Kritik an Befehlen bei Demonstrationen - "Wir werden von der Politik verheizt" - Polizisten erzählen

Er sei ein "grüner Bulle" und schon immer Atomkraftgegner gewesen. Eckhard Groß, 63, pensionierter Hauptkommissar.
Erstveröffentlicht: 
18.10.2010

Er war mit seiner Hundertschaft mitten im "Kampfgetümmel", sagt Polizeikommissar Thomas Mohr, 48. Ende September und Anfang Oktober, im Stuttgarter Schlossgarten bei den Großdemonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt, bei denen Polizeikräfte Wasserwerfer, Schlagstock und Pfefferspray gegen "friedlich demonstrierende Bürger, Kinder, Rentner und brave Schwaben" einsetzten. Ein Schock für den baden-württembergischen Ordnungshüter. Den Einsatz von Kollegen, den er aus den geschlossenen Reihen seiner Hundertschaft "wie ohnmächtig" mit angesehen hat, kann er bis heute nicht verstehen. 400 Demonstranten wurden dabei verletzt. Er macht ihn wütend, lässt ihn zweifeln. "Wir werden von der Politik immer mehr missbraucht und verheizt. Zweckentfremdet und benutzt, der Imageschaden für uns Polizisten, die per Treueschwur und Dienstbefehl für die Regierung den Kopf da draußen auf der Straße hinhalten müssen, ist durch Stuttgart enorm", schimpft der Mannheimer Beamte mit 25 Jahren Einsatzerfahrung. "In Stuttgart wackelte die Demokratie. Das darf nie wieder passieren."

 

Nach dem Einsatz gegen Stuttgart-21-Gegner und vor dem Castor-Transport nach Gorleben erheben Polizisten schwere Vorwürfe.

 

Als "Kinderschänder", "Blutbullen" und "Erfüllungsgehilfen" haben Stuttgarter Demonstranten ihn und die anderen seiner mit Absperraufgaben betrauten Hundertschaft an den ersten Oktobertagen nach den gewaltsamen Polizeiübergriffen beschimpft. Eine Rentnerin, gepflegt, gut gekleidet, augenscheinlich "keine Berufsdemonstrantin", habe ihm vor lauter Wut über das Geschehene den Ellenbogen in den Bauch gerammt. "Das hat mir körperlich nicht wehgetan, doch es hat mich innerlich tief getroffen", sagt der kritische Kommissar, der in seiner Freizeit Kinder- und Jugendbetreuer ist und sich ehrenamtlich für die Gewerkschaft der Polizei engagiert.

 

Thomas Mohr kratzt sich am Kinn, schüttelt den Kopf, sucht nach Worten: "In der sonst so ruhigen Hauptstadt der Schwaben wurde ein Exempel statuiert, Macht demonstriert, ganz sicher auch schon mit Blick auf den nächsten Castor-Transport. Stuttgart ist wohl nur Teil eines großen Puzzles. Die Politik vergackeiert uns zunehmend, und, was noch schlimmer ist, sie ignoriert den Willen der Bevölkerung", sagt er und zeigt auf seinem Computerbildschirm ein Bild der neuen Generation von Wasserwerfern. Sie stehen kurz vor der Auslieferung: blaue futuristische Ungetüme, die noch mehr Liter fassen und wie Panzer aussehen. Thomas Mohr wendet seinen Blick vom Bildschirm ab und guckt aus dem Fenster in den blauen Himmel über Mannheim. "Wenn man scharfe Kampfhunde, ich meine die Polizei-Spezialeinheiten, mit zu einer Demonstration nimmt und sie dann auch noch ohne ersichtlichen Grund von der Leine und räumen lässt, dann beißen sie ohne Erbarmen zu. Dafür wurden sie gedrillt und ausgebildet. Das wussten die, die für den Einsatz verantwortlich waren, ganz genau. Sie mussten das Okay von oben haben. Von ganz oben. Mindestens vom Innenministerium."

 

Mit "scharfen Kampfhunden" meint Thomas Mohr die schwarz und dunkelgrau gekleideten, meist sehr jungen Kollegen von den Beweis- und Festnahmeeinheiten (BFE), die beim Stuttgarter Einsatz größtenteils von der Bundespolizei und aus Bayern kamen.

 

Der Polizist sitzt in seinem Dienstzimmer im zweiten Stock eines grauen Hauses in Mannheims Innenstadt. An einigen Zimmertüren hängen Stuttgart-21-Aufkleber. Schwarze Schrift auf gelbem Untergrund, von unten links nach oben rechts rot durchgestrichen. Zeichen und Symbol der Bahnhofsgegner. Nach dem Wasserwerfer-Tränengas-Schlagstock-Einsatz sympathisieren noch einige Beamte mehr aus Mohrs Hundertschaft mit den Gegnern des milliardenteuren Bahnhof-Projekts. Er selbst will auch nicht, dass der Bahnhof gebaut wird.

