In Paris wurde ein von Migranten besetztes Hausgeräumt

Erstveröffentlicht: 
12.05.2011

Die französische Polizei räumte in Paris ein Haus, das von tunesischen Flüchtlingen besetzt worden war. Das brutale Vorgehen der Behörden hat in Teilen der Gesellschaft für Empörung gesorgt, die Pariser Stadtverwaltung und die französische Regierung halten jedoch an ihrer harten Linie fest.

 

»Du! Ab nach hinten!« schreit ein Beamter der Bereitschaftspolizei CRS und schwingt drohend seinen Knüppel. Im Eingangsbereich des von tunesischen Flüchtlingen besetzten Hauses in der Avenue Simon Bolivar riecht es nach Tränengas. Die Bereitschaftspolizisten schlagen mit den Knüppeln auf ihre Schilde und jagen die Treppen zu den zwei oberen Etagen hinauf.

Mehrere Dutzend Personen werden in einen engen Gang im hinteren Teil des Erdgeschosses gedrängt. Es wird auf Französisch und vor allem in tunesischem Arabisch diskutiert. Bei einigen der Anwesenden kommt Panik auf, ein junger Tunesier hat einen Knüppelhieb abbekommen und hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Hinterkopf. Auf einmal kommen Polizisten auch von der anderen Seite des Gangs durch eine Hintertür. Die mehrheitlich aus Tunesiern bestehende Gruppe versucht, sich zu beruhigen. Ein paar junge Leute rufen auf Arabisch: »Gott ist größer!« Andere stimmen den Refrain der tunesischen Nationalhymne an: »Wir leben und sterben für diesen Eid.«

Dann werden wir in einer Reihe im Gang aufgestellt. Der vordere Raum ist inzwischen leer, die Menschen wurden offenbar schon abtransportiert. Draußen stehen mehrere Polizeibusse bereit. Einem Festgenommenen nach dem anderen werden die Hände auf den Rücken gelegt und weiße Plastikfesseln angelegt. Die Rucksäcke werden geleert, persönliche Gegenstände landen in einem Müllsack. Dann geht es in den Polizeibus. Insgesamt 138 Personen werden abtransportiert und auf vier Polizeiwachen verteilt.

Im Untergeschoss der Hauptwache des 18. Bezirks sind die Beamten offenbar gar nicht auf den Empfang der 35 Personen vorbereitet, deren Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt sind. Eine Polizistin sagt zu ihrem Kollegen: »Sag’ mir, dass wir in einem Film sind!« Dann werden wir vorübergehend in Zellen gesperrt. Nach der Personalienfeststellung werden die nichttunesischen Unterstützer unter den Festgenommenen gefragt: »Was wollten Sie in dem Haus?« Wir werden da­rüber belehrt, dass wir der »Beihilfe zu illegalem Aufenthalt« sowie der Sachbeschädigung wegen »widerrechtlichen Aufbrechens einer Eingangstür« beschuldigt werden. Wer seine Personalien angibt, wird nach zwei bis drei Stunden aus dem Polizeigewahrsam entlassen.

Anders ergeht es den etwa 30 festgenommen Tunesiern. Sie werden am folgenden Tag auf andere Polizeikommissariate verteilt und danach in Abschiebehaftanstalten gebracht.

Dort werden sie wohl die vom Gesetz derzeit erlaubten 32 Tage bleiben müssen. Eine tunesische Aktivistin sagt, diejenigen, die keinen Pass bei sich hätten, würden vermutlich einer Abschiebung entgehen. Wegen der politischen Umwälzungen in Tunesien sei die Lage in den Konsulaten derzeit unübersichtlich. Viele Mitglieder der Partei des früheren Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali, die dort beschäftigt waren, mussten ausgetauscht werden. Voraussichtlich sind deshalb die »diplomatischen Passierscheine« nicht rechtzeitig ausgestellt worden. Diese sind nötig, um eine Person ohne gültigen Pass in ein bestimmtes Land abschieben zu können.

Von den ungefähr 25 000 Tunesiern, die in den vergangenen Wochen nach Italien gekommen sind, sollen insgesamt etwa 3 500 nach Frankreich gelangt sein. Ein Teil von ihnen verfügt über einen von der italienischen Regierung ausgestellten Aufenthaltstitel, der sechs Monate gültig ist. Die anderen sind auf verschiedenen Wegen ins Land gekommen. An der Grenze zwischen Nizza und dem italienischen Ventimiglia sitzen derzeit mehrere hundert Tunesier fest, weil Frankreich die Freizügigkeit an den Binnengrenzen der EU – die durch das Schengen-Abkommen theoretisch gewährt wird – vorübergehend ausgesetzt hat. 100 junge Tunesier sind seit vorletzter Woche deswegen in Ventimiglia in den Hungerstreik getreten.

In der letzten Aprilwoche hatten sich zwischen 200 und 500 Tunesier im Pariser Parc de la Villette, dem futuristisch gestalteten Ausflugs- und Ausstellungspark im Nordosten der Stadt, versammelt. Viele von ihnen schliefen dort unter freiem Himmel. Manche Anwohner und viele tune­sische Einwandererfamilien aus den angrenzenden Stadtteilen veranstalteten spontane Solidaritätsaktionen. Die Organisation »Eine chorba für alle« (chorba ist ein nordafrikanisches Suppengericht) brachte Essen vorbei, tunesische Familien richteten am letzten Aprilwochenende ein großes Cous-Cous-Essen aus.

