Niedersachsen: Abschieben um jeden Preis

Break Isolation

 Die Strategien des Innenministeriums hinterm niedersächsischen Abschiebeterror und den Gerichtsverfahren gegen FlüchtlingsaktivistInnen (VG Braunschweig, 21.9., 10.30 Uhr) und AntirassistInnen (AG Gifhorn, 25.9., 13 Uhr)
Am kommenden Freitag werden vorm Verwaltungsgericht Braunschweig ab 10.30h zwei Fragen verhandelt: Hat sich der aus Dagestan geflohene Familienvater I. strafbar gemacht, als er im Rahmen von „Maßnahmen zur Identitätsfeststellung“ die Abgabe seiner Fingerabdrücke verweigerte? Und die zweite, zentrale Frage: Wird I., der mit seiner vierköpfigen Familie seit 11 Jahren unter den zermürbenden Bedinungen der Duldung lebt, ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Reiseunfähigkeit zugestanden?
Zudem wird am 25.9. vorm Amtsgericht Gifhorn ab 13 Uhr eine antirassistische Aktivistin angeklagt, während des Verhörs von I. Am 6.4.2011, dem sie (bis zu ihrem gewaltsamen Rausschmiss) als Zeugin beiwohnte, Beamten beleidigt zu haben und I. bei der „Verletzung seiner Mitwirkungpflicht“ Beihilfe geleistet zu haben (1) https://linksunten.indymedia.org/en/node/67245

 

Beim ersten Verfahren dreht es sich im Prinzip um die Frage, inwiefern I. gezwungen ist, sich der Vielzahl an schikanösen Maßnahmen zu beugen, die vom Land Niedersachsen eingesetzt werden, um seine Weigerung zu brechen, bei der eigenen Abschiebung mitzuwirken. Die Fingerabdrücke hatte er bereits vor 11 Jahren beim Asylantrag abgegeben, wodurch sich die Maßnahme bereits als Schikane offenbart. Als eine von vielen wohlgemerkt. Die Familie musste eine Vielzahl von direkten Drohungen, Drohanrufen, Anzeigen, eine Hausdurchsuchung und die Weiterleitung von persönlichen Daten an den Staatsschutz über sich ergehen lassen, nachdem sie begonnen hatte, die Zustände im Lager Meinersen öffentlich zu kritisieren und sich in überregionalen Netzwerken zu organisieren. Begründet wurden die Repressalien stets mit der offiziell nicht geklärten Identität der Familienmitglieder, was dauerhaft die Abschiebung verhinderte.

Zusammengenommen mit den ohnehin zermürbenden Bedingungen von Lagerisolation, Perspektivlosigkeit, erzwungener Armut (Gutscheine+Arbeitsverbot), mangelnder medizinischer Versorgung und der permanent erneuerten Angst vor Abschiebung klagt I. im zweiten Verfahren auf ein Aufenthaltsrecht, weil er nach elf Jahren unter derartigen Bedingungen körperlich und psychisch nicht mehr in der Lage ist, abgeschoben zu werden und seiner Familie ein Leben in Dagestan („The most dangerous place in Europe“ (2) ) zu ermöglichen.

 

Du Arschloch, du bist kein Mensch, du bist ein Schwein. Ein russischer Idiot bist du.“

 

Einen Eindruck von der Qualität des Abschiebeterrors gegen I. lässt sich durch das Protokoll (3) seiner Anhörung in der Lüneburger Landesaufnahmestelle vom 6.4.2011, gewinnen, in dessen Folge die Anzeigen gegen die begleitende Aktivistin entstanden sind.:

 

"(…) Die Zeugin musste hinter Herrn I. und keinesfalls neben oder vor ihm sitzen.

Herr I. wurde nach seinem Namen gefragt. Herr I. sagte nichts und hat sich über die Zeitung Break the Isolation gebeugt und hat gelesen. Der Beamte stand auf, kam Herrn I. immer näher und näher und hat ihm die Zeitung weggerissen.

