Wenn von Gefängnissen die Rede ist, schwingt meist eine von Gewalt geprägte Empfindung mit. So mag es dann wenig überraschend sein, wenn der ehemalige niedersächsische Justizminister und im Hauptberuf Kriminologie lehrende Professor Christian Pfeiffer, zusammen mit Steffen Bieneck, Mitte August 2012 eine Studie über „Viktimisierungserfahrungen im Justizvollzug“ (abrufbar unter http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fob119.pdf) veröffentlicht, die von einem hohen Maß an Gewalterfahrungen beredtes Zeugnis gibt.
Über die Studie
Als „Forschungsbericht Nr. 119“ beschreiben Bieneck und Pfeiffer auf 35 Seiten die Ergebnisse einer in fünf Bundesländern (Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen) im Zeitraum April 2011 bis Mai 2012 durchgeführten Studie. Befragt wurden 6.384 Gefangene (bzw. diese nahmen an der Studie teil, denn insgesamt wurden an 11.911 Inhaftierte Fragebögen verteilt, jedoch nur knapp die Hälfte gab dann auch die Fragebögen ausgefüllt zurück).
Über 25% der erwachsenen Männer, 25% der Frauen und sogar fast 50% der Jugendlichen berichteten, in den letzten vier Wochen des Erhebungszeitraums Opfer körperlicher Übergriffe seitens anderer Gefangener geworden zu sein. Sexuelle Gewalterfahrungen berichteten 4,5% der Männer, 3,6% der Frauen und 7,1% der Jugendlichen.
Opfer „indirekter Viktimisierung“, wie die Autoren der Studie das Verbreiten von Gerüchten, bzw. das sich über die Betroffenen lustig Machen bezeichnen, berichteten über 50% der Männer, 63% der Frauen und 57% der Jugendlichen. Direkt durch verbale Gewalt angegangen wurden nach der Studie jeweils knapp 40% der erwachsenen Frauen und Männer, bzw. 54% der jugendlichen Inhaftierten.
Folgen der Gewalt
Die meisten der Gefangenen, die Opfererfahrungen berichten, beklagen als unmittelbare Folge ein Gefühl der Hilflosigkeit, gefolgt von Zorn, Depression und Schlafstörungen. Berichtet werden jedoch auch blaue Flecken, Blutungen, offene Wunden, Knochenbrüche und innere Verletzungen.
Während Jugendliche überwiegend darauf verzichten, Vorfälle zur Anzeige – sei es der Polizei oder auch nur der Anstalt – zu bringen (57,5% berichteten, von einer Meldung Abstand genommen zu haben), wurde bei den erwachsenen Männern in 53,7% und bei den Frauen in 60% der Fälle der Vorfall angezeigt.
Wer sein schlimmstes Erlebnis nicht anzeigte, gab überwiegend an, dies deshalb nicht getan zu haben, „weil man das im Gefängnis nicht“ mache, gefolgt von der Angabe, nicht als Verräter gelten zu wollen oder Angst vor weiteren Übergriffen gehabt zu haben.
Mediale Rezeption der Studie
Schon am Tag des Erscheinens der Studie berichtete die Wochenzeitung „Die Zeit“ in ihrem „Dossier“ (http://www.zeit.de/2012/34/DOS-Gefaengnisse-Deutschland-Gewalt) vom 16.08.2012 unter der Schlagzeile „Die Schlechterungsanstalt“ ausführlich über die Studie aus Hannover. Auch die meisten überregionalen, wie auch viele lokale Zeitungen griffen die Studie auf.
Die ZEIT breitete auf drei Seiten die ungeschminkte Realität des aktuellen Justizvollzugs aus; erwähnte den Foltermord in der Jugendstrafanstalt Siegburg (am 11. November 2006 ermordeten drei Gefangene ihren Zellenkollegen), berichtete von sexuellem Missbrauch unter Gefangenen, Schlägereien wegen Streit um Drogengeschäfte. Nicht fehlen durfte auch die „Russland-Deutsche Subkultur“, die als lebender Leichnam durch die Köpfe und Behördenflure seit vielen Jahren zu geistern pflegt: danach hätten „Russland-Deutsche“ Gefangene viele Knäste in Deutschland „im Griff“, würden sich nur nach den Geboten der „Diebe im Gesetz“ (aus Sowjetzeiten stammende Regeln dortiger Lager) richten und den „heiligen Abschtschjak“ (eine Art Sozialkasse) finanziell unterstützen, und dies nur unter Zwang und auch Anwendung von Gewalt.
