Mit einem für alle Prozessbeteiligten überraschenden Urteil endete am Donnerstag das Berufungsverfahren gegen den Moderator und den Techniker der Revolutionären 1. Mai-Demonstration in Karlsruhe 2010. Sie wurden wegen des Abspielens eines Lieds der Gruppe "Fischmob" der gemeinschaftlicher Beleidigung für schuldig befunden. Dem Vorwurf der Nötigung wegen der Blockade zweier Kreuzungen konnte das Landgericht Karlsruhe dagegen nicht folgen.
Im Jahr 2010 fand nach vielen Jahren wieder eine revolutionäre 1. Mai-Demonstration mit über 600 Menschen in Karlsruhe statt. Von Beginn zog die Polizei ein Spalier am vorderen Teil und an den Seiten des Demonstrationszuges auf. Trotz mehrfacher Verhandlungen und Erinnerungen an die gemachten Zusagen, hob die Polizei das Spalier nicht auf. Aus Protest gegen das Spalier stoppte der Demonstrationszug an zwei Kreuzungen, wodurch der Straßen- bzw. Schienenverkehr erschwert wurde. Da die Polizei sich weiter weigerte das Spalier abzuziehen und die Außenwirkung der Demonstration so erheblich beeinträchtigt war, wurde die Demonstration vorzeitig aufgelöst.
Was bisher geschah
Nach der Demonstration erlies die Staatsanwaltschaft KarlsruheStrafbefehle gegen den Versammlungsleiter, den Moderator und den Techniker der Demonstration. Mit reduziertem Strafmaß wurden die drei vom Amtsgericht Karlsruhe wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz Nötigung bzw. Beleidigung verurteilt.
Das Amtsgericht sah den Techniker in der Verantwortung für das Abspielen des Lieds "Polizei Osterei" der Hamburger Band "Fischmob". Durch die in diesem Lied vorkommende Textzeile "Wir wollen keine Bullenschweine" sahen sich die vier Polizeibeamten Karim Chergui, Jürgen Zimmer (beide Besondere Aufbauorganisation (BAO) Einsatz), Günther Reichenbacher und Frank Weingärtner (beide Staatsschutz Karlsruhe) persönlich beleidigt. Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten zu 60 Tagessätzen à 20 Euro.
Eine andere Kammer des Amtsgerichts Karlsruhe behandelte den Fall des Moderators, dem neben dieser Beleidigung auch Nötigung vorgeworfen wurde. Hier folgte der Amtsrichter dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft, der Moderator hätte zur Blockade der beiden Kreuzungen aufgerufen, wobei der jeweilige Verkehr für 8 bzw. 20 Minuten blockiert worden wäre. Wegen des Vorwurfs der Beleidigung durch oben genanntes Lied wurde er dagegen freigesprochen, so dass er zu 150 Tagessätzen wegen Nötigung verurteilt wurde.
Sowohl Angeklagte als auch Staatsanwaltschaft legten Berufung gegen die Urteile ein und das Landgericht entschied beide Prozesse zusammenzulegen.
Warum immer diese Verfahren
Mit den Verfahren soll eine überzogene Polizeistrategie gerechtfertigt werden, so die Einlassung des Moderators zu Beginn. Mit Taschenkontrollen, Spalier und Abfilmen wollte die Polizei die Proteste gegen Kapitalismus und Krise gleich zu Beginn delegitimieren. Nachdem die Verhandlungen über den Abzug des Spaliers erfolglos blieben, hat die Polizei letztlich den Abbruch der Demonstration provoziert. Er selbst nahm seine Rolle als Moderator durch die Darstellung der Situation wahr. Da er sich auf die Lage und die Ansagen konzentrierte, gehörten weder das Abspielen noch die Absprache über Lieder zu seinen Aufgaben. Auch wenn er sich ausdrücklich nicht von Blockaden distanzierte, sah er auch in den Aussagen und Vermerken der Polizei belegt, dass er nicht zum Blockieren aufrief, sondern nur beschrieb, warum die Demo stehengeblieben ist.
In der Nachbetrachtung wird die überzogene Polizeistrategie auch von der Polizei selbst eingeräumt. Seit der Demonstration am 1. Mai 2010 verzichten die Ordnungskräfte bei Demos in Karlsruhe auf umschließendes Spalier, die BAO und Auflagen. Seither zeigt sich, dass nicht das Versammlungsgesetz oder sonst was geändert werden muss, sondern sich die Polizeistrategie ändern musste, um Demonstrationen in Karlsruhe problemlos über die Bühne zu bringen.