Der Beamte sagte: "§14 gilt nicht mehr" und schrie die Zeugin an "Sofort raus!"

Die Zeugin bestand darauf, zu bleiben - laut 14 Abs. 4. Der Beamte brüllte: "Dieses Gesetz gilt nur für anerkannte Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus und nicht für Geduldete!"

Herr I. wurde angeschrien, ob er die Aussage verweigert. Er sagte aber nichts. Dann schrie der Beamte: "Sind sie schwerhörig? Den Affenzirkus machen wir nicht mehr mit", kam Herrn I. sehr nah (ca. 5 cm. Abstand) ans Gesicht und schrie laut: "Arschloch".

Dann wurde Herr I. sehr laut angeschrien "Raus hier!". Wohin ist unklar.

Die Zeugin blieb im Verhörraum. Es wurde Druck auf die Zeugin ausgeübt. Die Zeugin wurde sehr laut angeschrien. Der Beamte wurde gegenüber der Zeugin sehr körperlich zudringlich.

Die Zeugin wurde auf eine Vollmacht von Herrn I. hingewiesen. Sie benötige angeblich eine Vollmacht. Kommentar vom Beamten: „Betrug des deutschen Staates, Mitwirkungsverweigerung...“

Die Zeugin wurde rausgeschmissen/rausgeschubst.

Herr I. wurde wieder reingeholt und ab da ging es richtig los. Herr I. wurde sofort angeschrien. Der Beamte kam ihm erneut körperlich nah und schrie los: "Du Arschloch, du bist kein Mensch, du bist ein Schwein. Ein russischer Idiot bist du. Dir werde ich‘s noch zeigen. Ich werde dich und deine Familie zerstören. Wenn du nicht sofort redest, wirst du hier den ganzen Tag ohne Essen und ohne Toilette bleiben, und deine Frau wird zu Fuß nach Gifhorn gehen!“ Herr I. sagte nichts. (…) "

 

 

Niedersächsisches Innenministerium: „Besonders hartnäckige Leute weichkriegen“

 

Dass weder die Hausdurchsuchung ein überzogener Vorstoß der Ausländerbehörde Gifhorn, noch solch übergriffige Verhöre durch BeamtInnen bloß individuelle Ausraster darstellen, sondern den gewollten Teil einer Abschiebe-Strategie darstellen, zeigen Aussagen von Ministeriumsangestellten, die im Rahmen strategischer Austauschtreffen auf Bundesebene gemacht wurden. Hier spielen Berichte eine Rolle, die verschiedene „Praktiker-Treffen“, also Konferenzen zur Optimierung von Abschiebungen dokumentieren. Zu diesem Zweck kommen in unregelmäßigen Abständen und Konstellationen u.a. VertreterInnen von Innenministerien (Bund+Länder), Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zentralen Ausländerbehörden einiger Länder, Bundespolizei und Gerichten zusammen.

So konstatierte die „AG Rück“ 2011 in ihrem internen Bericht über „Vollzugsdefizite“ (4) [bei Abschiebungen]:

 

Die beste Chance an verwertbare Informationen zu kommen stellt dabei eine intensive und nachdrückliche Befragung und gegebenenfalls wiederholte Befragungen dar. Aus den damit zu gewinnenden Informationen können dem Betroffenen Mitwirkungshandlungen auferlegt werden (Ansto- und Hinweispflicht), es können eigene Recherchen angestellt werden und es können Hinweise auf strafbare Handlungen (falsche oder

unvollständige Angaben) gewonnen werden.“ (S. 11)

 

Der empfohlene „Lösungsansatz“, der mit Blick auf das aggressive Verhör von I. umso zynischer erscheint:

 

Zumindest bei Personen, bei denen Zweifel an der Herkunft bestehen, und bei

Personen, die aus Staaten kommen, in die zurückgeführt werden kann, sollte im Falle

fehlender Identitätsnachweise grundsätzlich eine vertiefte individuelle Befragung

durchgeführt werden.

