Bericht von Reise nach Tunesien - MIGRATION&REVOLUTION

Kein Mensch ist illegal

Drei Mitglieder der seit zwei Wochen unter dem Titel 'Migration – Revolution' Tunesien bereisende Delegation der Netzwerke w2eu (Welcome to Europe), afrique-europe-interact und kritnet haben mehrere Tage im tunesischen Flüchtlingslager Choucha nahe der libyschen Grenze verbracht und über 60 Gespräche und Interviews mit Augenzeugen aus unterschiedlichen Comunities geführt.

Es kam in der Zeit vom 21.- 24. Mai zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch das tunesische Militär und AnwohnerInnen:

Nach Auswertung der Interviews lassen sich die Geschehnisse des 21. - 24. Mai wie folgt skizzieren:

21. Mai 2011
In der Nacht zum 22.5. brennt es im Lager Choucha an zwei Stellen. Ein gegen Mitternacht ausgebrochenens Feuer konnte durch CampbewohnerInnen schnell gelöscht werden. Gegen drei Uhr in der Frühe bricht ein zweites Feuer aus, das sich durch den recht starken Wind auf umstehende Zelte ausbreitet und erst nach zwei Stunden von den im Camp positionierten Feuerwehr- und Zivilschutzkräften gelöscht werden konnte. Beide Feuerstellen sind am äußersten Rand der mehr als einen Quadratkilometer großen Zeltstadt entbrannt. Dem zweiten Feuer sind vier Eritreer zum Opfer gefallen, über 20 große Zelte verbrannten, viele Menschen mussten mit Brandverletztungen in nahegelegenen Krankenhaus von Ben Guerdane behandelt werden. Es drängt sich die Frage auf, warum die Einsatzkräfte so lange brauchten, bis sie das Feuer unter Kontrolle hatten bzw. an der Unglücksstelle waren, obwohl sie nur ein paar hundert Meter weiter stationiert waren.


Die Feuer dieser Nacht schüren Unsicherheitsgefühle vieler CampbewohnerInnen. Die nigerianische Comunitiy reagiert am nächsten Morgen gegen 11 Uhr mit einer friedlichen Demonstration am Zaun des UNHCR-Zeltkomlexes. „We want to leave now!, We want to leave!“

Die etwa 50 NigerianerInnen fühlen sich als christliche Minderheit im Camp besonderer Anfeindung ausgesetzt und verlangen eine sofortige Verlegung. „Europa muss uns helfen!“

Im Laufe der wütenden, aber „friedlichen“ Demonstration mischen sich auch Angehörige anderer Comunities unter die Demonstrierenden (Videomaterial), ein Teil von ihnen beginnt die Straße mit herbeigerollten Steinblöcken, Autoreifen und herumliegenden Baumstümpfen zu blockieren. Es kommt zu kleineren Auseinandersetzungen zwischen ca 300 BlockiererInnen mit den durch die Strassenblockade gestoppten Lkw-Fahrern, AnwohnerInnen aus dem nahe gelegenen Ben Guardene und einreisenden LibyerInnen. Die Straße ist die einzige Verbindung nach Libyen. Über sie werden die (in Libyen subventionierten) Waren importiert, von deren Verkauf die ganze Region lebt. Im Sommer 2010 hat eine von libyscher Seite vorgenommene Sperrung der Straße und Einfuhr einer Steuer zu ersten Massendemonstrationen und Auseinandersetzungen mit der Polizei geführt, die Grenze wurde nach zwei Wochen wieder geöffnet, die Steuer zurück genommen.

Bei den Auseinandersetzungen auf der Strasse versucht das Militär, einen Videojournalisten unserer Delegation festzunehmen, er wird aber von umstehenden CampbewohnerInnen befreit. Bei dieser Aktion entreisst ein Soldat dem Journalisten sein Mikrofon und stellt es sicher. 3 Stunden später erhält er dieses zurück, nachdem sich die Leitungsebene des UNHCR eingeschaltet hatte. Im Innern des UNHCR-Zeltkomplexes befinden sich zur selben Zeit ca. 20 Interview-Officers des UNHCRs, die die Anerkennungsinterviews durchführen. Entgegen der Verlautbarungen des UNHCR wurde deren Zeltkomplex zu keiner Zeit eingekesselt, die Demonstration.

Als unsere Delegation gegen 19 Uhr das Camp verlässt, hatten die Hilfsorganisationen ihre Mitarbeiterinnen aus Sicherheitsgründen schon abgezogen. Die Lage war beruhigt, viele Flüchtlinge sprachen davon, am nächtsten Tag eine wirklich große Demonstation machen zu wollen:

„Die Welt muss mitbekommen, wie es uns hier geht, wir dürfen nicht in dieser Wüste verrecken!“. Viele sitzen auf gepackten Koffern, planen ihre Abreise zurück nach Libyen, sie riskieren lieber den Tod auf dem Meer als weiter im Camp tatenlos auszuharren (siehe youtube Video). Ein großes Problem ist die Intransparenz der gesamten Camp-Situation, keine/r will/kann ihnen sagen, wie es mit ihnen weitergehen wird.

24. Mai 2011
Über die Form der Demonstrationen hat es, nach Aussagen von Flüchtlingen mehrerer Comunities sowohl in der Nacht als auch am folgenden Morgen Streits gegeben. Es kam auch zu körperlichen Auseinandersetzungen.