Auch der Moderator äußerte sich kurz, dass er von den Veranstalter_innen für die Demonstration engagiert wurde und seine Aufgabe darin bestand, den LKW als Lautsprecherwagen auszurüsten und einzurichten. Den MP3-Player, von dem das Lied abgespielt wurde, hat er aus der Gruppe vor der Demonstration erhalten, ohne zu wissen, welche und wie viele Lieder sich darauf befinden.
Ich hatte den Eindruck, dass...
Als erster Zeuge wurde dann der Einsatzleiter der Demonstration Lutz Schönthal vernommen. Er bestätigte, dass der Techniker regelmäßig Demonstrationen betreut. Er hat das für vier Beamte als beleidigend empfundene Lied auch gehört, sich selbst aber nicht beleidigt gefühlt. Das Lied wurde außerdem nach gewisser Zeit unterbrochen.
Zum Vorwurf der Nötigung stellte er fest, dass der Moderator mehrfach auf das Polizeispalier hinwies und nach seinem Eindruck Stimmung gegen die Polizei machte. Er hatte das Gefühl, dass der Moderator die verbale Gewalt über die Demonstration hatte. Ob es einen Aufruf zur Blockade gab, wusste er nicht genau. Auch an stehende Autos konnte er sich bestenfalls vage an einer Stelle erinnern. Auf die Vorhaltungen des Richter, dass der stehende Zug sich auf der vorgesehenen Demo-Route befand und laut Videoaufnahmen einzelne Autos die Kreuzung umfahren konnten, konnte er nur sagen, dass der Verkehr 8 bis 10 Minuten nicht zufällig behindert wurde.
Auch am Marktplatz sollen sich nach der Aussage von Schönthal 50-80 Menschen vor dem Hintergrund des vom Moderators artikulierten Unmuts auf die Schienen gestellt, gesetzt und gelgt haben. Während der etwa 20 minütigen Blockade wurde die Versammlung über eine Durchsage des Moderators für die Polizei völlig überraschend aufgelöst. Auch hier deutete sich an wie schwer, sich Nötigung fassen lassen würde. Denn auch am Marktplatz konnten zumindest aus einer Richtung Bahnen fahren und die Blockierer_innen befanden auf der vorgesehenen Wegstrecke. Da am Marktplatz ohnehin eine Zwischenkundgebung vorgesehen war, musste es sich bei der von Schönthal wiedergegeben Ansage des Moderators "Wir bleiben jetzt hier stehen" nicht um einen Aufruf zur Blockade handeln. Desweiteren wäre auch hier durch den vorgesehenen Demonstrationsverlauf sowieso eine Beeinträchtigung des Bahnverkehrs entstanden.
In einem ungewöhnlich zurückhaltenden Auftritt konnte auch der Leiter der BAO Einsatz Jürgen Zimmer kaum genaue Wortlaute der Durchsagen oder Details zu tatsächlich stehenden oder behinderten Fahrzeugen beitragen. Einzig die Erinnerung, dass vom Lautsprecher das Wort "Blockade" fiel hatte er mal wieder als einziger und im Widerspruch zu anderen Aussagen von Polizei und Ordnungsamt. Überraschen vor allem, da sein eigener Aktenvermerk vier Tage nach der Demo davon spricht, dass die Demonstration aus nicht nachvollziehbaren Gründen zum Stillstand kam und erst danach die Gründe des Stillstands über den Lautsprecherwagen durchgesagt wurde. Da direkt nach Durchsagen zum Rückzug des Spaliers das Lied "Polizei Osterei" gespielt wurde, fühlte er sich persönlich beleidigt. Auch wenn immer wieder Durchsagen zum engen Polizeispalier gemacht wurden und das Lied nach dem Einwirken der Polizei auf die Versammlungsleitung vorzeitig beendet wurde, stellte er mit Kollegen Strafantrag.
Zwei weitere Zeugen der BAO Einsatz konnten auch nichts konkreteres beitragen. Heiko Krieg war mit der Videographie der Demo beauftragt. Er hörte auch das Lied ohne sich beleidigt zu fühlen und sah zum Zeitpunkt des Abspielens nur eine Person auf dem Lautsprecherwagen. Auch der stellvertretende Zugführer Karim Chergui, konnte über "Weg mit dem Polizeispalier" hinaus aus seinen Protokollen oder der Erinnerung keine weiteren Wortlaute wiedergeben. Auch er fühlte sich durch das Lied persönlich beleidigt.
