»Totschläger in der Zeitschleife«

Kundgebung nach dem angriff auf den Imbissbesitzer in Bernburg
Erstveröffentlicht: 
07.11.2013

Für Migranten und Linke sind manche Landstriche in Sachsen-Anhalt lebensgefährlich. An blutigen Angriffen beteiligen sich auch rechtsextreme Wiederholungstäter.

 

Am 9. Januar 2006 wurde der zwölfjährige Kevin auf seinem Heimweg von Schönebeck nach Pömmelte (Sachsen-Anhalt) von fünf rechtsextremen Jugendlichen überfallen und misshandelt. Bereits im Bus begannen die Feindseligkeiten, denen sich der Junge ausgesetzt sah, unbemerkt von anderen Fahrgästen und dem Fahrer. In Pömmelte angekommen, versuchte Kevin, den Angreifern aus eigener Kraft zu entkommen – ohne Erfolg.

 

Nachdem die Täter ihn eine gewisse Strecke über den Boden geschleift hatten, schlugen und traten sie auf ihn ein. Sie zwangen ihn, eine Flasche Bier auszutrinken, die ihnen später als Schlagwaffe dienen sollte. Zudem musste er die Stiefel seiner Peiniger küssen und ablecken sowie auf Fragen mit Parolen wie »Jawohl, mein Führer« antworten. Während der Tortur drückten die Täter auf seinem Augenlied einen glühenden Zigarettenstummel aus und hielten dem Jungen anschließend unter Androhung seines Todes eine Schusswaffe an den Kopf. Nach einer Stunde fanden die Quälereien ihr Ende, da den fünf die Lust vergangen war.

»Sie greifen mich an, weil ich Ausländer bin. Das verstehe ich nicht! Bei mir ist jeder willkommen – ob er nun aus Nigeria, Pakistan oder Deutschland ist. Wir sind alle Menschen!« sagte der Zwölfjährige später während des Prozesses. Den Tätern war ihr Opfer wohlbekannt. Einer der der Haupttäter, der damals 19jährige Francesco L., hatte Kevin, dessen Vater aus Äthiopien kommt, schon einmal attackiert. Ein Jahr nach der rassistischen Gewalttat in Pömmelte starb der Junge. Ob sein Tod in einem Zusammenhang mit den psychischen Folgen des Angriffs stand, ließ sich nicht genau feststellen.

Francesco L., der wegen seiner Haupttäterschaft zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden war, fand nach seiner frühzeitigen Entlassung im Jahr 2008 schnell wieder Anschluss an seine alte Kameradschaft in Schönebeck. Diese hatte sich zwar nach der Tat in Pömmelte öffentlich von ihm distanziert. Privatfotos aus dem Jahr 2012 zeigen den Mann jedoch in einem T-Shirt der Gruppe. Auch die Beteiligung an den revisionis­tischen »Trauermärschen« in Magdeburg 2011 und 2012, am sogenannten Rudolf-Hess-Gedenkmarsch in Schönebeck im August 2012 und einer Vielzahl rassistischer Überfälle, die er mit anderen Nazis aus der Gegend verübte, sprechen für die feste Verankerung von Francesco L. im örtlichen Milieu.

Ein Angriff, der jüngst überregional in die Schlagzeilen geriet, richtete sich gegen einen türkischen Imbissbesitzer im sachsen-anhaltinischen Bernburg Mitte September. Und wieder soll L. beteiligt gewesen sein. Er und acht Kameraden sollen sich in dem Ort zum Abschiedsumtrunk verabredet haben, da L. der Antritt einer Haftstrafe von neun Monaten bevorstand. Er hatte sich im März 2012 an einem Angriff auf zwei alternative Jugendliche in der S-Bahn zwischen Magdeburg und Schönebeck maßgeblich beteiligt.

Die Abschiedsfeier endete für A. Erkut, der seit ungefähr 13 Jahren in Bernburg lebt und mit seinem Bruder ein Schnellrestaurant am örtlichen Bahnhof betreibt, mit lebensgefährlichen Ver­letzungen. Als er an diesem Septembertag gegen 21.30 Uhr seinen Laden abschließen wollte, attackierten ihn die Neonazis. Er lag mehrere Tage auf der Intensivstation im künstlichen Koma. Die neun Angreifer wurden festgenommen. Bereits 2011 hatten L. und andere in Schönebeck einen türkischen Restaurantbetreiber attackiert. Mit den Worten »Du bist kein Deutscher!« hatten die Nazis damals eine Silvesterparty in der Dönerimbissstube gestürmt und auf den Besitzer und dessen Gäste mit Stuhlbeinen und Schlagstöcken eingeschlagen.