Gegen 9/10 Uhr am Morgen befanden sich wohl viele Hundert (knapp Tausend) Campbewohner wieder längs zur und auf der Strasse. Aus Richtung Ben Guardene kamen mehrere Hundert Anwohner mit Autos angefahren. Viele waren mit Stangen bewaffnet, es gibt auch Berichte über mit Schusswaffen ausgerüstete Anwohner.

Im Ort wurde wohl berichtet, die Campbewohner würden Richtung Ben Guardene marschieren. Aus Sorge um die städtische Sicherheit hätten sich Menschen auf den Weg gemacht, ihren Ort zu verteidigen. Dieser liegt allerdings 30 km vom Camp entfernt und war wohl zu keiner Zeit von den sich zu Fuß sich bewegenden DemonstrantInnen erreichbar oder gefährdet.

Den heranziehenden AnwohnerInnen stellten sich viele empörte CampbewohnerInnen entgegen. Einheitlich wird davon berichtet, dass, bevor es zu direkten Zusammenstössen kam, die zunächst noch wenigen anwesenden Militärs angefangen hätten, in die Menge der Blockierenden mit Tränengas und mit scharfer Munition zu schiessen, in die Luft, aber auch auf Unterleib und Beine. (Schüsse und Maschinengewehrsalven sind auf uns zur Verfügung gestellten Handyvideos zu hören). Es kam zu ersten Verletzten. Im Krankenhaus berichteten uns Betroffene von schweren Misshandlungen (Schläge, Beinbrüche, Gewehrkolbenschläge und Schussverletzungen), begangen sowohl von Militär als auch von Zivilisten und von über Stunden verweigerter medizinischer Behandlung.

Aus den Interviews geht hervor, dass die Militärs und der Mob die CampbewohnerInnen aus ihren Zelten vertrieben haben, sie in Richtung libysche Grenze geschickt und dabei vielfach nicht nur als „Sklaven und Hunde“ beleidigt, sondern auch gezwungen haben, ihr Hab und Gut, elektronische Geräte, ihre Handys, Bargeld wie auch Ringe und Schmuck abzugeben.

„Der größte Parkplatz der Welt“
Die Kunde von der Situation im Camp muss sich schnell in der Umgebung herumgesprochen haben. Flüchtlinge berichten davon, dass in den folgenden Stunden nicht nur vermehrt Militärfahrzeuge (z.T. mit aufgeschraubtem Maschinengewehr) herbei gefahren seien, sondern vor allem über hundert Privatfahrzeuge mit Menschen (ca. 500) aus der Umgebung, die sich über das Hab und Gut der Flüchtlinge hergemacht und massenhaft Zelte mit Benzin in Brand gesetzt haben. Zwei Drittel der Zelte der für über 20000 Menschen angelegten Zeltstadt sind so verbrannt worden.

Ein Großteil der Flüchtlinge habe sich auf den Weg Richtung libysche Grenze gemacht, andere sich in alle Richtungen in die umliegende wüstenartige Steppe geflüchtet. Unsere Delegation hatte den ganzen Tag über Telefonkontakt mit umherirrenden Gruppen, die sich verängstigt und ohne Wasser und Nahrung im Gestrüpp versteckten.

Im Laufe der Nacht hatte das Militär angefangen, denjenigen, die sich in der Nähe des Camp aufhielten, Kekse und Wasser zur Verfügung zu stellen.

Die Gegend war über mehr als 20 h abgeriegelt, auch UNHCR, Rotes Kreuz, MsF sowie andere Hilfsorganisationen hatten keinen Zugang zum Camp. Ein Auto von JournalistInnen, die versuchten ins Camp zu kommen, wurde von AnwohnerInnen aus Ben Guardene angehalten und sämtlicher Technik und Handys beraubt. Verletzte Flüchtlinge wurden ins Krankenhaus gebracht.

Seit dem 25.5 kommen die Hilfsorganisationen nach und nach wieder zurück ins abgebrannte Camp und versuchen die Infrastruktur zu reorganisieren. Viele Flüchtlinge machen sich auf den Weg zurück nach Libyen in der Hoffnung von dort aus mit einem der Fischkutter nach Lampedusa zu kommen.

Diese katstrophale Lage ist ein Resultat der europäischen Grenzvorverlagerung, wie sie seit Otto Schilys Zeiten propagiert und durch die Verträge zwischen Italien und Libyen weit vorangetrieben wurde.

Wir fordern:
-- Die bisherige Abschottungspolitik an den Außengrenzen zugunsten einer humanen und freizügigen Asyl- und Einwanderungspolitik aufzugeben, die im Einklang mit den Rechten von Flüchtlingen und MigrantInnen steht.

-- Die demokratischen Aufbrüche in Nordafrika ernsthaft zu unterstützen und sie als eine Chance zu einer veränderten Nachbarschaftspolitik zu begreifen.

-- In Tunesien werden zur Zeit noch über 70000 libysche Flüchtlinge beherbergt. Europa hingegen rüstet seine Aussengrenzen weiter auf und bietet bislang einige hundert sogenannte 'resettlement'-slots: wir fordern die sofortige Aufnahme aller Flüchtlinge und MigrantInnen aus den Lagern an der libyschen Grenze.


for Freedom of movement!


Aktualisiserte Infos unter:
www.afrique-europe-interact.net