Als Ergänzung zu den Protesten rund um den Europäischen Polizeikongress fanden in diesem Jahr auch flüchtlingspolitische Aktionen statt: Am 18.2. eine größere Veranstaltung zum Thema "Europäisches Migrationsregime" und einen Tag später eine Kundgebung zur gleichen Thematik direkt vor dem Polizeikongress im Berliner Congress Centrum (BCC) am Alexanderplatz. Im Folgenden soll auf die Inhalte (Dublin III, Frontex und Polizeikongress) genauer eingegangen werden.
Die Veranstaltung mit Referenten von Borderline Europe, No Border Frankfurt/Main und Out of Control Berlin fand in der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg statt. Das Bündnis gegen Lager Berlin/Brandenburg wollte einen aktuellen Überblick zu den Dublin III-Verhandlungen und den Aktivitäten der europäischen Grenzschutzagentur "Frontex" geben. Der Polizeikongress war ein willkommener Anlass, um weiterzuführen was auf der Veranstaltung "Feindbild-Akquise Asylknast" und dem bundesweiten Aktionstag zu Dublin II am 30. März 2012 begonnen wurde: Eine lokale Auseinandersetzung mit supranationalen Behörden und Verträgen.
Dublin III-Verhandlung
Tagesaktuell war die Diskussion auch weil gerade die Studie "10 Jahre Dublin II-Verordnung" erschienen ist, die dem Asylzuständigkeitssystem grobe Mängel bescheinigt. Einige Zahlen: Allein 2010 wurden von 7.555 Abschiebungen aus Deutschland, 2.874 mithilfe der Dublin II-Verordnung in ein anderes EU-Land durchgeführt. Die Verordnung sorgt dafür, dass die Verantwortung für die meisten Flüchtlinge den EU-Staaten an den Außengrenzen aufgebürdet wird, da das Land zuständig ist, in welches als erstes eingereist wurde. Griechenland, Italien, Malta, Ungarn und andere Staaten am Rande der EU verweigern sich jedoch einer menschenwürdigen Aufnahme von Flüchtlingen oder sehen sich außer Stande diese zu gewährleisten. Der Mangel an Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten führt so zu organisierter Verantwortungslosigkeit gegenüber schutzsuchenden Menschen. Das haben auch einige deutsche Verwaltungsgerichte bemerkt und Dublin II-Rückführungen z.B. nach Griechenland verhindert. Ein unhaltbarer Zustand für die deutsche Innenpolitik, die Dublin II als Absicherung der deutschen Drittstaatenregelung lieb gewonnen hatte. "Dublin III" soll nun auch zu Krisenzeiten, in denen einzelne Mitgliedstaaten kein Asylverfahren gewährleisten können, Rechtssicherheit für die anderen EU-Staaten bringen.
Der Vertreter von No Border Frankfurt hat die Verhandlungen dazu auf EU-Ebene untersucht und kritisierte auf der Veranstaltung am Montag das europäische Asylzuständigkeitsverteilsystem grundsätzlich. Denn es ging hierbei nie um die Sicherung von fairen Asylverfahren überall, sondern um die Beschränkung selbstbestimmter Migration, um die Disziplinierung der Staaten am Rand der EU und um die Ausweitung der Pufferzone um "attraktive Zielstaaten" wie Deutschland. Die Reform (Dublin II bleibt bestehen und es kommen weitere Regellungen hinzu) dreht sich deshalb um Fragen der Disfunktionalität der bisherigen Verordnung hinsichtlich der Widerstandsmöglichkeiten der Flüchtlinge (Untertauchen, Beweisvernichtung usw.), der Verweigerungshaltung einzelner Krisenstaaten und der widersprüchlichen Rechtsprechung. Ein wesentlicher Punkt von Dublin III wird die europaweite Fingerabdruck-Datei für Flüchtlinge ("Eurodac"), sowie die Legalisierung der Inhaftierung von Asylsuchenden sein. Als Krisenmechanismus wird ein Frühwarnsystem (koordiniert vom EASO - Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen) verhindern, dass Abschiebungen in Krisenländer ausgesetzt werden müssen. Als Trends wurden die weitere Europäisierung der Asylbehörden und Koordinierung (Migrationsmanagement) sowie die Vorverlagerung des Asylsystems in die EU-Anrainerstaaten genannt.
An der Reform beteiligt sind offiziell der Rat der Europäischen Union, das Parlament und die Kommission. Auf der Hinterbühne sind es die Innenministerien der "Zielstaaten", die Polizeiapparate, Softwarefirmen und Betreiber von Haftanstalten, die mit unterschiedlichen Interessen alle das gleiche Ziel verfolgen: Die Verschärfung des Asylsystems durch Überwachung und Kontrolle. Insofern schloss sich der inhaltliche Faden zum Europäischen Polizeikongress, dessen Akteure genau jene PraktikerInnen aus Sicherheitswirtschaft und -behörden sind, die Systeme wie Dublin III in ihrer alltäglichen Arbeit erst ermöglichen. 2011 war das Thema des Polizeikongresses deshalb auch "Migration Integration - Sicherheit in Europa im Wandel".
