"Die deutsche Linke wurde längst migrantisiert"

Erstveröffentlicht: 
09.08.2012

Eine stark identitätspolitische Auslegung der Theorie der »Critical Whiteness« spaltet die antirassistische Szene (Jungle World 36/2012). Die Jungle World sprach mit Vassilis Tsianos über deutschen Rassismus und Identitätspolitik. Der 43jährige lehrt in Hamburg Migrationssoziologie und Border Studies und ist Mitglied des Netzwerks Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. 1998 gehörte er zu den Gründern von Kanak Attak. Das Kollektiv wollte »einer breiten Öffentlichkeit ohne Anbiederung und Konformismus eine neue Haltung von Kanaken (Menschen) aller Generationen vermitteln«. Kanak Attak lehnte jegliche Identitätspolitik auf Grundlage ethnologischer Zuschreibungen ab.

 

Interview: Christian Jakob

 

Die antirassistische Szene diskutiert derzeit über linken Rassismus. Ausgehend von einem bestimmten Verständnis der Theorie der »Critical Whiteness« wird der Vorwurf erhoben, die Szene sei von weißen Männern dominiert, die nichts davon wissen wollen, dass sie von Rassismus profitieren. Wurde es für diese Debatte nicht höchste Zeit?


Jede Generation macht ihre eigene Erfahrung innerhalb der linken Subkultur, jede Radikalisierung geht einher mit der Skandalisierung der eigenen Suppe. Das ist völlig legitim. In meinem Fall zum Beispiel ging es um Deutschland und um den Antisemitismus. Was die sogenannten People of Color (PoC) jetzt machen – unter anderem auf den No-Border-Camps in Köln und Stockholm –, ist aber etwas anderes.

 

Warum?

Jede Form des Antirassismus beinhaltet Momente der Identitätspolitik. Aber mit etwas Glück ist es uns immer gelungen, aus der Identitätspolitik wieder kritisch rauszukommen. Bei denen ist es das Gegenteil. Sie schreiben die Differenzen fest. Und da hört die Ähnlichkeit mit früheren Generationen des Antirassismus auf. Die deutsche Linke wurde längst migrantisiert. Wir haben Euch infiltriert und dadurch für eine neue Zusammensetzung der Kampfeszyklen gesorgt. Das wird einfach ignoriert.

 

Es wird versucht, rassistische Haltungen von Weißen nicht länger hinzunehmen, sondern aus der Position einer betroffenen Minorität heraus anzugreifen. Genau das wollte Kanak Attak doch auch.


Die Migranten haben das bei ihren deutschen Genossen gemacht, die Feministinnen haben das bei den Männern gemacht, die Schwulen bei den Heten. Aber wir haben nie erwartet, dass sie unsere Erfahrungen nachvollziehen und respektieren, weil wir sie moralisch anrufen. Es war keine seminaristisch vorbereitete, ressentimentgeladene Erwartung, dass die Deutschen die frohe Botschaft der People of Color einfach annehmen.

 

Kanak Attak hatte also auch Ressentiments gegenüber Weißen. Welche waren das denn?


Viele. Wenn wir schlechte Laune haben, dann sind sie Kartoffeln, Schweine, was auch immer. Es gab Krisen, es gab Konflikte und diese Krisen waren das Beste, was wir mit den deutschen Genossen und den Antideutschen je entwickelt haben. Hier wird aber nun versucht, diese Art von Erfahrungen einfach abzuschneiden.

 

Sie spielen auf die Versuche an, Begriffe wie »rassismuskritisch« statt »antirassistisch« zu etablieren oder Begriffe wie »Flüchtling« zu ächten und Verstöße mit Redeverboten zu sanktionieren.


Das ist die habermassche kommunikative Kultur der Mittelschicht. Eine maßlose Überschätzung des Diskursiven. Sie versuchen, ein Konzept, das in ihren segregierten Uni-Seminaren funktioniert hat, der Bewegung zu oktroyieren. Das ist nicht nur ein methodischer Fehler, das ist auch extrem Deutsch. Das ist der absolute Ausstieg aus der Sprache des Ghettos, der absolute Ausstieg aus den kommunikativen Gepflogenheiten der migrantischen Communities.

 

Warum sollen die migrantischen Communities nicht versuchen, sich mit akademischen Mitteln zur Wehr zu setzen?


Diese Reglementierung funktioniert ohne Begehren, ohne Vertrauen, ohne die Erfahrung gemeinsamer Kämpfe. Aber nur darauf kommt es an. Der Anspruch auf »Definitionsmacht« verweist auf eine Kultur der Verbalisierung politischer und sozialer Konflikte. Die erwarten, dass es ausreicht, die Definitionsmacht durchzusetzen. Diese permanente Disziplinierung und Verfahrensfixiertheit garantiert aber, dass es keine politische Kultur, keine Massenintelligenz gibt. Das dient nicht der Herstellung eines Gemeinsamen, sondern der Stabilisierung identitärer Differenzen – und der Hegemonie einer absolut kleinen Minorität. Das ist ein Bruch mit proletarischer, antikolonialer Erfahrung und Politik.

