Bad Nenndorf - Gefahrenprognose für Demos manipuliert?

Die Polizei zählte in Bad Nenndorf rund 300 Linksextremisten.
Erstveröffentlicht: 
18.08.2010

Die Demonstrationen von Bad Nenndorf haben ein parlamentarisches Nachspiel im Landtag von Hannover. In einer Dringlichkeitsanfrage kritisieren die Grünen den von den Behörden verkündeten polizeilichen Notstand und die daraus abgeleiteten Demonstrationsverbote. Im Zentrum ihrer Anfrage steht die Verantwortung von Innenminister Uwe Schünemann (CDU).

 

Von Angelika Henkel, Niedersachsen 19.30 das Magazin, und Stefan Schölermann, NDR Info

 

Am 13. August, einen Tag vor dem Aufmarsch der Rechtsextremisten und der Gegendemonstration des bürgerlichen Bündnisses "Bad Nenndorf ist bunt", schreibt die Polizei in ihrer Lageeinschätzung: "Es besteht Gefahr für Leib und Leben". Aus Sicht der Beamten drohen offenbar Szenen wie im krawallgeplagten Schanzenviertel in Hamburg: Straßenkampf, Molotowcocktails und Steinwürfe. Sie rechnen mit bis zu 250 gewaltbereiten Neonazis, mit 400 bis 500 sogenannten Autonomen auf linker Seite. Sorge bereite auch ein "qualitativer Sprung in der Gewaltbereitschaft".

Am Ende dieser Gefahrenprognose - die dem NDR vorliegt - empfiehlt die für die Region verantwortliche Polizeidirektion Göttingen dem Landkreis, beide Demonstrationen zu verbieten. Die Polizei könne nicht für Sicherheit und Ordnung sorgen, es stünden nur 2.000 Beamte zur Verfügung - mit dieser Aussage ruft sie den polizeilichen Notstand aus. Das war Ende vergangener Woche und es war der Auftakt für ein juristisches Hin und Her, das viele schockierte, weil zwischendurch gar die Aktion der Demokraten per Gericht verboten wurde und sie am Ende nur mit massiven Einschränkungen stattfinden konnte.

 

Keine gewaltbereiten "Randale-Touristen"

Nun regen sich Zweifel an dieser Gefahrenprognose von Verfassungsschutz und Polizei und damit an der Grundlage aller Verbote. Das fing schon am Tag der Demonstrationen an. Beobachter in der 10.000 Einwohner zählenden Kleinstadt hielten vergeblich Ausschau nach linksextremen "Randale-Touristen" mit Straßenkampferfahrung aus Hamburg, Berlin und Göttingen. Vor deren Erscheinen hatten Polizei und Geheimdienst noch am Vortag eindringlich gewarnt. Wurde hier von den Sicherheitsbehörden ein Bedrohungsszenario aufgebaut, um den polizeilichen Notstand zu begründen und beide Veranstaltungen verbieten zu lassen?

Stefan Wenzel, Fraktionschef der Grünen im Niedersächischen Landtag sieht es so: "Hier wird das so wichtige Grundrecht auf Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt - durch polizeiliche Interessen. Innenminister Uwe Schünemann (CDU) muss die Grundrechte der Bürger in Niedersachsen garantieren, statt sie über einen konstruierten polizeilichen Notstand einzuschränken." Er habe keinen Zweifel, dass tatsächlich sogenannte Autonome ihr Kommen angesagt hätten - stellt aber die hohen Zahlen der Polizei in Frage, die am Ende das wesentliche Argument waren.

 

Richter zweifeln an vorausgesagten Zahlen

Auch dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg, das am Ende sowohl die Braunen marschieren als auch die Gegner protestieren ließ, fehlten Belege für die von den Sicherheitsbehörden prognostizierten Gefahren. Die Richter bezweifelten, dass sich, wie in der Gefahrprognose der Polizei behauptet, die Zahl gewaltbereiter Demonstranten auf beiden Seiten innerhalb weniger Tage verdoppelt hätte. Auch die Angaben des Verfassungsschutzes zum Gewaltpotenzial waren dem Gericht zu abstrakt. Den polizeilichen Notstand wollte das Gericht weder bestätigen noch ausschließen, dafür war die Zeit der Bewertung zu knapp - und auch hier fehlten dem Gericht die Belege. Eine juristische Ohrfeige für die Sicherheitsbehörden, meinen Beobachter.

 

Innenminister weist Vorwürfe zurück

Innenminister Schünemann wies dem NDR gegenüber alle Manipulationsbehauptungen als "Unsinn" zurück. Nach Angaben des Gesamteinsatzleiters der Polizei, Frank Kreykenbohm, gab es Sonnabend sehr wohl bedrohliche Situationen. Die Polizei zählte rund 300 Linksextremisten der Kategorien "Gelb" und "Rot" ("Gelb" steht im Polizeijargon für gewaltgeneigt, "Rot" für gewaltbereit) im gesamten Stadtgebiet. Mehrmals hätten Mitglieder des linken Spektrums versucht, auf die Strecke der Neonazis vorzudringen.

Doch Straßenkampfszenen, wie man sie aus Hamburg, Göttingen oder Berlin kennt und fürchtet, gab es nicht. Insgesamt wurden mehrere Polizisten leicht verletzt, 17 Menschen wurden vorläufig in Gewahrsam genommen. Vier Linken sei es gelungen, sich auf der Strecke festzuketten, rund 20 Bad Nenndorfer Bürger hatten sich vorübergehend solidarisch dazugesetzt - in der Gefahrenprognose las sich das anders. Dort waren "Massenblockaden" der Bad Nenndorfer als eines der Argumente für ein Verbot und damit für den polizeilichen Notstand angegeben worden. In Behördenkreisen war über einen polizeilichen Notstand und ein Demonstrationsverbot schon länger diskutiert worden. Nach jedem Neonaziaufmarsch in Bad Nenndorf wurde das Thema in Fachkreisen diskutiert.

 

Polizisten sprechen von Kapitulation

Nicht nur bei Bad Nenndorfern sorgte das Verhalten des Innenministeriums für Verärgerung. Auch bei der Polizei gibt es interne Kritiker. "Wenn der polizeiliche Notstand ausgerufen wird, dann schwenkt die Polizei damit die weiße Fahne und gibt zu, dass sie in dem Fall vor den Feinden der Demokratie kapituliert", sagten Polizeiführer bundesweit. Hinter vorgehaltener Hand fragt man sich nicht nur, ob die Zahlen stimmen, sondern auch, wie mit Definitionen umgegangen werde - etwa, wenn es um die Eingruppierungen sogenannter gewaltbereiter Demonstranten geht. Ein Beamter wundert sich im Gespräch mit dem NDR: "Dieses Instrument hinterfragt niemand, obwohl man damit wunderbar Politik machen kann."

Verbot und polizeilicher Notstand haben Bad Nenndorf mehr als in der Vorjahren bundesweit in die Medien gebracht. Und dort wird sich der Kurort wohl auch in den nächsten Jahren wiederfinden, denn die Neonazi-Aufmärsche sind bis zum Jahr 2030 angemeldet.