Wenn Behörden ein Leben zerstören

Wadim († 20)
Erstveröffentlicht: 
13.12.2011

Ein freundlicher und fröhlicher Mann tötet sich selbst - mit 23 Jahren. Wie es dazu kam, zeigt die NDR-Doku "Wadim" in allen erschütternden Details. Die gnadenlose Abschiebepraxis deutscher Behörden hat den in Deutschland aufgewachsenen Letten in die Verzweiflung getrieben.

 

"Da hinten ist die Elbe", sagt eine Stimme mit norddeutschem Einschlag aus dem Off. "Das ist mein Vadder - sag hallo!" Der Vater winkt in die Kamera. "Das ist Hamburg-Hafen, da hinten sind die Landungsbrücken, die ganzen Schiffe, Altona-Fischmarkt." Dann sehen wir den Kameramann selbst: Wadim, Protagonist des Dokumentarfilms, der in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch im NDR läuft, steht an der Waterkant und weist auf das Hafenpanorama hinter sich. Er hat ein fröhliches Gesicht, raspelkurze Haare und wirkt, als wolle er der Welt mit dem Privatvideo zeigen, dass die Zukunft ihm gehört. Und dass sie hier stattfinden wird, in Hamburg.

 

Tatsächlich ist diese Stadt, seine Heimat, sein frühes Grab. Am 20. Januar 2010 gegen 22 Uhr stellt sich Wadim auf die Gleise der S-Bahnline 3 zwischen Altona und Harburg und wartet auf seinen Tod. Als er stirbt, ist er 23 Jahre alt, hat eine langjährige Abschiebe-Odyssee hinter sich und keine Hoffnung mehr auf eine Zukunft in dem Land, in dem er aufgewachsen ist. Er hinterlässt einen Bruder - der in dem Film nicht auftauchen mochte - und zwei Eltern.

 

Als die Filmemacher Carsten Rau und Hauke Wendler beginnen, ihre Dokumentation über Wadims kurzes Leben zu drehen, ist sein Freitod gerade mal zwei Wochen her. "Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass es private Aufnahmen gibt, die wir für den Film verwenden können", sagt Wendler. "Aber uns war nach dem Gespräch mit den Eltern klar, dass wir den Film machen müssen."

 

Diese Dringlichkeit teilt sich mit. Die Kamera begleitet die Eltern dabei, wie sie an der Stelle, an der sich der Sohn vor den Zug geworfen hat, ein blaues Holzkreuz aufstellen. Es ist quälend, ihre Verzweiflung mit ansehen zu müssen, doch der Film bleibt nicht bei dieser Quälerei stehen. Denn die Geschichte des Freitods, die "Wadim" erzählt, ist auch eine Geschichte über das Zusammenwachsen Europas nach dem Ende des Ostblocks.

 

Am Boden klebt noch das Blut der Mutter

Wadims Eltern sind russische Letten und gehören damit zu einer Minderheit, die nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion in dem baltischen Land unerwünscht ist. 1993 fliehen sie vor der antirussischen Stimmung nach Deutschland. Der Vater, ein Polizist, hatte im unabhängigen Staat Lettland keine Chance mehr auf einen Job. Wadim ist sechs Jahre alt, als die Familie nach Hamburg kommt.

 

"Ich wünsche mir, dass für unsere Familie Deutschland das Vaterland wird", mit diesen Worten bittet der Vater bei der Einreise um politisches Asyl. Das wird nicht gewährt. Doch weil Lettland sich weigert, russischstämmige Flüchtlinge als Landsleute anzuerkennen, ist auch eine Abschiebung jahrelang nicht möglich. In Gesprächen mit Lehrern, Freunden und Sozialarbeitern berichtet der Film vom Integrationswillen der Familie. Die Mutter ist ehrgeizig, die Kinder lernen perfekt deutsch - es nützt ihnen nichts. Die Hamburger Ausländerbehörde interpretiert die Gesetzeslage so restriktiv wie möglich, verlängert die Duldung nur wochen- und monatsweise und schreitet schließlich zur Tat: Im Februar 2005 dringen Polizisten und private Sicherheitskräfte in die Wohnung der Familie ein, um einen Abschiebebeschluss umzusetzen.

 

Der Vater habe "erheblichen Widerstand" geleistet, protokollierte die Hamburger Ausländerbehörde damals, man habe ihn "auf dem Boden fixiert" und in Abschiebehaft gebracht. Die Mutter schneidet sich mit einer abgebrochenen Flasche die Pulsadern auf und kommt in ein Krankenhaus. Wadim selbst zerren die Beamten aus der Wohnung und schieben ihn nach Lettland ab, wo er - des Lettischen nicht mächtig - in einem Obdachlosenheim landet. Der jüngere Bruder bleibt allein in der Wohnung zurück, wo noch das Blut der Mutter am Boden klebt. Er ist damals 17 Jahre alt.

