Der folgende Überblick über die Ereignisse in San Marcos Avilés basiert auf Aussagen der Zapatist*innen der Gemeinde selbst und auf Berichten von Menschenrechtsbeobachter*innen.
1. Der Aufstand
Vor dem offiziellen Beginn des zapatistischen Aufstandes 1994 war das Gebiet von San Marcos Avilés, im Hochland im nördlichen Chiapas, eine große Hacienda, also Landbesitz in den Händen einer einzigen Familie. Die indigenen Familien, die auf der Hacienda arbeiten mussten, litten unter äußert schlechten Lebensbedingungen. Es wurde nur wenig Platz für den Anbau von Lebensmitteln zum eigenen Bedarf bereitsgestellt, so dass nur wenige Einwohner*innen ernährt werden konnten. In Folge der Erhebung am 1. Januar 1994 wurde das Gebiet von Zapatist*innen besetzt und fortan als widerständige Gemeinde autonom organisiert.
Die Bewohner*innen bauten von nun an Mais, Kürbise und Bohnen für den eigenen Bedarf an, dazu ein wenig Kaffee für den Verkauf, um lebensnotwendige Materialien kaufen zu können. Daneben gibt es Schweine, Hühner und Truthhähne sowie einige Bananenbäume. Viele streunende Hunde leben bei den Familien. Seitdem die Menschen ihr Land selber bewirtschafteten, konnten auch mehr Bewohner*innen ernährt werden. Mittlerweile gibt es einige hundert Familien in der rund sechs Stunden Fahrzeit von der Touristenstadt San Cristóbal de Las Casas entfernten Gemeinde.
2. Die Spaltung
Am Anfang des Aufstandes hatte die gesamte Gemeinde die Guerilla der EZLN unterstützt, man war eine zapatistische Unterstützungsbasis (base de apoyo). 1998 wurde die Gemeinde als Ejido (unverkäufliches Gemeindeland in Besitz der Regierung aber von indigenen Einwohner*innen zum Eigenbedarf bewirtschaftet) legalisiert. Dies war für die Regierung die beste Taktik, um nicht komplett die Kontrolle über die Gemeinden zu verlieren, ohne gegen sie direkt militärisch vorgehen zu müssen. Die Legalisierung war so auch eingebettet in ein weitreichendes Konzept der Aufstandsbekämpfung bzw. den Krieg niederer Intensität, einer Strategie, die in den USA entwickelt wurde. Diese Strategie sieht unter anderem vor, aufständische Gemeinden zu spalten, den Konflikt wieder in die Gemeinden zurück zu tragen und langfristig die Unterstützungsbasen der Kämpfer*innen in den Dörfern durch Zermürbung aufzulösen.
Ab diesem Zeitpunkt spalteten sich rund ein Drittel der Bewegung dieser Gemeinde ab und trat den offizellen staatlichen Parteien bei. Dabei vollzog sich die Spaltung auch direkt durch einzelne Familien. Ein Drittel blieb in der zapatistischen Bewegung und ein Drittel blieb anfangs neutral.
Heute sind zwei Drittel der Bewohner*innen Regierungsanhänger*innen. Gründe für diese Abpaltungen und Parteieintritte waren vor allem ökonomische Anreize in Form von Begünstigungen durch Regierungsprogramme und finanzielle Unterstützung, welche von der Regierung gezielt eingesetzt wurden um einzelne Mitglieder der zapatistischen Unterstützungsbasis "abzuwerben". Anreize waren so beispielsweise Gelder für Zement (die Häuser sind fast alle aus Holzbrettern, einige aus Lehm gebaut), Alkohol, Gelder zum Bau von Straßen oder für die Einrichtung einer Kirche, Werkzeuge, technische Geräte oder Nutztiere.
Gleichzeitig wurde nun durch die mittlerweile in Parteien organisierten Einwohner*innen der Druck auf die übrigen, in der zapatistischen Bewegung Verbliebenen, erhöht und gegen sie gehetzt. Dies führte zur Spaltung der Gemeinde mit einer zunächst nur latenten Konfliktsituation.
Das Gemeindeleben wurde weitestgehend gemeinsam organisiert, in Form von Gemeindeversammlungen und -entscheidungen. Die zapatistischen Kinder besuchten zusammen mit nicht zapatistischen Kindern die staatiche Schule. Dennoch herrschte eine angespannte Stimmung. Der Druck auf die Zapatist*innen wurde systematisch erhöht. Dies zeigte sich beispielsweise durch Diebstähle, Bedrohungen, die Verbreitung von Gerüchten oder durch Ausschluss. Zum Beispiel wurde dem gemeinsamen Dorfpfarrer verboten für die zapatistischen Anhänger*innen zu predigen.