 

Werde er noch einmal Zeuge einer solchen "Gewaltorgie", bekomme er gar selber den Befehl, gegen friedliche Demonstranten den Schlagstock einzusetzen, werde er von dem in den Beamtenstatuten definierten Remonstrationsrecht Gebrauch machen: Nach Vorschrift des Beamtenrechts muss der Beamte dienstliche Handlungen auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen. Hat er Bedenken gegen eine Weisung, kann er seinen Vorgesetzten gegenüber remonstrieren, gegen die Ausführung der Weisung Einwände erheben. Remonstrierer werden bei Beförderungen gerne übergangen, gelten als Querulanten, weiß Thomas Mohr: "Doch die Situation in diesem Herbst ist so ernst, sie erfordert auch aus den Reihen der Einsatzkräfte Beamte, die den Mund aufmachen. Was in Stuttgart passiert ist, war falsch. Ich war dabei. Ich schäme mich dafür."

 

Die Politik sorge mit ihren Entscheidungen für immer mehr gesellschaftliche Konflikte, die Polizei werde zunehmend als Puffer zwischen Politik und Gesellschaft missbraucht, die Verlässlichkeit in politische Entscheidungen scheine einer großen Nähe zur Wirtschaftslobby gewichen zu sein, die innere Sicherheit stehe kurz vor dem Kollaps, beklagte kürzlich Konrad Freiberg, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, in deutlichen Worten.

 

Derzeit versehen zwischen Bayern und Schleswig-Holstein 239 000 Polizeibeamte ihren Dienst. 10 000 Stellen wurden allein in den letzten zehn Jahren gestrichen. Die Einsätze werden jedoch immer zahlreicher und schwieriger. Rücken die Hundertschaften zu Fußballspielen aus, zu Aufmärschen von Neonazis oder zu Demonstrationen und Krawallen von Linksautonomen, sind die Fronten noch klar. Hooligans, Rechte, schwarze Blöcke und die sogenannten Berufsdemonstranten müssen in Schach gehalten werden. In Stuttgart oder Gorleben jedoch stehen die Polizisten breiten, größtenteils friedlichen Bürgerbewegungen gegenüber.

 

Dauerbelastung, Stress und unzureichende psychologische Betreuung gehen zunehmend an die Substanz der uniformierten Staatsmacht. Nach einer Studie der Hochschule Magdeburg-Stendal fühlen sich rund 25 Prozent der Bundespolizisten und zehn Prozent der Landespolizisten ausgebrannt. "Wir haben einen außergewöhnlich hohen Krankenstand in vielen Behörden, manchmal sind es 30 Tage pro Beamter pro Jahr. Das Burn-out-Syndrom wird zunehmen und ein noch ernsteres Problem werden", erklärt Polizeiberater und Lehrtrainer für Stress, Erich Traphan, 61, von der Fachhochschule Münster. "Und die Suizidraten unter Polizisten in einigen Bundesländern sind durchaus besorgniserregend. Viele Polizisten erleben in einem Monat mehr Hochstress-Situationen als ein Durchschnittsbürger in seinem ganzen Leben." Traphan hat schon vor Jahren ein Antistress-Trainingsprogramm für Beamte entwickelt. Der Ansturm ist groß. Es gibt Wartelisten, die immer länger werden.

 

Hannes Hecht (Name geändert), in Hamburg aufgewachsen, ist noch keine 30 Jahre alt und sehr vorsichtig. Der Treffpunkt für das Gespräch liegt weit weg von seiner Dienststelle in einer norddeutschen Großstadt. Er ist fast zwei Stunden mit dem Auto gefahren. Er möchte nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen, sagt er: "Kritik an die Politik aus den Reihen der Einsatzpolizei ist leider noch eine sehr zarte Pflanze. Ich hoffe, sie kriegt jetzt einen Wachstumsschub." Hannes Hecht, Jeans, hellblaues Hemd, frisch rasiert und akkurate Frisur, strebt eine Karriere beim Landeskriminalamt an. Alles lief glatt. Zielfahnder sei sein Traumjob, sagt er. Das Abitur hat er mit einem Zweierdurchschnitt gemacht, die Polizeiführungsakademie besucht, Erfahrungen im Rauschgift- und im Betrugsdezernat gesammelt, komplizierte Fälle aufgeklärt. Er hat bereits einige Sprossen auf der Karriereleiter erklommen. Doch vor wenigen Wochen ist er ausgerutscht.