 

Die deutschen Bürokraten schreiben "selektieren"

Die Stärke des Films ist es, die Brutalität solcher Maßnahmen sachlich für sich sprechen zu lassen. Keine schrille Moderatorenstimme skandalisiert die Behördenpraxis. Stattdessen lassen die Filmemacher den eher spröden Rechtsanwalt der Familie aus den amtlichen Vermerken zur Abschiebenacht zitieren. "Die Kinder wurden zunächst selektiert und unter Kontrolle gehalten", liest der Anwalt aus den Akten vor. Nur ein paar feine Stirnfalten verraten die Verwunderung darüber, dass deutsche Bürokraten unbefangen das Verb "selektieren" zu Protokoll geben.

 

"Wadim" erzählt keine bloße Opfergeschichte. Stattdessen zeigt die Dokumentation den Weg eines lebenshungrigen jungen Erwachsenen, der sich auflehnt gegen Zumutungen, die er nicht zu verantworten hat und dabei zwischenzeitlich auch den Weg der stillen Assimilation verlässt, den seine Eltern für ihn auserkoren haben. Seit 1998 musste die Familie täglich mit der Abschiebung rechnen. Wadim reagiert zunehmend rebellisch, fährt ohne Führerschein Auto, steigt mit seiner Clique in ein Bürohaus ein. Er wird schlecht in der Schule, landet erst auf der Real-, dann auf der Hauptschule.

"Stellen Sie sich vor, die Kinder sollen fleißig lernen - und haben gleichzeitig nur eine Duldung für eine Woche", so beschreibt Mieczeslaw Mazurkiewicz, der gesetzliche Betreuer der mittlerweile an Depressionen erkrankten Eltern, die Situation. Als die Abschiebung nach Riga kommt, hatte Wadim gerade wieder Fuß gefasst und eine Ausbildung begonnen.

 

Die fünf Jahre, die zwischen der ersten Abschiebung des Teenagers und dem Tod des 23-Jährigen liegen, kann der Film nur andeuten. Als Hilfsarbeiter in einer Fabrik in Riga, als Asylsuchender in verschiedenen europäischen Ländern, als Papierloser zurück in Hamburg, erneute Abschiebung nach Lettland - am Ende, so erklären es sich seine Mutter und seine Freunde, war der Selbstmord der einzige Weg, dort zu bleiben, wo er bleiben wollte.

 

"Wir dürfen die Drecksarbeit machen"

Die Beamten, die seit Ende der Neunziger die Abschiebung der Familie vorangetrieben haben, äußern sich in "Wadim" nicht - was wohl an einem anderen Film liegt: 2005 hatte der Filmemacher Michael Richter für seine Dokumentation "Abschiebung im Morgengrauen" in der Hamburger Ausländerbehörde gedreht. Die Kamera hatte auch den Arbeitsplatz einer Sachbearbeiterin dokumentiert, wo zwischen Diddl-Maus- und Kleinkinderfoto-Deko ein Bildschirmschoner über den Monitor flimmerte: "Wir buchen, Sie fluchen - mit freundlicher Unterstützung des Reisebüros Never-Come-Back-Airlines."

 

Der zynische Spruch ging durch die Medien. Seither sorgt Ralph Bornhöft (SPD), damals wie heute Leiter der Hamburger Ausländerbehörde, dafür, dass seine Mitarbeiter ihren speziellen Schreibtisch-Humor ungestört von Journalisten pflegen können; Kameras sind tabu. Auch Bornhöft selbst ist nicht bereit, sich der Öffentlichkeit zu stellen. Stattdessen rühmt er am Telefon seine Behörde für die Konsequenz, mit der sie Abschiebungen durchsetzt. "Wir haben zu vollziehen. Wir dürfen die Drecksarbeit machen. Die anderen lehnen sich fein zurück. So ist die Arbeitsteilung seit vielen Jahren, und daran ändert kein Politiker der Welt irgendwas", kommentiert Bornhöft den Fall fernmündlich.

 

Wadim war nur einer von vielen. Etwa 87.000 Menschen leben in Deutschland mit einer Duldung und sind von der Abschiebung bedroht. Die Dokumentation über das kurze Leben des lettischen Hamburgers läuft zu nachtschlafender Zeit. Wer sie gesehen hat und über einen einigermaßen funktionierenden Gefühlshaushalt verfügt, wird sich wünschen, dass die Innenminister aller Bundesländer und sämtliche Mitarbeiter aller Ausländerbehörden der Republik ihn zwangsvorgeführt bekommen mögen. Am besten mehrfach. Und dass das freundliche Gesicht Wadims, sein Lachen und sein Optimismus sie nachts verfolgen möge.