3. Die Eskalation
Die Eskalation des Konfliktes erfolgte durch die Einrichtung einer eigenen autonomen Schule durch die Zpatist*innen im Sommer 2010, in Ausübung ihres auch völkerrechtlich abgesicherten Rechts auf Selbstbestimmung. Dabei handelten sie, entsrechend ihrer rebellischen autonomen Organisierung und dem zapatistischen Streben nach dem Aufbau autonomer, regierungsunabhängiger Strukturen, ohne die vorherige Erlaubnis der Ejidoautoritäten. Diese sehen darin eine Abspaltung der Zapatist*innen vom Gemeindeleben. Obwohl sie das Schulgebäude auf ihnen echtlich zugestandenem Land errichteten und damit die nicht zapatistischen Gemeindemitglieder in keiner Weise beeinträchtigen oder übervorteilen, setzten parteiangehörige Gemeindeautoritäten die Zapatist*innen massiv unter Druck um die Inbetriebnahme der Schule zu verhindern. So wurde einer der zapatistischen Compas willkürlich als Verantwortlicher ausgemacht und für einen Tag eingesperrt sowie aufgefordert eine hohe Strafe zu zahlen und aus der Bewegung auszutreten. Da sich die Zapatist*innen weigerten, sich der Repression zu beugen, eskalierte die Situation.
Die Aggressor*innen begannen ihre Ernten zu rauben, Felder zu zerstören und bedrohten die 30 zapatistischen Familien, ca. 170 Kinder, Frauen und Männer, mit Waffen, worauf diese am 9. September 2010 aus ihrer Gemeinde flüchten mussten. Sie verbrachten 1 Monat und 3 Tage im Exil in den Bergen, einige Kilometer von ihrer Gemeinde entfernt, unter einfachen Zeltplanen, währendsessen sie Hunger, Kälte und Furcht litten. Mit Hilfe und in Begleitung der Menschenrechtorganisation Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) aus San Cristóbal de Las Casas, der Junta von Oventic (´Rat der Guten Regierung`, regionales, autonomes zapatistisches Verwaltungsgremium) und internationalen Menschenrechtsverteidiger*innen konnten die Vertriebenen wieder in ihre Gemeinde zurückkehren, wo sie allerdings ihre Ernten geraubt, ihre Felder zerstört oder besetzt und ihre Häuser geplündert vorfanden. Bis zum jetzigen Zeitpunkt (September 2012) wurden den zapatistischen Familien rund 40 Hektar Anbauland gestohlen. Da die indigene Landbevölkerung in Chiapas ihre Lebensgrundlage hauptsächlich durch Subsistenzwirtschaft sicherstellt, sind de zapatistischen Familien durch die Zerstörung und Besetzung ihrer Felder massiv in ihrer Existenzsicherung bedroht.
Als die Solidaritätsgruppen wieder abzogen, begannen die Aggressionen aufs Neue. Seit dem finden weiterhin unrechtmäßige Landenteignungen, Zerstörung von Ernten und Feldern sowie tägliche Bedrohungen durch parteiangehörige, nicht zapatistische Gemeindemitglieder statt. Für die Angriffe sind rund 30 Aggressor*innen innerhalb der Regierungsanhänger*innen verantwortlich. Die Namen der Aggressor*innen sind alle bekannt, auch dem Menschenrechtszentrum Frayba. Aufrgund der prekären Sicherheitslage der zpatistischen Familien wurde am 6. April 2011 ein ziviles Friedenscamp für internationale Menschenrechtsbeobachter*innen eingerichtet. Diese sollen Menschenrechtverletzungen dokumentieren sowie durch ihre Präsenz den Handlungsspielraum der Aggressor*innen einschränken und den der Betroffenen erhöhen. Die Junta von Oventic beschloss außerdem, dass die zapatistischen Compas nicht mehr auf die regelmäßig stattfindenden Gemeindeversammlungen gehen (die von den Regierungsanhänger*innen dominiert werden), und dass sie keine Steuern und keinen Strom mehr bezahlen sollen. Beides wurde bis 2010 bezahlt, bevor man es völlig einstellte.
4. Weitere Probleme
Neben der allgemeinen prekären Ernährungs- und Sicherheitssituation hatten die zapatistischen Familien seit ihrer Wiederkehr mit verschiedenen Problemen zu kämpfen. Einige davon sollen hier aufgelistet werden:
- Ende Aprill 2011 wurde die einzige autonom verwaltete Apotheke der Region durch Brandstiftung zerstört. Die Zapatist*innen haben darüber hinaus kaum Zugang zu medizinischer Versorgung.
- Ebenfalls im April 2011 wurden zahlreiche Bäume auf kollektiv genutztem Ejidoland von Unbekannten gefällt, wahrscheinlich um das Holz zu verkaufen oder individuell zu nutzen. Für dieses Vergehen, an kollektivem Eigentum, sollten die zapatistischen Familien zu Unrecht verantwortlich gemacht werden.