Die Aussichten für die Autonomie der Migration mögen schlecht erscheinen, dennoch bleibt auch weiterhin der alltägliche Widerstand möglich und nötig ist. Dazu zählen das Untertauchen, Undokumentiertes Reisen, Beweise vernichten und natürlich die Verhinderung von Abschiebungen! Hierzu braucht es kontinuierlichen Austausch und Vernetzung. UND: Dublin wird reformiert, gerade weil es nicht funktioniert. In den EU-Gremien wird es nicht verhinderbar sein, sondern nur in der Praxis. Das "Dublin Domino" (Griechenland, Italien, Zypern, Malta …), also das Aussetzen der innereuropäischen Abschiebungen, welches wir aktuell aufgrund der Krise erleben, wird sich durch das "Frühwarnsystem" nicht einfach zurückspulen lassen. Gleiche Bedingungen für Asylverfahren in der EU wird es auch in Zukunft nicht geben. Es wird damit gerechnet dass Dublin III im April 2013 beschlossen wird, danach wird sich zeigen wie die Regellungen in den Staaten implementiert werden - denn widersprüchlich sind auch die neuen Dublin-Mechanismen, da in den vielen Jahren der Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten bzw. deren unterschiedlichen Interessen, Kompromisse gemacht wurden.
Frontex und Polizeikongress
Die beiden Beiträge von Borderline Europe und Out of Control Berlin bezogen sich vor allem auf die technisch-praktische Seite des Europäischen Grenzregimes. Die gemeinsame Grenzschutzagentur "Frontex" setzt durch die militärische Schließung der Außengrenzen eine Ordnung durch, in der es nicht mehr möglich ist, regulär nach Europa zu kommen, um Schutz zu suchen. Das Asylrecht ist formal weiter in Kraft, aber wer es in Anspruch nehmen will, ist gezwungen, auf verschlungenen, illegalen, teuren und gefährlichen Wegen hierher zu finden. 140.000 Flüchtlinge überquerten so 2011 "illegal" europäische Grenzen.
In den ersten Jahren, nachdem Frontex gegründet wurde, gab es immer mehr Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch die europäischen Grenzer: Misshandlungen, Attacken gegen Flüchtlingsboote, illegale Zurückschiebungen. Die EU setzte 2011 ein Grundrechte-Konsultativ-Forum ein, um dafür zu sorgen, dass die Agentur ihre Arbeit künftig geräuschloser erledigt. Zu dieser Imagepflege gehört es auch, die Grenzschutzpolizei als wichtige Seenotrettung hinzustellen ("33.000 Menschenleben gerettet"). Aber Frontex macht mehr http://www.dandc.eu/de/article/menschenrechtsprobleme-der-eu-grenzagentu.... Die Vorverlagerung des Migrationsregimes in Länder die weit weg sind von der EU gehört ebenso in das Aufgabenfeld: Erkauft mit Entwicklungshilfe macht die EU ihre entfernten NachbarInnen (z.B. Nigeria) zu Hilfspolizisten: Mit Internierungslagern, PR-Agenturen, fälschungssicheren Pässen für Afrika oder Militärhilfe stellt sich das Grenzregime den TransmigrantInnen schon tausende Kilometer vor den Toren der Festung Europa entgegen. Innerhalb der EU agiert Frontex vor allem mit Informationen. Eurodac (Teil der Dublin-Reform), aber auch die nationalen Datenbanken der Sicherheitsbehörden sind für das monitoring von Migration und die Prognosen relevant. Woher kommen die Flüchtlinge, wo liegen die Fluchtwege, wer sind die SchleuserInnen usw.? Dabei wirkt unterstützend, dass Forntex-MitarbeiterInnen meist aus nationalen Behörden kommen und ihre Kontakte und das Know-How mitbringen.
Auf solche und andere personelle Überschneidungen in den Sicherheitsbehörden- und firmen ging auch Out of Control ein. Der Polizeikongress als Firmenkontaktmesse ist ein gutes Beispiel dafür wie private Kontakte politische und geschäftliche induzieren. Der Kongress wird von den Polizeireportern der Verlagsgruppe "Behördenspiegel" organisiert. Als TeilnehmerInnenzahl wurden dieses Jahr 1.400 Gäste aus 30 Staaten angegeben. Als ReferentInnen treten polizeiliche EntscheidungsträgerInnen, GeheimdienstlerInnen und FirmenchefInnen auf. Herausragend ist sicherlich auch die Funktion als inoffizielles Innenministertreffen (diesmal waren es sechs). Die Bezeichnung als "Kongress" ist missverständlich, denn eher kann von einer Messe gesprochen werden. Derart wird die Veranstaltung auch auf Seiten der Industrie beworben und publizistisch durch Neuvorstellungen von technischen Spielzeugen untermauert. Rüstungsfirmen, kleine und große Softwareentwickler und Polizeiausrüster finanzieren den Polizeikongress. Dafür können sie ihre Produkte an Verkaufsständen präsentieren. Die Linke bezeichnete den Kongress im Vorfeld treffend als "behördlich-industriellen Komplex" bei dem es um die Durchsetzung "einer umfassenden Überwachungsarchitektur" gehe.