Doch die Situation blieb für die Migranten prekär. An einem der letzten Abende verhaftete die Polizei 80 von ihnen gleichzeitig. Die Beamten tauchten während der Essensausgabe auf, ließen aber gnädigerweise die Leute ihren Teller noch auslöffeln, wie die französischen Medien betonten. Die Haftprüfungsrichter, denen die Tunesier an den folgenden Tagen vorgeführt wurden, um ihre Überstellung in Abschiebehaft zu prüfen, fanden die Bedingungen der Massenfestnahme allerdings nicht grundrechtskonform. Sie sorgten dafür, dass alle festgenommenen Tunesier wieder freigelassen wurden. Unter ähnlichen Umständen wurden auch in Marseille rund 100 Per­sonen auf einmal festgenommen und zwei Tage später wieder auf freien Fuß gesetzt.

Unterdessen spielen Frankreich, Belgien und Italien »Ping-Pong mit den Migranten«, wie die Einwanderer selbst es ausdrücken. Frankreich hat mehrere hundert von ihnen nach Italien zurückgeschickt, was allerdings der Billigung durch die italienischen Behörden innerhalb von 48 Stunden bedarf. Der französische Staat handelt offenbar nach dem Prinzip, dass den Leuten schlicht keinerlei Hilfe zu gewähren sei, selbst wenn sie auf der Straße schlafen und hungern müssen. Nicht einmal Notaufnahmen für Obdachlose dürfen ihnen helfen. Dies ist zumindest insofern illegal, als sich auch Minderjährige unter den neu eingereisten Tunesiern befinden, die nach internationalem Recht besonderen Schutz genießen. Kritiker, etwa Vertreter antirassistischer Organisationen, sagen, die rechte Regierung fürchte sich offenkundig vor allem davor, dass die Tunesier einen »revolutionären Virus« verbreiten.

Durch den unfreundlichen Empfang des französischen Staates hat sich jedoch in Teilen der Gesellschaft erst recht Solidarität mit den Migranten entwickelt. Auch die Tunesier selbst haben sich politisiert. Mehrere hundert junge Tunesier nahmen mit einem eigenen Block zwischen internationalistischen und antirassistischen Gruppen an der diesjährigen 1. Mai-Demonstration teil. Am Abend des 1. Mai besetzten sie dann, unterstützt von Autonomen und Antirassisten, ein leer stehendes öffentliches Gebäude im 19. Pariser Bezirk, eben jenes Haus an der Avenue Simon Bolivar, das drei Tage später von der Polizei geräumt wurde.

Eine ambivalente Rolle spielt dabei die Pariser Stadtverwaltung. Bürgermeister Bertrand Delanoë bezeichnete den Umgang des Staates mit den Mi­granten als »skandalös«. Demonstrativ gab das Rathaus bekannt, 100 000 Euro zur Verfügung gestellt zu haben, überwiegend Sachmittel. Dazu zählen eine Subvention für den Verein »Eine chorba für alle«, um bei der Versorgung der Zuwanderer zu helfen, sowie die Bereitstellung von Übernachtungsplätzen in Heimen oder Hotels.

Die Tatsache, dass bei einem Teil der Pariser Wähler die Solidarität mit den Leuten aus dem »Revolutionsland« Tunesien durchaus populär ist, dürfte bei Delanoës Entscheidung eine Rolle gespielt haben. Er möchte aber vermutlich auch dafür sorgen, dass er selbst künftig noch einen Fuß nach Tunesien setzen kann. Der Sozialdemokrat ist nämlich in Tunesien geboren und reiste in den vergangenen Jahren oft dorthin. Zurzeit muss er aber seine frühere Kritiklosigkeit gegenüber dem Regime Ben Alis – die er übrigens mit vielen französischen Politikern teilte – vergessen machen.

Zugleich möchte die Pariser Stadtverwaltung aber auch die Situation unter Kontrolle behalten. So bot sie den Besetzern des Hauses an der Avenue Bolivar zwar kurzfristig 150 Übernachtungsplätze an und bestand darauf, dass das besetzte Gebäude, vorgeblich aus »hygienischen Gründen«, umgehend geräumt werden müsse. Die Besetzer, die ein Transparent mit der Aufschrift »Weder Polizei noch Almosen!« an dem Haus angebracht hatten, lehnten das Angebot ab. Die Pariser Stadtverwaltung schickte daraufhin die Bereitschaftspolizei und ließ das Gebäude räumen. Seit Anfang dieser Woche sind die Tunesier in einer Turnhalle im 20. Bezirk untergebracht, die am Wochenende besetzt wurde. Doch auch hier droht ihnen eine polizeiliche Räumung.

»Bei uns werden die Flüchtlinge aufgenommen, anders als in Frankreich!« empört sich Iskander, der aus Bengardanne kommt, einer Stadt im Süden Tunesiens. »Im Süden Tunesiens gibt es gar nichts für uns, keine Arbeit und keine Perspektiven«, erzählt er. »Jetzt sind auch noch der Krieg und die Flüchtlinge aus Libyen da.« Er habe das Kapitel Tunesien abgeschlossen: »Mit 23 Jahren habe ich beschlossen, in einem anderen Land zu leben. Ich habe doch auf der Überfahrt nach Lampedusa mein Leben dafür riskiert.« Andere hingegen meinen, sie würden sich gern nach der »Hilfe für freiwillige Rückkehrer« vom französischen Staat erkundigen. »Wir haben uns im ›Land der Menschenrechte‹ ein Leben fast wie im Paradies vorgestellt«, sagt etwa Momo, »aber was wir vorfinden, hat nichts damit zu tun«.