aber ich möchte das zurückweisen.

ZEIT: Schon mal einen Stein geschmissen?

Klaus: Ja.

ZEIT: Und auch getroffen?

Lotta: Ich bin denkbar schlecht im Werfen.

ZEIT: Habt ihr je darüber nachgedacht, euch in einer politischen Partei zu engagieren?

Lotta: Nee, tatsächlich nicht. Ich finde die Möglichkeiten, die man dadurch hat, zu begrenzt.

ZEIT: Wohnt ihr zur Miete?

Klaus: Ja.

ZEIT: Zahlt brav Gas, Strom und Steuern?

Lotta: Wir sind auch ein Teil der Verhältnisse. Ist völlig illusorisch, zu glauben, nur weil man eine andere Idee vom Leben hat, dass man sich völlig vom Status quo frei halten kann.

ZEIT: Spendet ihr alles Geld, was am Ende des Monats übrig ist, an Organisationen wie Pro Asyl?

Klaus: ...

ZEIT: Warum nicht?

Klaus: ...

ZEIT: Wissen eure Eltern um eure autonomen Biografien?

Lotta: ...

ZEIT: Und wie finden die das?

Klaus: ...

ZEIT: Wollt ihr selber eines Tages Kinder haben?

Klaus: ...

 

Lotta und Klaus werden diesen Artikel, falls sie ihn überhaupt lesen, sicher als Angriff verstehen, als Beleg, dass es sinnlos ist, mit uns zu reden. Wir sehen das anders. Wir sehen Lotta und Klaus, die sich kurz getraut haben, die Kluft zwischen dem Flora-Drinnen und dem großen Draußen zu überschreiten, die sich dann aber der Logik ihrer Gruppe beugten. Schon bei einem unserer letzten Treffen in der Flora hatte Klaus wieder zur alten Abneigung gefunden und gesagt: "Wo die Tür ist, wisst ihr ja."

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