Als letzter Zeuge trat Günther Reichenbacher (Staatsschutz Karlsruhe) auf. Ohne sich genauer erinnern zu können, sprach er davon, dass die Demonstration nach einem Aufruf des Moderators zum Stehen kam und auf den Kreuzungen "überhaupt kein Verkehr" mehr möglich war. Außerdem beschrieb er länger seine Einschätzung, warum er sich mit dem Abspielen des Lieds beleidigt fühlte. Er sah eine passende Dramaturgie, bei der das Lied auf Parolen folgte. Beim Moderator und dem Techniker handele es sich um ein "eingespieltes Team", bei dem "jeder sein Ding machte" und das die "Aktion vorher geplant hatte". Tatsächliche Beobachtungen über Absprachen zwischen dem Moderator und dem Techniker hat er nicht gemacht, es handele sich viel mehr um ein Gefühl, da der Moderator aus seiner Sicht immer aggressiver auftrat.
Danach wurden noch die Aussagen vom Amtsgericht des polizeilichen Führungsassistenten Leopold vorgelesen, der in einer Zeittafel zwischen Stehenbleiben der Demonstration und dem Abspielen des Liedes keine besonderen Durchsagen vermerkte. Außerdem wurde verlesen, dass Gerda Goschi vom Ordnungsamt Karlsruhe aussagte, dass der Moderator nichts von Blockade sagte und nicht dazu aufrief.
Nach dem Verlesen der Auflagen zur Demonstration, die ein zügiges Überqueren der Kreuzungen verlangten und Blockaden untersagten, folgte die Sichtung der Videoaufnahmen, die an den beiden Kreuzungen stehende Demonstrationsteilnehmer_innen zeigten.
Von B(locki)ären, Bullen und Schweinen
Damit schloss die Beweisaufnahme und Staatsanwalt Oliver Walter kam zum Plädoyer, in dem er sich auf den ergangenen Strafbefehl und die Einschätzungen der Polizeibeamten stützte. Er sah die zwei Blockadeaktionen von acht bis zehn bzw. 20 Minuten ausgelöst durch Aufforderungen des Moderators. Diese Blockaden lösten zu lange Verzögerungen und eine unverhältnismäßige Störung des Verkehrs aus. Insofern sah er den Vorwurf der Nötigung als erfüllt an. Für die Beleidigung sah er beide verantwortlich. Die Einlassung des Technikers, nicht zu wissen, was er abspielt, sei wenig glaubhaft und auch der Moderator sei verantwortlich, da er faktischer Versammlungsleiter gewesen sei und Reden und Musik steuerte. Er forderte daher den Techniker wegen Beleidigung zu 90 Tagessätzen und den Moderator wegen zusätzlicher Nötigung zu 180 Tagessätzen zu verurteilen.
Die beiden Verteidiger forderten daraufhin Freispruch. Der Anwalt des Moderators führte aus, dass sich die Staatsanwaltschaft allein auf Vermutungen und Einschätzungen stütze. Für die Beleidigung gibt es außer dem Gefühl des Staatsschutzbeamten, es hätte theatralisch gut gepasst, keine Tatsache wie Absprachen oder Aufforderung, wodurch sich sein Mandant der Beleidigung schuldig gemacht hat. Nötigung ist ein äußerst schwer zu fassender Straftatbestand. Das Gesetz fordere Drohung oder Gewalt, was beides nicht erfüllt ist, da eine Drohung nicht erkennbar und Sitzen keine Gewalt ist und auch Autos nicht blockiert waren, sondern weiterfahren konnten.
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil die Rechtslage genauer und eigentümlich definiert. Wenn ein Auto durch eine Menschenansammlung nicht weiterfahren kann, ist dies noch keine Gewalt. Erst wenn ein weiteres Auto hinzukommt und dies dann durch das vorherige Fahrzeug zum Halten gezwungen ist, liegt Gewalt vor und der Straftatbestand der Nötigung komme in Betracht. Allerdings konnten die zeugen sich nicht an Ansammlungen von Fahrzeugen erinnern und sie sind auch nicht dokumentiert. zudem konnte kein Zeuge einen Wortlaut des Moderators wiedergeben in dem er zu Blockaden aufgerufen hätte. Vielmehr wurde genau dies von der Aussage von Gerda Goschi und dem Aktenvermerk Jürgen Zimmers widerlegt. Daher forderte er Freispruch aus tatsächlichen Gründen für seinen Mandanten.