 

Bezugspunkt sind aber eben diese Erfahrungen – etwa jene der Black Panther.


Die Black Panther waren die schlimmsten Machos der Welt. Die wurden für ihr schwanzfixiertes Gerede sehr stark von ihren Schwestern kritisiert. Aber ihre Ghettosprache adressierte die kollektive Erfahrung der Unterdrückung und verband sie mit einer Form politischer Militanz. Genau das machen die People of Color nicht.

 

Aber sie versuchen, Räume wie die Camps so zu beeinflussen, dass sie dort als Subjekte handlungsfähig werden. Muss man das nicht ernst nehmen?


Es ging seit 2003 immer um Verhaltensweisen auf den No-Border-Camps: Darf getrunken, darf Haschisch geraucht werden? Ab wann flirtet ein Mann nicht mehr, sondern belästigt eine Frau sexuell? Diese Auseinandersetzung war sehr wichtig, aber sie hatte damals schon den Beigeschmack einer bestimmten politischen Kultur der Disziplinierung des Subjekts durch moralische Anrufung. Und das hatte nichts mit der migrantischen Kultur zu tun. Das ist ebenso merkwürdig wie diese aufgekommene Praxis der Selbstpositionierung.

 

Sie meinen die Angewohnheit, sich zu Beginn von Einlassungen als Unterdrücker zu bekennen?


Ja, genau. »Ich bin eine nicht unterdrückt geborene, Bafög-beziehende, frauisierte Weiße und mein Wissen basiert auf dem Wissen von PoCs«, so wird da geredet, das ist eine Art neoprotestantischer Sektenbildung. Diese Selbstbezichtigung ist immer eine Strategie eines reformorientierten Teils der Bildungsbourgeoisie: Moral und moralische Panik im Namen der Diskurshygiene.

 

Die Vertreterinnen und Vertreter der Selbstbezichtigungsstrategie berufen sich dabei aber auf ein bestimmtes Verständnis der Theorie der »Critical Whiteness«, die seit langem in der antirassistischen Szene rezipiert und als sehr fruchtbar empfunden wird.


Critical Whiteness ist ein wichtiger Aspekt der kritischen Race-Studies und insofern sehr ernst zu nehmen. Aber leider bedient diese meist nur einen transnationalen Dialog zwischen akademischen Subkulturen. Das Ganze ist von realen Kämpfen weit weg. Die interessanten Aspekte wie die Kritik des Okzidentalismus …

 

… die Vorstellung, dass die westliche Kultur überlegen sei … .


… oder die Frage, welche Kritik der Geschichte der rassistischen Formation hier entwickelt werden muss, spielt bei diesen Leuten keine Rolle.

 

Welche Kritik muss denn entwickelt werden?


Rassismus hat hier mehr mit Deutschsein zu tun als mit Weißsein. Critical Whiteness ist hier deshalb eine unkritische Art, über Weiße zu reden und dabei die deutsche Geschichte aus dem Spiel zu bringen. Ich habe mich nie als »colored« wahrgenommen und Millionen Menschen, die diskriminiert werden, ebenso wenig. Unser Problem in Deutschland ist Deutschsein und nicht die weiße Hautfarbe.

 

Das empfinden andere möglicherweise anders. Warum sollen die sich nicht als PoC bezeichnen, um ihre Erfahrungen mit Rassismus zu artikulieren?


Das sollen sie tun. Sie sollen aber die Welt der Migranten, das Feld der postkolonialen und postfaschistischen Erfahrungen, nicht neu hierarchisieren. Sie sollen nicht als Diskurspolizei Flüchtlinge moralisch belehren, wie diese ihre eigenen Erfahrungen auszudrücken haben.

 

Sie spielen darauf an, dass auch bei Flüchtlingen die Einhaltung »herrschaftssensibler« Sprache angemahnt wurde.


Ja, und das sogar von »weißen« Mehrheitsdeutschen. Schwarze so zu disziplinieren, evakuiert den Redeort der Subalternen. Die Erfahrungsposition des subalternen Subjekts wird so restlos besetzt. Es gibt dann kein Moment mehr, wo Rassismus als gelebte Erfahrung nachvollzogen werden muss. Weiße setzen sich dazu schwarze Masken auf, das haben nur die klügsten Kolonialisten gemacht. Leuten, die schreckliche Erfahrungen beim Überschreiten der Schengener Grenzen gemacht haben, hier in Europa entgegenzuhalten, dass sie Teil der rassistischen Kultur seien, ist wirklich eine ekelhafte neokoloniale Willkommensgeste.