Diese Art der Befragungen ist zeitintensiv und erfordert geschulte Mitarbeiter. Im

Bedarfsfall müssen die Personalressourcen dazu verstärkt werden.“

 

Gabriele Stellmacher, die als Stellvertretende Referatsleiterin im Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport an einer ähnlichen Konferenz 2006 teilnahm, äußerte sich vor dem Hintergrund ebenfalls eindeutig zum Umgang mit Abzuschiebenden; hier im Zusammenhang mit den sog. Ausreiseeinrichtungen, die als Sonderlager zum endgültigen Brechen von Menschen dienen, die sich der Mitwirkung bei ihrer Abschiebung verweigern:

 

Es ist nach dem Konzept vorgesehen, dass alleinstehende Identitätsverschleierer,

wenn sie hartnäckig ihre Identität verschleiern, zurückkommen sollen in die Ausreiseeinrichtung

und dort dann eben besonderen Interviews unterzogen werden, um dann noch

mal etwas zur Identitätsklärung zu machen. Ich habe das ja auch schon vorhin bei meinem

Beitrag gesagt. Es ist sogar so, man glaubt es ja nicht, auch solche hartnäckigen Leute

werden manches Mal weich; allein die Tatsache, dass so eine Ausreiseeinrichtung, also

ein Umzug ansteht, trägt auch schon mal dazu bei, dass die Identität preisgegeben wird.(S. 414)

 

Das Ergebnis dieser niedersächsischen Sonderlager sind allerdings nicht nur die wenigen Menschen, die sich letztendlich ihrer eigenen Abschiebung fügen, sondern vor allem auch Fälle wie der von Vahid Firouz, der am 24.6.2012 in der niedersächsischen „Ausreiseeinrichtung“ einen Suizidversuch unternahm. (6)

Gleichzeitig lässt sich dieses Muster der unbedingten Zerstörung von Menschen auch auf den Fall von der Familie I. übertragen. Mithilfe der empfohlenen „zeitintensiven, vertieften und gegebenenfalls wiederholten Befragungen“ sollen eben „besonders hartnäckige Leute weich werden“.

 

Die Praxis der Reisefähigkeitsbescheinigung zurücknehmen“

Die Tatsache, dass Menschen hierbei körperlich und psychisch zugrunde gerichtet werden, wird auch in Zukunft keine rechtlichen Konsequenzen für die GesetzgeberInnen und ausführenden Behörden bzw. BeamtInnen haben. Wenn es nach der Meinung der Mehrheitsbevölkerung ginge, würden die Bedingungen für Asylsuchende vermutlich noch gewaltsamer sein als ohnehin. Allerdings erkennen Gerichte regelmäßig Depressionen oder Krankheiten, die direkt mit den zermürbenden Maßnahmen der bundesdeutschen Politik zusammenhängen als Abschiebehindernisse an – ein Dorn im Auge der „Praktiker“. Wie so oft spielt auch hier Niedersachsen eine treibende Rolle bei der Ausschaltung rechtlicher Hindernisse bei der Abschiebung. Selbige Gabriele Stellmacher forderte im Namen Niedersachsens bereits 2006, das „Problem“ der zwingenden Prüfung der „Reisefähigkeit“ Abzuschiebender durch Ärzte einfach abzuschaffen:

 

(…) so dass wir, und Niedersachsen hat sich da speziell schon lange dafür ausgesprochen, durchaus der Auffassung sind, dass man diese Praxis mit der Reisefähigkeitsbescheinigung doch wieder zurücknehmen sollte. Wie man gesundheitliche Probleme in den Griff bekommen könnte, hat, denke ich, Herr Abgeordneter Grindel angedeutet. Man könnte es ja so machen, dass man dann eben vor dem Abflug noch die Person untersucht und damit dann sicherstellt, dass die Transportfähigkeit gegeben ist.“ (S. 414)

