Im Zweifel rechts vor links?

Erstveröffentlicht: 
19.12.2011

Stuttgart - Es ist ein gewöhnlicher Parkplatz, auf dem sich werktags die Fahrgemeinschaften treffen, die vom Kaiserstuhl nach Freiburg, Basel oder Karlsruhe pendeln. Am Wochenende ist eher wenig los im Winkel zwischen einem Kanal, einer Land- und einer Kreisstraße. In Sichtweite brettert der Verkehr auf der Autobahn 5 am Anschluss von Riegel vorbei. Am Samstag, dem ersten Oktobertag dieses Jahres, wäre auf diesem Parkplatz um ein Haar ein junger Mensch zu Tode gekommen.

 

Die erste Pressemitteilung lautete: "Das Polizeirevier Emmendingen wurde am Samstagabend, gegen 19.15 Uhr, darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich auf dem Pendlerparkplatz in Riegel ein schwerer Verkehrsunfall ereignet hat, bei dem eine Person durch einen Pkw angefahren wurde. Im Rahmen der sofort eingeleiteten Ermittlungen wurde bekannt, dass der auf dem Pendlerparkplatz zunächst wartende Autofahrer offensichtlich von einer größeren Gruppierung Vermummter angegriffen worden sei. Dem Vernehmen nach sei der 29-Jährige daraufhin in Panik vom Parkplatz geflüchtet. Bei den mutmaßlichen Angreifern handelte es sich um Angehörige der linksextremen Szene, der Unfallfahrer ist offensichtlich der rechten Szene zuzuordnen."


"Ich warte ja nur drauf, dass einer mal angreift"


Also lediglich eine unschöne Begegnung von verfeindeten Radikalen am Samstagabend, nichts Wichtiges. Erst Tage später meldeten sich die angeblichen Angreifer im Internet zu Wort und beklagten einen "faschistischen Mordversuch". Die Antifaschistische Linke Freiburg erklärte, ein "überregional bekannter Neonazi" sei "gezielt" in die Gruppe der Antifaschisten gefahren, die "einen Schleusungspunkt der Neonazis beobachteten". Der 29-jährige Autofahrer aus Offenburg habe geradezu auf eine Gelegenheit gewartet, in scheinbarer Notwehr einen politischen Feind "straffrei ermorden zu können". Das sei durch Facebook-Einträge erwiesen. Dort habe der Autofahrer Florian S. unter anderem geschrieben: "Ich warte ja nur drauf, dass einer mal angreift. Dann kann ich ihn endlich mal die Klinge fressen lassen."

 

Mittlerweile sind zweieinhalb Monate verstrichen, die Kriminalpolizei in Emmendingen hat "in alle Richtungen ermittelt", wie sie behauptet. Auch ergebnisoffen? Auffallend ist, dass sie sich sehr früh auf die Tatversion festgelegt hat, die im Wesentlichen der Sicht des Autofahrers entspricht. Das hat auch dazu geführt, dass dieser rasch den zunächst eingezogenen Führerschein wiederbekam: Der Mann sei angegriffen worden und handelte wahrscheinlich in Panik, es liege kein dringender Tatverdacht für eine Tötungsabsicht vor. So sah es das Landgericht Freiburg am 20. Oktober.

 

Was ist am 1. Oktober passiert?

 

Der schwer verletzte Antifaschist, ein 21-jähriger Gewerkschafter aus Stuttgart, ist mittlerweile aus der Klinik entlassen. Seine Kumpels - alle nicht aus der direkten Umgebung stammend - haben sich dazu überreden lassen, ihre anfängliche Aussageverweigerung zumindest teilweise aufzugeben. Die Staatsanwaltschaft Freiburg hat den Rechtsanwälten jetzt Akteneinsicht gewährt und will nach deren Stellungnahmen entscheiden, wer und was angeklagt wird: der rechtsradikale Autofahrer wegen versuchten Totschlags oder die Antifaschisten wegen Nötigung - oder alle zusammen.