Kritische Bewertung
Manche ZeitungsleserInnen dürfte ein ebenso grausiges wie wohliges Schaudern überkommen haben, als sie von der Gewaltstudie lasen. „Es geschieht den Verbrechern doch recht. Sie waren es, die die Gesetze gebrochen, die Regeln verletzt haben, sollen sie sich doch untereinander selbst zerfleischen; was beschweren die sich denn jetzt, wenn sie beleidigt oder geschlagen werden, dazu noch von Ihresgleichen. Alles Pack!“, so oder so ähnlich dürften nicht wenige gedacht haben.
Andere mögen vielleicht Mitgefühl empfinden; denn auch Täter können zu Opfern werden.
Zumal die Studie ausdrücklich feststellt, dass jene Inhaftierten, die schon in ihrer Kindheit physische Gewalt erleben mussten, später häufiger selbst (erneut) Opfer von Übergriffen im Gefängnis wurden.
Ein wesentliches Manko der Studie ist freilich, dass nicht nach Gewaltausübung durch Bedienstete gefragt wurde; denn auch wenn körperliche Übergriffe von Beamten auf Gefangene möglicherweise weniger häufig geschehen mögen als unter den Gefangenen, so erleben sicher nicht wenige Gefangene durch Vollzugsbedienstete zumindest das, was die Autoren „indirekte, verbale oder psychische Viktimisierung“ nennen. Opfererfahrungen, die gleichermaßen zu Zorn, Hilflosigkeit, Depression, Schlafstörungen oder dem Gefühl der Erniedrigung führen. Hier stricken die Autoren der Studie an dem Bild der stets guten und fürsorglichen Staatsbediensteten, das einem Realitäts-Check kaum standhalten würde.
Zugleich blenden sie damit wesentliche Ursachen für Gewalt innerhalb der Subkultur der Inhaftierten aus, denn diese sehen ja alltäglich, wie die Beamten mit ihnen selbst umgehen. Das ist gewiss nicht die alleinige Ursache für Gewalt unter Gefangenen, dennoch sollte sie nicht unerwähnt bleiben.
Ob nun in dem ZEIT-Dossier oder in anderen Berichten, stets wird die erwähnte „Subkultur“ als Wurzel, wenn schon nicht allen, so doch vielen Übels identifiziert. Dabei wird dann übersehen, dass es sich um einen „sekundären Anpassungsmechanismus“ handelt, wie die Professoren Feest und Bung (AK-Strafvollzugsgesetz, 6.A., § 3 Rz.16) schreiben, der in einer totalen Institution wie dem Gefängnis die Funktion hat, den schädlichen Folgen der Institutionalisierung entgegenzuwirken.
Und ferner, dass die dann unter den Gefangenen ausgeübte Gewalt „institutionelle Ursachen“ haben kann und Teil einer Selbstbehauptungsstrategie darstellt.
Eine solche (selbstkritische) Sicht der Dinge ist freilich kaum von Vollzugspraktikern zu erwarten; erst recht nicht, wenn eine bayerische Justizministerin Merk (die ZEIT, a.a.O., S.14) mit den Worten zitiert wird: „Das System Strafvollzug funktioniert“. Das Gefängnis, so Merk weiter, mache Häftlinge zu brauchbareren Menschen. „Es wäre traurig, wenn ich daran nicht glauben würde – und unsere praktischen Erfahrungen geben mir recht“, lobpreist Merk sich und den bayerischen Vollzug.
Nach der Verhaftung und auch noch während des Strafprozesses interessiert sich die Öffentlichkeit (auch) für die „TäterInnen“; aber sobald sie in die Strafanstalt eingeliefert sind, erlischt jegliches Interesse. Dabei würde dann Aufmerksamkeit besonders Not tun, denn Gewalt braucht den Schutz des geschlossenen Raums, des Verschweigens und des Wegschauens. Aber dort, wo hingesehen, auf Menschen geachtet wird, selbst wenn diese zuvor Verachtenswertes getan haben mögen, geht Gewalt zurück.
Thomas Meyer-Falk, c/o. JVA-Z. 3113
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