Nun richten sich, weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, rassistische Angriffe auch gegen die Familie des Bernburger Imbissbetreibers. Nur zwei Wochen nach der brutalen Attacke auf den Mann wurde sein Neffe mit Softair-Waffen beschossen, als er das von ihm betriebene Restaurant in Calbe abschließen wollte. Eine Woche darauf wurden Hakenkreuze und das Wort »Neger« an die Garage der Schwägerin von A. Erkut gesprüht, bei seinem Vater wurde der Briefkasten gesprengt. Die Polizei will bisher jedoch keinen Zusammenhang zwischen der Freilassung der Nazis, die an dem Angriff in Bernburg beteiligt waren, und den Angriffen auf die Familie von A. Erkut erkennen.

Die Reaktion übergeordneter Behörden auf die steigende Zahl rechtsextremer Angriffe und Propagandadelikte beschränkt sich auf Überlegungen, den landeseigenen Sicherheitsapparat aufzurüsten. Einen Vorschlag in diese Richtung brachte im Oktober Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) vor. Nachdem am »Tag der Deutschen Einheit« in Salzwedel mehr als 100 Nazisymbole an Mauern, Wänden und Schildern hinterlassen worden waren, forderte er eine großflächige Videoüberwachung in Sachsen-Anhalt. Das Praktische an der Technologie: Sie lässt sich nicht nur gegen Nazis, sondern auch gegen Linke einsetzen. Dass Linke bei den Behörden in Sachsen-Anhalt nicht gerade wohlgelitten sind, zeigte am vergangenen Wochenende das repressive Vorgehen der Polizei gegen eine antifaschistische Demonstration in Burg, die aus Protest gegen den zunehmenden Naziterror stattfand. Ein Aufgebot von 400 Beamten begleitete die Demonstration und schikanierte die rund 200 Teilnehmer.

Und damit nicht genug: In der Nacht nach der Demonstration zeigte sich, mit welcher Kaltblütigkeit Nazis in der Region gegen politische Gegner vorgehen. Kurz nach zwei Uhr schlug eine Gruppe Nazis in der Nähe des Burger Bahnhofs einen ihnen bekannten Antifaschisten nieder und zerrten ihn in ihr Fahrzeug. Sie bedrohten und schlugen ihn, dann fuhren sie mit ihm in ein Waldstück zwischen Burg und Detershagen. Dort forderten sie ihn auf, die Namen von Antifaschisten zu nennen. Sie entrissen ihm sein Mobiltelefon, riefen eine Person aus der Kontaktliste an und fragten, wie viel Geld der entführte Antifaschist ihr Wert sei. Kurze Zeit später fuhren die Nazis mit dem Auto davon, sie ließen ihr Opfer im Wald zurück und nahmen sein Telefon mit.

Die überwiegende Mehrheit der Nazis, die in Burg für Einschüchterungen und Angriffe verantwortlich sind, kommt jedoch nicht aus dem Ort selbst, sondern stammt aus dem benachbarten Magdeburg. Manche von ihnen gehören der seit 2008 verbotenen rechtsextremen Hooligan-Gruppe »Blue White Street Elite« an. Ehemalige Mitglieder der »Aktionsgruppe Burg« und des »Freien Netzes«, die vor Ort ansässig sind, beordern die rechtsextremen Schlägertrupps immer häufiger nach Burg und sind an den Angriffen ebenfalls beteiligt.

Den Informationen ortsansässiger Antifaschisten zufolge ist hierfür auch ein Neonazi mitverantwortlich, der bis vor kurzem eine Gefängnisstrafe wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung absaß. Zusammen mit weiteren Nazis hatte er im Januar 2004 den 46jährigen Martin Görges in Burg mit einem sogenannten Bordsteinkick getötet, da sie den Mann für einen Pädophilen hielten. Auch dieser Neonazi ist weiterhin gerngesehener Gast auf rechtsextremen Feiern und Demonstrationen. Die jüngsten Angriffe in Burg und Bernburg bestätigen also lediglich: Rechtsextreme Wiederholungstäter können sich in der Region zu Hause fühlen und weitermachen wie bisher. Dieses Naziproblem wird der Staat weder mit mehr Überwachung noch mit der Schikanierung von Antifaschisten lösen.