Was ist passiert in Riegel am 1. Oktober abends? Die Rekonstruktion des Vorfalls sei schwierig, sagen sowohl der Freiburger Oberstaatsanwalt Wolfgang Maier als auch der Rechtsanwalt Jens Janssen, der den Angefahrenen vertritt. Richtig schlau geworden sind beide Juristen aus den Zeugenaussagen und Indizien auch heute noch nicht.


Die Antifaschisten schweigen eisern

 

Fest steht, dass der aus Offenburg stammende Versicherungsmakler Florian S., der versucht hatte, im Wahlkreis Freiburg II für die NPD zum Landtag zu kandidieren, am Samstagabend um sieben Uhr auf dem Pendlerparkplatz stand, mit seinen Mitsubishi Colt abfahrbereit in Richtung Straße. Seine Aufgabe war es, von auswärts kommende Kameraden zu einer Neonazifete in Balingen am Kaiserstuhl weiterzuleiten. Florian S. ist in der braunen Szene umtriebig, er hatte die geplante Demonstration von Neonazis im Oktober 2010 in Offenburg angemeldet und eine weitere für den 22. Oktober dieses Jahres.

 

Fest steht auch, dass am 1. Oktober um kurz nach 19 Uhr plötzlich sieben schwarz gekleidete Personen über den Fußgängersteg zum Pendlerparkplatz liefen, sich Sturmhauben überzogen und auf den Colt von Florian S. zugingen. Was sie vorhatten, dazu schweigen die Antifaschisten eisern.

 

Keine frontalen Beinverletzungen

 

Auch die unbeteiligten Zeugen können das nicht aufklären, Kinder, die dort spielten, ein Radfahrer und eine in ihrem Auto wartende medizinische Fachkraft. Dass etwas passieren würde, ahnte die Frau: Als die schwarz gekleideten Personen über den Steg kamen, wollte sie die Autotüren verriegeln, fand aber in der Aufregung den Knopf nicht. Dann passierte es: der silberne Colt fuhr nicht nach rechts auf die Straße, sondern in hoher Geschwindigkeit nach links in den Parkplatz hinein auf die Gruppe zu, so schnell, dass ein Antifaschist nicht mehr ausweichen konnte und erfasst wurde.


Spätestens an diesem Punkt gehen die Aussagen auseinander. Der angefahrene Antifaschist hatte keine frontalen Beinverletzungen. Auf der Motorhaube sind Spuren von Schuhsohlen gesichert worden, demnach könnte der 21-Jährige auf das Auto gesprungen sein. Klar ist hingegen: er wurde über das Fahrzeug geschleudert, blieb schwer verletzt am Boden liegen, und etliche Personen flohen vom Tatort.


Die Linken kehren zurück


Der Neonazi Florian S. fuhr mit kaputter Windschutzscheibe auf die Straße, hielt aber nach 200 Metern an, weil ihm zwei Beamte des Dezernats Staatsschutz der Emmendinger Kriminalpolizei im Auto entgegenkamen. Man kannte sich; warum sie in der Nähe waren, weiß man nicht. Den Staatsschützern erzählte Florian S., dass ihm eben ein Linker vors Auto gelaufen sei.


Die Beamten fuhren zum Tatort, später kehrte auch Florian S. dorthin zurück, er hatte mittlerweile rechte Verstärkung bekommen, und auch die Linken waren, jetzt unmaskiert, zu ihrem verletzten Freund zurückgekehrt. Die verfeindeten Personengruppen beschimpften sich heftig, die Polizei musste dazwischengehen. Ein Streifenwagen aus Emmendingen war erschienen, nachdem ein Radfahrer die Notrufnummer gewählt hatte. Auch dem am Straßenrand wartenden Neonazi reichte der Radler sein Handy; Florian S. meldete: "Ich kann nichts dafür, der ist mir reingelaufen."


Polizeiroutine


Der Rest war Polizeiroutine, es wurden Personalien aufgenommen, Spuren gesichert, der Verletzte wurde in die Universitätsklinik nach Freiburg gefahren, dem Neonazi der Führerschein abgenommen und das Unfallauto beschlagnahmt.


