Lutherjahr 2017: „Luther war Antisemit und Arbeitsfanatiker“

Erstveröffentlicht: 
20.07.2017

Der Philosoph Nikolas Lelle spricht heute Abend in Frankfurt über den Reformator Martin Luther und die Nationalsozialisten.

 

Im „Lutherjahr“ 2017 feiert die evangelische Kirche 500 Jahre Reformation mit unzähligen Veranstaltungen. Eine etwas andere, kritische Perspektive auf Martin Luther will der Asta der Goethe-Universität bieten. Er initiierte die „Ersten Frankfurter Anti-Luther-Festwochen“, eine zweiwöchige Veranstaltungsreihe, die untersucht, inwiefern Luthers Denken den Nationalsozialisten entgegengekommen sein könnte. Die Reihe mit vier Vorträgen verschiedener Referenten geht heute Abend mit einem Vortrag von Nikolas Lelle zu Ende.

 

 Herr Lelle, kann man von einer Linie sprechen, die man gewissermaßen von Luther zu den Nationalsozialisten ziehen könnte?


Es kommt nicht von ungefähr, dass Luther nicht nur Antisemit, sondern auch Arbeitsfanatiker war. Für ihn ist Arbeit keine Mühsal, sondern eine Pflichterfüllung Gott gegenüber. Während Deutsche arbeitsam und fleißig seien, würden Juden ihr Geld mit „Tricks“ wie Wucher, Geldleihen und Handel verdienen und somit vom Reichtum der anderen leben. Luther propagierte diese Idee „deutscher Arbeit“ auf besondere Weise, das prägte auch den Nationalsozialismus: Hitler hält 1920 eine Rede, in der er zum ersten Mal begründet, wie die Nazis über Arbeit nachdenken.

 

Er sagt, Deutsche arbeiteten gemeinnützig, als Dienst an der Volksgemeinschaft. Demgegenüber stehe der Jude, der eigennützig Geschäfte mache und keine Gemeinschaft im Blick habe. Aber zwischen Luther und Hitler liegen 400 Jahre. Luther ist eine Art Stichwortgeber für die Debatten, die es im 19. Jahrhundert gab und an die Hitler anschließt. Während Luther eher en passant darüber spricht, radikalisiert Hitler das und gibt sogar Kriterien dafür an, welche Arbeit „deutsch“ sei und welche nicht.

 

Was hat die Nationwerdung Deutschlands mit der „deutschen Arbeit“ zu tun?


Es ist kein Zufall, dass diese Idee vor allem im 19. Jahrhundert wieder en vogue wurde. Überall wurde die Frage gestellt: Was ist deutsch? Die entstehende deutsche Nation musste klären, wer ab wann dazugehört. Da wurde auch die Frage gestellt, ob es eine besondere Art zu arbeiten gibt, eine spezifisch deutsche.

 

Die Kirche distanziert sich von Luthers Antisemitismus. Da rennen Sie mit Ihrer Kritik doch offene Türen ein.


Die evangelischen Kirchenverbände wollen mit Luthers Antisemitismus völlig zu Recht nichts zu tun haben. Die Frage ist nur, ob man diesen einfach so von allen anderen Ideen Luthers abspalten kann. Meiner Meinung nach muss man seine Vorstellungen von Arbeit ins Zentrum rücken. Das hat die Konsequenz, dass auch sein Antisemitismus stärker hervortritt. Man kann sich nicht einfach von Letzterem distanzieren, ohne Luthers Äußerungen über Faule oder Müßiggänger miteinzubeziehen. Im Programm des Evangelischen Kirchentags habe ich keine einzige Veranstaltung zu diesem Thema gefunden. Man distanziert sich zwar auf eine Art, doch es findet keine ausreichende inhaltliche Auseinandersetzung statt.

 

Wie sollte denn das Verhältnis der evangelischen Kirche zu Luther sein?


Schwierige Frage. Grundsätzlich würde ich sagen: Jede Bewegung, die sich auf einen Gründer oder eine Gründerin bezieht, muss damit differenziert umgehen und sich die Entstehungsgeschichte des Denkens dieser Person anschauen. Ich habe das Gefühl, da besteht Nachholbedarf. Das ist aber etwas, das die evangelische Kirche für sich klären muss.

 

Interview: Jonas Wagner