 

Genau um dieses „Problem“ geht es auch im zweiten Verfahren von I. vor dem Braunschweiger Verwaltungsgericht am Freitag: Der Terror gegen Flüchtlinge wird am Ende zum hausgemachten Abschiebehindernis. Das heißt natürlich nicht, dass die Aussichten I.s auf eine positive Entscheidung des Gerichts groß sind. Vor allem aber war es Niedersachsens Behörden und Innenministerium nie sehr wichtig, wie Gerichte zu Abschiebeverfahren stehen. So drohte die Ausländerbehörde Gifhorn Shambhu Lama im Frühjahr 2011 mehrfach mit Abschiebung innerhalb weniger Tage, obwohl das Braunschweiger Verwaltungsgericht sie angewiesen hatte, die Entscheidung über Lamas Eilantrag abzuwarten. Shambhu Lama nahm sich am 1.März 2011 das Leben. Zwei Wochen später erklärte das Gericht, dass ihm ein Aufenthaltsrecht zugestanden hat. (7)

In einem vom Ergebnis her gegenteiligen Fall setzte sich Innenminister Schünemann persönlich über die Entscheidung des Oberverwaltungsgericht hinweg. Eine Familie, die infolge der Gerichtsentscheidung getrennt und bis auf die älteste Tochter nach Vietnam abgeschoben wurde, holte Schünemann durch Kontakte zur Deutschen Botschaft in Hanoi nach zwei Monaten zurück ins niedersächsische Hoya. In diesem Fall konnte er die Abschiebung nicht vor der kurzzeitig erwachten „christlichen“ Überzeugung seiner ParteikollegInnen rechtfertigen. (8)

 

Dementsprechend bleibt wenig von den kommenden Gerichtsentscheidungen zu erwarten. Viel wichtiger ist es, die hier offenbarten wunden Punkte des Systems herauszustellen: Die Verweigerung von „Mitwirkung“ trifft das Abschiebesystem empfindlich. Genauso die Begleitung bei Anhörungen und die Veröffentlichung von behördlichen Vorgängen. Was die Gifhorner SchreibtischtäterInnen am meisten getroffen hat, waren Kundgebungen und Demos, auf denen die Flüchtlinge selber die zerstörerische Praxis öffentlich angeklagt haben. Dies gilt es vor allem weiterzutragen.

 

(1) „(Gifhorn) Antirassistin wegen Unterstützung von Flüchtlingen angeklagt!“ https://linksunten.indymedia.org/en/node/67245

 

(2) „Dagestan - the most dangerous place in Europe“

http://www.bbc.co.uk/news/magazine-15824831

 

(3) „Anzeige nach brutalen Verhörmethoden / Land ermittelt gegen Beamte“

http://thecaravan.org/node/2918

 

(4) „Ein Bericht über die Probleme bei der praktischen Umsetzung von ausländerbehördlichen

Ausreiseaufforderungen“

http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Newsletter_Anhaenge/171/2011-04_Bericht_AG_Rueck.pdf

 

(5) „Praktiker-Erfahrungsaustausch im Rahmen der Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes“

http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Veroeffentlichungen/Anlage_1_Evaluierungsbericht_Zuwanderungsgesetz.pdf;jsessionid=B7B6EFA6279A64944F75DED2D19F2242.2_cid231?__blob=publicationFile

 

(6) „Suizidversuch in der Landesaufnahmebehörde Bramsche - Proteste von Flüchtlingen“

http://thecaravan.org/node/3267

 

(7) „Abschied von einem Unerwünschten“

http://taz.de/Die-Bestattung-des-Asylbewerbers-Shambhu-Lama/!68312/

 

(8) „Die Nguyens sind wieder zurück in Hoya“

http://www.ndr.de/regional/niedersachsen/oldenburg/rueckkehr113.html