Drei Monate nach dem Vorfall in Riegel hat sich die politische Landschaft verändert: Die Morde der Neonazibande aus Zwickau erschüttern die Republik. Es gibt Fragen, auch die, ob Polizei und Justiz gegen Rechtsextreme zu nachsichtig waren.


Warum dauert es so lange, den Vorfall in Riegel aufzuklären? Wenn wichtige Zeugen ganz oder überwiegend schweigen, ist das zwar tatsächlich schwierig. Aber muss man deshalb demjenigen glauben, der eine Notwehrsituation reklamiert? "Mir fällt auf", sagt Rechtsanwalt Jens Janssen, "dass die Person des beschuldigten Autofahrers nicht umfassend beleuchtet wird."


"Haut den Juden vom Fahrrad"


Nicht nur der "Ich lass ihn die Klinge fressen"-Eintrag bei Facebook, auch die selbst gebastelten Musikvideos, die Florian S. am 1. September bei Youtube eingestellt hat, sprechen für eine mehr als nur latente Gewaltbereitschaft. Da singt Florian S. vom "letzten Ritter in einer Welt ohne Ritterlichkeit". Und an den Refrain von "Oh du schö-hö-höner Westerwald" hängt er den antisemitischen Zusatz: "Haut den Jud vom Fahrrad!"


Die Staatsanwaltschaft hat jetzt, Mitte Dezember, Ermittlungen wegen Volksverhetzung eingeleitet. Der Neonazi Florian S. steht auch immer noch unter Bewährung, nachdem er im April 2010 wegen gemeinschaftlich begangener schwerer Körperverletzung vom Amtsgericht Offenburg zu sieben Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden ist.


Aufhorchen lässt auch der Hintergrund seiner Rechtsvertreter: Anwalt von Florian S. war zunächst Steffen Hammer aus Reutlingen, früher Sänger der 2010 aufgelösten Rechtsrockband Noie Werte, mit deren Liedern die Zwickauer Bande Videos unterlegt hatte. Jetzt hat das Mandat Hammers Kollegin Nicole Schneiders aus der gleichen Kanzlei H3, Filiale Rastatt, übernommen. Die Anwältin war unter ihrem Geburtsnamen Schäfer bis 2002 stellvertretende Kreisvorsitzende in Jena - unter Ralf Wohlleben, der kürzlich als mutmaßlicher Unterstützer der braunen Zwickauer Terrorzelle verhaftet wurde.


Die Bundesanwaltschaft hat ermittelt, dass NPD-Funktionär Ralf Wohlleben zwischen 2001 und 2002 dem mörderischen Nationalsozialistischen Untergrund eine Waffe per Kurier übermittelte. Nicole Schneiders will dazu nichts sagen, sie vertritt ihren ehemaligen Kreisvorsitzenden anwaltlich und erklärt, sie sei nicht mehr in der NPD und es stehe jedem Anwalt frei, jedes Mandat anzunehmen. Sie lehnt es ab, zum vermeintlichen Verkehrsunfall in Riegel etwas zu sagen.


Wie müssen die Ereignisse am frühen Abend des 1. Oktober bewertet werden? Handelte Florian S. in Notwehr, oder unternahm er einen Mordversuch? War es ein tragischer Unfall oder eine günstige Gelegenheit für den Neonazi, einen Antifaschisten zu attackieren?


Der Rechtsanwalt Jens Janssen sieht genügend Indizien dafür, dass der unbestritten rechtsradikale Autofahrer die sich bietende Chance genutzt hat, "es den Linken mal richtig zu zeigen" und vorsätzlich in die Gruppe der Antifaschisten hineinfuhr: Florian S. floh nicht, sonst hätte er sein Auto in Richtung Straße gelenkt.


Und die Antifaschisten? Was hatten sie vor? Warum benimmt man sich so auffällig, tritt beim "Beobachten" des politischen Gegners als vermummte und geradezu uniformierte Gruppe auf? Haben sich die Antifaschisten auf ein Räuber-und-Gendarm-Spiel eingelassen? Linke beklagen oft und durchaus zu Recht, wie gewaltbereit Neonazis sind. Es wäre fatal, wenn sie ihre eigenen Warnungen ignorieren würden.