2011 nutzte die EU-Kommissarin Cecilia Malström den Kongress um ihr Programm zur Steuerung der Migration nach Nützlichkeitskriterien vorzustellen. Auch der Chef von Frontex Ilkka Laitinen forderte 2011 und 2012 auf dem Kongress weiter reichende Kompetenzen für seine Behörde, und bekam sie auch (Eurodac und Eurosur). Dieses Jahr ging es um Cybercrime und polizeiliche Zugriffe auf soziale Netzwerke im Internet. Mit dem diesjährigen Programm haben sich Heise und netzpolitik.org ordentlich auseinander gesetzt.
Kundgebung am BCC
Bei den Protesten gegen den Polizeikongress ging es aber gar nicht um das konkrete Programm. Der Kongress wurde vielmehr als Anlass genommen um zu thematisieren was in der Presseberichterstattung zu dieser Propagandashow nicht zur Sprache kommt. Mit der militanten Demo am Samstag wurde der Raum dafür geöffnet. Dass es am Dienstag noch immerhin 150 Leute ins zugige Schneetreiben auf den Alexanderplatz zur Antira-Kundgebung geschafft haben ist sicherlich der medialen Öffentlichkeit für Polizeikritik zu verdanken. Entsprechend weit oben wurde die Kundgebung bei der Polizei angesiedelt. Der Berliner Polizeipressesprecher Stefan Redlich kam vorbei, schweres Gerät war in den Nebenstraßen geparkt und wer zu früh da war bekam eine umfangreiche Durchsuchung verpasst. In Redebeiträgen wurde versucht die Breite des Themas Grenzregime mit dem Rassismus in der Polizei zu verbinden. So ging es TOP B3RLIN um "globale kapitalistische Macht- und Ausbeutungsverhältnisse", die sich in der deutsch-europäisierten Flüchtlingspolitik im Alltagsrassismus und Standortnationalismus niederschlagen. Der Hinweis in ihrem Beitrag auf die massive Einschränkung des Asylrechts 1993 kommt nicht von ungefähr. Zum Jahrestag Ende Mai sind größere Aktionen geplant in dessen Kontext auch die Kundgebung beim Polizeikongress stand.
Persönlich wurde auf August Hanning eingegangen, der zeitgleich auf dem Kongress einen Workshop leitete. Hanning war Chef des BND, der Bundespolizei und Staatssekretär des Bundesinnenministeriums (BMI). Er verkörpert in Personalunion die enge Zusammenarbeit der Geheimdienste mit den Polizeibehörden. Auch strukturell wird diese Zusammenarbeit unter der Schirmherrschaft des BMI weiter forciert. Besondere Aufmerksamkeit verdient das „Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum Illegale Migration“ (GASIM), ein nationales Pendant zu Frontex, das in Potsdam sitzt. Unter Beteiligung der Bundespolizei, der deutschen Geheimdienste, des Finanzamtes und des Bundesamts für Migration werden regelmäßig Informationen über Fluchtwege gesammelt, ausgewertet und Prognosen über künftig zu erwartende Migrationsbewegungen erstellt.
Die Gruppe Interkomm ging auf die Repression gegen soziale Kämpfe ein. Beispiele dafür sind Reiseverbote für GlobalisierungskritierInnen aber auch die Einkesselung von streikenden Ford-ArbeiterInnen in Köln letztes Jahr. Die aktuellen Verbote von Streiks und Beschränkungen der Rechte der Gewerkschaften in den Krisenländern verweisen auf eine europäische Sicherheitsarchitektur, die sich nicht nur nach außen sondern vor allem nach innen richtet. Überwachung und Kontrolle sind dabei nicht allein Sache der Polizeien. Vielmehr sind Erwerbslose durch das "Hatz IV-Regime" der andauernden Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung unterworfen.
Einen weiteren Beitrag zur kritischen Thematisierung des Polizeikongresses leistete eine Ausstellung von Fotos zu Polizeigewalt unter dem Motto "Vermummt und Gewaltbereit" unweit der Kundgebung. Die Fotos wurden an beiden Tagen des Polizeikongresses als Dauerkundgebung gezeigt. Am Mittwoch sprach dort ein Vertreter von Amnesty International, der am Kongress als kritischer Beobachter teilgenommen hatte.
Bilder zur Kundgebung
http://www.demotix.com/photo/1812519/protest-against-european-police-congress-berlin
https://secure.flickr.com/photos/kietzmann/sets/72157632805466973/with/8491089304/
https://secure.flickr.com/photos/boeseraltermannberlin/sets/72157632807745860/with/8488969457/