- Durch ökonomische Anreize, wie finanzielle und materielle Unterstützungen, versucht die chiapanekische Regierung sowie die verschiedenen offiziellen politischen Parteien die indigene Landbevölkerung für sich zu vereinnahmen und schürt so die Spaltung in San Marcos Avilés und anderen Gemeinden weiter. Die Spaltung wird dabei vorangetrieben durch Strategien des Krieges niederer Intensität. Mittels Einschüchterungen und Verbreitung von Gerüchten, Erpressung und Bestechung, unrechtmäßigen Enteignungen und Vertreibungen, Entführungen und Verschwindenlassen von Personen, illegale Verhaftungen und Folter sollen die Menschen in einem Zustand permanenter Unsicherheit und Angst gehalten werden und eine Spaltung der Zivilbevölkerung im Allgemeinen, und der zapatistischen Unterstützungsbasen im Besonderen sowie die Isolierung der EZLN von ihrer zivilen Basis bewirkt werden. Bei dieser Art psychologischer Kriegsführung werden vor allem paramilitärische Gruppen, zum Teil selbst in Armut lebende Bauern und Bäuerinnen, als Handlanger der Regierung instrumentalisiert, um die Konflikte als ethnische und/oder gemeindeinterne Auseinandersetzungen darzustellen.
- Die parteiangehörigen Gemeindemitglieder besitzen Schusswaffen, organisieren sich gegen die Zapatist*innen, suchen Verbündete in den umliegenden Gemeinden und vertiefen Kontakte zu staatlichen Behörden und Angehörigen des Militärs. Dieses Vorgehen passt zu den Konzepten der mexikanischen Regierung, welche bereits ein Drittel ihres Militärs in Chiapas stationiert hat. Sie versuchen eine Militarisierung der Region voranzutreiben, mit dem Ziel dadurch den Handlungsspielraum der Zapatist*innen einzuschränken und die aufständischen Familien einzuschüchtern.
- Ende August 2011 starben zwei Kinder, eines im Säuglingsalter und ein Mädchen von 10 Jahren. Die genauen Ursachen sind nicht ganz klar, aber wahrscheinlich ist, dass zumindest das Mädchen eine Typhusinfektion hatte, durch verunreinigtes Wasser und Lebensmittel. Ein Arztbesuch und Medikamente konnten gegen das Fieber nichts ausrichten, wobei es auch wahrscheinlich ist, dass nicht die richtigen Medikamente verschrieben wurden. Neben häufigen Fieber- und Durchfallerkrankungen, durch Parasitenbefall, leiden vor allem die Kinder unter Mangelernährung, besonders Mineral- und Vitaminmangel. Diese Kombination erzeugt eine hohe Kindersterblichkeitsrate (in Chiapas die zweithöchste Rate bundesweit), durch meist leicht behandelbare Krankheiten, wenn der Zugang zu medizinischer Versorgung nicht möglich bzw. nicht bezahlbar ist.
- Im April 2012 wurden die zapatistischen Compas gezwungen, einen kaputten Strommast zu reparieren, da man anonsten "gegen sie vorgehen würde". Da so viel Geld nicht zur Verfügung stand, musste das Menschenrechtszentrum Frayba um Hilfe gebeten werden.
- Nachdem das Regierungsprogramm FANAR, welches die Landvergabe rechtlich regelt und von den Aggressor*innen gegen die Zapatist*innen eingesetzt wurde - ursprünglich von Zapatist*innen besetztes Land soll nachträglich legalisiert und auf Regierungsanhänger*innen übertragen werden - im Mai 2012 auf Druck von Frayba und Oventic kurzzeitig ausgesetzt wurde, wurde es im Juli 2012 wieder aufgenommen. Dies geht einher mit einer neuen Selbstsicherheit der Aggressor*innen und somit einer stärkeren Bedrohung sowie Unsicherheit der zapatistischen Compas.
- Durch den Sieg von Peña Nieto und der PRI (Partei der Institutionellen Revolution) bei den Wahlen vom 1. Juli 2012 auf Bundesebene sowie der PVEM (Grüne Ökologische Partei Mexikos) auf Kommunalebene (Chilón) hat sich die Sicherheitssituation für die Zapatist*innen und die Andere Kampagne (mexikoweite soziale Bewegung) im Allgemeinen und für San Marcos Avilés im Speziellen deutlich verschlimmert. Von 1929 bis 2000 herrschte die PRI mehr oder weniger uneingeschränkt in Mexiko. Dabei machte die regelmäßig mit Korruptionsvorwürfen konfrontierte Partei ihre Position zu den Menschenrechten deutlich. Die Massaker an den protestierenden Student*innen 1968 am Platz der drei Kultuen, die Einführung des Freihandelsabkommen NAFTA 1994 sowie das Massaker von Acteal 1997 an explizit pazifistischen indigenen Sympathisant*innen fallen unter anderem in die Zeit ihrer Regentschaft.
5. Die neue Bedrohung
Am 6. August 2012 kündigten staatstreue Aggressor*innen an, die zapatistischen Compas "in den nächsten Tagen zu attackieren", woraufhin es zu einer öffentlichen Bitte der Zapatist*innen von San Marcos Avilés um internationale Unterstützung kam. Die Andere Kampagne New York produzierte daraufhin mit den zapatistischen Einwohner*innen von San Marcos Avilés eine Videobotschaft und begann die weltweite Mobilisierung gegen die Aggressionen.
Link Videobotschaft der Zapatist*innen von San Marcos Avilés und der Otra Nueva York: