Die Erfindung der Chaoten

Erstveröffentlicht: 
01.03.2017

Linksextreme Gewalttäter werden gerne als «Chaoten» bezeichnet. Durchaus zu Unrecht.

 

Kolumne von Lucien Scherrer

 

«Chaoten» sind immer dann in aller Munde, wenn ein Mob irgendwo Polizisten angreift und Schaufenster böser Kapitalisten einschlägt; egal ob in Zürich oder Bern, das gerade «Hauptstadt der Chaoten» ist. Die Gewalt von «Chaoten» wird stets bedauert, der Berner Stadtpräsident will ihnen aber trotz allem ein Türchen zum «Dialog» offen halten – als ob es gewaltbereite Sektierer eigentlich auf ein Kaffeekränzchen abgesehen hätten. Genau hier liegt auch das Problem des inflationär verwendeten Chaoten-Begriffs: Er suggeriert, dass man es mit einem chaotischen, also desorganisierten oder gar planlosen Haufen zu tun hat, der nicht so recht weiss, was er will. Das mag auf gewisse pubertierende Krawalltouristen zutreffen, verschleiert aber, dass bei Ausschreitungen meist gut organisierte Gruppen mitmischen, die im Gegensatz zu echten Chaoten ganz konkrete Ziele haben – zum Beispiel die Zerstörung von Demokratie und Rechtsstaat.

 

Fragt sich nur, wer die Legende von den «Chaoten» in die Welt gesetzt hat. Waren es Linke und Grüne, die in Sachen linker Gewalt gerne zwischen Distanzierungs- und Erklärungsversuchen lavieren? Ein Blick ins NZZ-Archiv lässt vielmehr den Verdacht aufkommen, dass es sich hier um einen bürgerlichen Kampfbegriff handelt, der während der 80er Unruhen in Mode kam. So wetterte der spätere Stadtpräsident Thomas Wagner (fdp.) gegen «Gewalttäter und Chaoten». Präziser ist der unreflektiert verwendete Begriff seither nicht geworden, wie die Klärungsversuche des «Dudens» zeigen: Galten «Chaoten» 1996 noch als Zerstörer «ohne klare politische Linie», sind inzwischen alle gemeint, die «politische Ziele» mit «gezielter» Zerstörung und Gewalt durchzusetzen versuchen. Doch wären nach dieser Definition nicht alle Kriegsherren, Diktatoren und Junta-Generäle «Chaoten» gewesen, im Grunde ihres Herzens?