In Hamburg sorgt die Konfrontation zwischen Autonomen und Polizei für eine explosive Lage. Der Hintergrund der Eskalation, so heißt es, seien Proteste gegen Gentrifizierung, für die Rote Flora und für die Lampedusa-Flüchtlinge. Doch das ist ein Missverständnis.
Ein dämliches Gewaltspektakel - Ein Debattenbeitrag von Christoph Twickel
In den letzten Tagen rufen vermehrt Bekannte und Verwandte von außerhalb an. Nicht wegen Weihnachten oder Neujahr, sondern um zu fragen: "Was ist denn bei euch los?"
Die Frage ist berechtigt. In Hamburg schaukelt sich die Konfrontation zwischen polizeilichen und militant-autonomen Kräften derzeit auf eine beunruhigende Weise hoch. Nach der Großdemo vom 21. Dezember erklärte ein anonymer Kämpfer: "Irgendwann werden wir schießen müssen. Das ist unvermeidlich." Und auch die Polizei sieht "eine Dimension erreicht, die einen Schusswaffengebrauch situationsbedingt wahrscheinlich machen könnte", so der Hamburger Polizeigewerkschaftschef Gerhard Kirsch nach der zweiten Attacke auf die Davidwache, bei der die Angreifer einem Polizisten den Kiefer brachen.
Die Drohgebärden sind Höhepunkt einer Eskalation zweier rachsüchtig erscheinenden Parteien: Autonome Hooligans auf der einen Seite, die Hamburger Polizeiführung auf der anderen Seite. Los ging es in der Nacht auf Samstag vor Weihnachten, als eine Gruppe von Schwarzgekleideten die Davidwache auf St. Pauli mit Steinen bewarf und Polizeiautos entglaste. Tags darauf kam es bei derDemo im Schanzenviertel zu einem Polizeieinsatz, der nach Rache aussah.
Rund 7500 Menschen waren gekommen, um für die Rote Flora, die Lampedusa-Flüchtlinge und die Esso-Häuser zu demonstrieren. Ich stand auf einem Lautsprecherwagen im hinteren Teil der Demo - als Teil des Moderationsteams des sogenannten "Recht auf Stadt"-Blocks - und beobachtete entgeistert, wie Stoßtrupps der Polizei rund 2000 dicht gedrängt stehende Menschenzusammenquetschten, schubsten und mit Knüppeln und Pfefferspray traktierten.
Irgendwann kam ein junger Typ zum Lautsprecherwagen und rief mir ins Ohr, er habe mitgehört, wie ein Polizist seinem Kollegen erklärt habe, es würde "alles nach Plan" laufen. Ob wir das nicht durchsagen könnten. Haben wir natürlich nicht gemacht. Wir waren ja heilfroh, dass unsere Gruppen - Stadtteilinitiativen, Flüchtlinge oder auch die mit den Esso-Häusern zwangsgeräumten Mitarbeiter des Musikclubs Molotow - sich besonnen verhielten.
Die Polizei sah die Schuld für die Eskalation bei den Demonstranten: Der schwarze Block habe mit Attacken begonnen, die Polizisten hätten teilweise noch nicht einmal ihre Helme aufgehabt, als es losging. In jedem Fall ließ sich der schwarze Block im vorderen Teil der Demo nicht lange bitten. Man hatte wohl ohnehin auf eine Keilerei hingefiebert - also ging es ab: Böller, Bengalos und Steine gegen Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray.
Die gute alte Sympathisantenlogik
Wer auch immer angefangen hat: Von einem rechtstaatlich kontrollierten Gewaltmonopol sollte man verlangen dürfen, dass es sich nicht wie ein zorniger Rachegott aufführt. Offenbar wahllos preschten viel zu kleine Stoßtrupps prügelnd in die Menge vor - und mussten sich dann im Flaschen- und Steinhagel zurückziehen. Bezeichnenderweise war ein bekannter Hardliner aus der Zeit unter Innensenator Ronald Schill mit der Einsatzleitung betraut.
Wäre ich Polizeigewerkschafter, ich hätte kritisch nachgefragt, wieso man die Leute so verheizt - statt eine deeskalierende Demo-Begleitung zu machen, wie in den letzten Jahren in Hamburg.
Wie drastisch offenbar einige Polizisten vorgingen und wie wenig unter Kontrolle die Lage auf dem Schulterblatt war - all das konnte man in den folgenden Tagen durch Berichte von Augenzeugen auf YouTube, Twitter und Facebook verfolgen. Verbal ging der Kampf weiter, mit "Abschaum"-Gepolter hier und "Hass auf Bullen"-Ergüssen dort.