 

Als seine Einheit nach Stuttgart verlegt werden sollte, stellte er einen Urlaubsantrag, weil er den Einsatz nicht mittragen konnte. Und wollte. Er hat verwandtschaftliche Beziehungen nach Stuttgart. Er ist auch ein Bahnhofsgegner. "Ich weiß, dass wir bei brisanten Großdemos verdeckt agierende Beamte, die als taktische Provokateure, als vermummte Steinewerfer fungieren, unter die Demonstranten schleusen. Sie werfen auf Befehl Steine oder Flaschen in Richtung der Polizei, damit die dann mit der Räumung beginnen kann. Ich jedenfalls bin nicht Polizist geworden, um Demonstranten von irgendwelchen Straßen zu räumen oder von Bäumen runterzuholen. Ich will Gangster hinter Gitter bringen", erklärt er, wohl wissend, dass Karrieren junger Polizisten nur durch die Einsatzhundertschaften gehen, die auch er durchlaufen muss.

 

Sein Urlaubsantrag wurde abgelehnt. Der Vorgesetzte drohte vor versammelter Truppe, dass Beamte, die sich vor solchen Einsätzen krankmeldeten oder beim Einsatz durch Zurückhaltung auffielen, Ärger bekämen. Und unter vier Augen steckte er Hannes Hecht, dass er seine Karriere vergessen, maximal noch Dorfpolizist werden könne, wenn er sich bei dem Einsatz nicht bewähre.

 

Schlimm sei es für ihn in Stuttgart gewesen, sich beschimpfen zu lassen als "staatshöriger Vollstrecker" und "vorauseilender Gehorsamer". Das tue weh, frustriere und sei nicht gut fürs innere Gleichgewicht: "Ich erkenne mit mehr als nur Magengrummeln, dass der Staat, dem ich diene und der mich damit beauftragt, Recht und Gesetz durchzusetzen, selbst in seinen inneren Strukturen immer weniger freiheitlich und demokratisch ist."

 

Seinen Job zu kündigen kommt für den norddeutschen Polizisten jedoch nicht infrage. Das kann er sich nicht leisten: Er ist frisch verheiratet, seine Frau hat gerade das zweite Kind bekommen - und er hat nichts anderes gelernt als Polizist. Wenn er beim Landeskriminalamt endlich fest im Sattel sitze, werde er zu keinen Demonstrationen mehr beordert, hofft er.


Anfang November wird seine Hundertschaft jedoch erst mal beim Castor-Transport eingesetzt. Wohl in der "heißen Zone", kurz vor dem Zwischenlager in Gorleben, der vorläufigen Endstation des Atommülls. Und er wird im Wendland unter Beobachtung seiner Vorgesetzten stehen, das weiß Hannes Hecht ganz genau: "Gorleben macht mir jetzt schon Albträume. Es ist nicht einfach nur der Ort, wo der nächste Castor hingeht und wo ein zweifelhaftes Endlager gebaut wird. Gorleben ist für mich ein gefährliches Gespenst, vor dem ich Angst habe."

 

Eckhard Groß, 63, pensionierter Hauptkommissar, verheiratet, zwei Söhne, nimmt einen Schluck vom Kaffee, den seine Frau frisch gebrüht hat. Von seinem Wohnhaus in dem kleinen Dorf Liepe sind es gerade mal acht Kilometer Luftlinie bis nach Gorleben. Der Rand des Salzstocks, in dem das Endlager gebaut werden soll, liegt direkt unter seinem Grundstück. Er sei schon immer Atomkraftgegner, ein "grüner Bulle" gewesen, sagt er: "Ich bin früh zu dem Schluss gekommen, dass man hier in der tiefsten, dünn besiedelten Provinz der Atomlobby, manche sagen Atommafia, Tür und Tor öffnet und den Weg bereitet. Die jüngst wieder verlängerten Laufzeiten kotzen mich an. Eigentlich würde ich gerne so manchen Politiker wegen Verdachts der Korruption anzeigen."

Eckhard Groß winkt ab, bevor er sich in Rage redet. Er lehnt sich zurück und fährt sich mit der Hand durchs dichte graue Haar. "Politik ist der kleine Raum, den die Wirtschaft ihr lässt. Hat vor gut 20 Jahren mal ein kluger Mann gesagt. Kann man nicht viele Argumente dagegen bringen, oder? Gerade hier im Wendland nicht."


Beim Castor-Transport wird der Ex-Hauptkommissar mit demonstrieren. Er will verhindern helfen, dass der Castor ankommt. Diesmal, sagt er, könne er aufgehalten werden. Und dann, wohin mit dem Atommüll? "Diese Suppe sollen diejenigen auslöffeln, die sie uns eingebrockt haben", antwortet Eckhard Groß, der "heilfroh" ist, dass er dabei seinen Kopf nicht mehr als Ordnungshüter hinhalten muss. Die Uniform und alles, was ihn an seinen aktiven Polizeidienst erinnert, hat er sofort nach der Pensionierung entsorgt.