Der zweite Verteidiger konzentrierte sich auf die Beleidigung. Der Techniker wurde von den Veranstalter_innen der Demo engagiert und konnte die große Menge an Musik auf dem MP3-Player nicht komplett kennen. Zudem konnte er durch seine Position hinter den Boxen keinen Text, sondern nur Bass verstehen und das Lied wurde auch nach Hinweis der Ordner_innen der Demo vorzeitig gestoppt. Zudem handele es sich nach Rechtsprechung des BVG um ein Kampflied, das durchaus zum revolutionären Inhalt der Demo gepasst hat. Daher ist der der Techniker aus tatsächlichen Gründen freizustellen, wobei das Gericht zusätzlich die Freiheit der Kunst und Kollektivbeleidigung zu prüfen hat.
Was für ein Theater
Nach einer fast doppelt so langen Beratung wie vorgesehen, sprach Richter Fernando Sanchez-Hermosilla das für Verteidigung und Staatsanwaltschaft überraschende Urteil. Beide Angeklagten sind der Beleidigung schuldig, der Moderator aber vom Vorwurf der Nötigung freizusprechen. Der Techniker wurde zu 40 Tagessätze à 15 Euro und der Moderator wegen Vorstrafen zu 90 Tagessätze à 20 Euro verurteilt.
In seiner kurzen Urteilsbegründung folgte das Gericht, der Einschätzung von Günther Reichenbacher, nachdem die Dramaturgie im Streit um die Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes passte. Die Parolen der Demonstrationsteilnehmer_innen ("Jetzt und hier, weg mit dem Spalier"), die Durchsage des Moderators, die Polizei soll sich zurückziehen und das Abspielen des Liedes ergebe ein zusammenhängendes Bild. Beide hätten genau gewusst, welches Lied sie spielen und sich über den beleidigenden Inhalt bewusst gewesen. Da der Techniker die Anlage aufbaute und betreute sei er ebenso verantwortlich wie der Moderator. Die Kammer sei überzeugt, dass er gemeinsam mit dem Techniker Einfluss auf die Musik genommen hat, da sie gemeinsam auf dem Lautsprecherwagen standen und nach der Überzeugung des Gerichts der Moderator faktisch die Versammlungsleitung in der Hand gehabt hätte. Sanchez-Hermosilla bemerkte selbst, dass die Kammer über keine handfesten Beweismittel verfüge, aber in ihrer Entscheidung habe die Dramaturgie der Ereignisse ausgereicht.
Im Fall der Nötigung musste die Kammer aus tatsächlichen Gründen freisprechen. Die Beweisaufnahme brachte keine greifbaren Geschädigten, nach der geltenden BVG-Rechtssprechung konnten keine zwei stehenden Fahrzeuge ermittelt werden und das Video belegte vielmehr, dass Autos noch fahren bzw. ausweichen konnten. Außerdem waren die Aussagen zu einem möglichen Aufruf zur Blockade bei den Zeug_innen bestenfalls widersprüchlich. Doch selbst wenn all dies als erwiesen angesehen würde, müsste auch die Mittel-Zweck-Relation zu einem Freispruch führen. Denn wenn überhaupt einige stehende Fahrzeuge stehen einem politischen Anliegen und 600 stehenden Menschen auf der vorgesehenen Demo-Route gegenüber, die nach einiger Zeit ohne besonderen Druck der Polizei wieder weitergingen. Auch im Bahnverkehr waren ohnehin durch die Demonstration Beeinträchtigungen eingeplant. Die Verzögerung durch die Blockaden konnten über die vorgesehene Ad-Hoc-Steuerung des anwesenden Straßenbahnmeisters aufgefangen werden.
Insofern hinterlässt einer der letzten Demonstrationsprozesse in Karlsruhe einen zwiespältigen Eindruck. Der Freispruch zur Nötigung ist eine Erleichterung. Doch der Schuldspruch wegen gemeinschaftlicher Beleidigung allein aus subjektivem Empfinden sowie den Eindrücken und Einschätzungen der Polizeibeamten hinterlässt auch für die Zukunft einiges an Unbehagen. Gegen das Urteil ist noch eine Revision beim Oberlandesgericht möglich.