Ein SPD-Politiker schrieb mir in einer Facebook-Debatte, als "Recht auf Stadt"-Aktivist blickte ich "doch viel mehr durch" und könnte ihm "sagen, wer am Vorabend die Davidwache angegriffen hat". Die gute alte Sympathisantenlogik - in Deutschland ist sie nicht totzukriegen.
Das Desinteresse der Militanten
Tatsächlich aber leben wir nicht mehr in den Siebzigern und Achtzigern, als die militante Linke integriert war in konkrete politische Projekte. Seinerzeit mögen die Straßenkämpfer besetzte Häuser in der Hamburger Hafenstraße, in Kreuzberg und im Frankfurter Westend verteidigt haben. Aber heute? Das Gängeviertel - die erste erfolgreiche Hausbesetzung seit zwei Jahrzehnten - ist 2009 in einer großen zivilgesellschaftlichen Debatte über Gentrifizierung und Denkmalschutz durchgesetzt worden. Die Besetzer haben mutig gehandelt - doch die Stadt hat die Besetzung nicht etwa geduldet, weil sie Angst vor Straßenkämpfen hatte, sondern aus Furcht vor der Rufschädigung, den eine Räumung des sympathischen Gängevölkchens nach sich gezogen hätte.
Umgekehrt wähnen sich heutige Militante am liebsten ganz generell am kommenden Aufstand beteiligt - und geben sich mit spezifischen Anliegen kaum ab. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass eine Abordnung der autonomen Kämpferschaft mal bei der Esso-Häuser-Initiative oder ähnlichen Projekten nachgefragt hätte, was es denn für sie zu tun gäbe. Heutige Militante interessieren sich nicht übermäßig dafür, ob ihre Militanz gewollt ist von den politischen Initiativen, auf die sie sich berufen.
Mit Ausnahme der Roten Flora. Wenn das alte Biest am Schulterblatt ruft, eilen sie von nah und fern herbei. Einzig die Flora kann heute noch glaubhaft mit Straßenschlachten drohen, um den politischen Preis einer Räumung in die Höhe zu treiben. Ob sie derzeit drohen muss, ist eine andere Frage. Zwar fordern die beiden Eigentümer Klausmartin Kretschmer und Gert Baer die besenreine Übergabe ihrer Problemimmobilie - doch das findet bis dato kaum politischen Widerhall. Nicht mal die CDU will räumen lassen.
Ausgerechnet die Davidwache
Ihr Mobilisierungspotential macht die Flora zur deutschlandweit letzten großen Kulisse für Straßenkampfrituale - die in den letzten Jahren immer ins Leere liefen, wenn sich die Polizei zurückhielt, statt mit Wasserwerfern und Kampfeinheiten vorzugehen. Den Aktivisten der Roten Flora selbst ist dieses Ritual eigentlich schon seit Jahren zu blöd. 2009 etwa riefen sie in ironischer Geste zur großen Kissenschlacht vor der Flora auf. 2013 mahnten sie anlässlich des Schanzenfestes "konkrete Perspektiven jenseits eines ritualisierten abendlichen Krawalls" an.
Dennoch lockt die Schanzenszenerie immer noch reichlich Typen an, die es für "aufständische Praxis" halten, sich von hochgerüsteten Polizeikräften nassmachen, verprügeln und einkesseln zu lassen. Und die glauben, einen Sieg davongetragen zu haben, wenn sie nach einer Demo noch zufällig auf dem Weg liegende Hotels, Drogeriemärkte und Sparkassen entglasen - oder gar die Davidwache überfallen. Ausgerechnet die gemütlich-touristische Davidwache, deren Beamte sich erst im Oktober 2013 geweigert hatten, eine Razzia in der St.-Pauli-Kirche gegen die Lampedusa-Gruppe durchzuführen!
Die autonomen Militanzfetischisten bilden sich nichtsdestotrotz ein, den politischen Unmut in Unruhen überführt und den "Frieden im Empire ein wenig brüchiger" gemacht zu haben, wie es in einem autonomen Traktat hochfahrend heißt. In Wahrheit verlaufen die derzeitigen Scharmützel reichlich entkoppelt von den Auseinandersetzungen um Stadtentwicklung und Flüchtlingspolitik. Hamburgs Polizeiführung nutzt die Eskalation, um Lobbypolitik für ihren Apparat zu machen. Und Hamburgs Regionalblätter titeln mit Überschriften wie "Wir schießen beim nächsten Mal scharf" nebst Polizisten in Kampfmontur. Es ist ein dämliches und nutzloses Spektakel.