Ein Gespräch mit Massimo Perinelli über das am Mittwoch in Köln gestartete NSU-Tribunal
Herr Perinelli, Justiz und Politik beschäftigen sich intensiv mit dem NSU. Warum ist jetzt das Tribunal notwendig?
Im Gegensatz zum Gerichtsprozess und zur Politik stehen bei uns die
Betroffenen im Mittelpunkt. Das, was sie über viele Jahre hinweg erleben
und erleiden mussten, spielt in der Auseinandersetzung kaum eine Rolle.
Sie haben schon frühzeitig darauf gedrängt, dass als Täter auch Nazis
in Erwägung gezogen werden, was aber komplett ignoriert wurde. Hätten
die Behörden rechtzeitig in die richtige Richtung ermittelt, wären
manche Morde und Anschläge nie geschehen. Das Wissen der Betroffenen
muss endlich nach außen dringen, und dafür braucht es unser Tribunal.
Es gibt doch in Bund und Ländern einige Untersuchungsausschüsse, die immer wieder Missstände aufdecken.
Die Qualität der Arbeit, die die Untersuchungsausschüsse leisten, ist
sehr unterschiedlich. Wirklich gut sind der Thüringer und der erste
Bundes-Untersuchungsausschuss. Beide haben vieles zutage gefördert, das
vorher nicht bekannt war. Die thüringische SPD-Politikerin Dorothea Marx
sprach ja nicht umsonst von »staatlich betreuten Morden«. Das hat aber
bisher noch überhaupt keine Konsequenzen nach sich gezogen. Noch
schlimmer: Die Geheimdienste und das V-Mann-Verfahren erhielten sogar
mehr Kompetenzen und mehr Mittel als zuvor.
Was kann das NSU-Tribunal leisten, was das Gerichtsverfahren in München nicht leistet?
Ein großes Problem ist dort, dass die vier mit Beate Zschäpe Angeklagten
fast willkürlich ausgewählt wurden und viele Drahtzieher und
Unterstützer nicht auf der Anklagebank sitzen. Ein anderes Problem ist,
dass noch immer versucht wird, den Fokus von den größeren Zusammenhängen
fernzuhalten, obwohl die Nebenklagevertreter stark für eine
Richtungsänderung kämpfen. Wir werden diese Zusammenhänge verhandeln. Es
geht bei uns um die Verstrickungen von Geheimdiensten in die Naziszene,
um die jahrelange Kriminalisierung der Opfer durch Medien und Politik
und um die aktuelle Verharmlosung und Vertuschung. Es geht uns um das,
was die Behörden nicht leisten wollen: Aufklärung.
Was steht bei dem Tribunal inhaltlich auf dem Programm?
In der Vorbereitung haben wir bemerkt, dass wir verschiedene Ziele
verfolgen. Daraus entwickelte sich der Dreiklang »Wir klagen. Wir klagen
an. Wir klagen ein.« Mit der Klage meinen wir den Schmerz, der noch
nicht genug Raum bekommen hat. Die Betroffenen werden oft behandelt wie
Statisten, wenn öffentliche Auftritte und Gedenkveranstaltungen
anstehen. Da gibt es dann salbungsvolle Reden, es spielt aber überhaupt
keine Rolle mehr, wie schäbig die Menschen behandelt wurden.
Wie sah diese Behandlung aus?
Die Ermittlungsbehörden haben lange Zeit die Betroffenen kriminalisiert,
anstatt in rechten Kreisen zu ermitteln. Sie haben ganze Familien
zerstört und gezielt Lügen gestreut, indem sie mancher Ehefrau sagten:
»Ihr Mann ist in der PKK«, »Er hat eine heimliche Geliebte« oder »Der
gehört zur Drogenszene«.
Welche anderen inhaltlichen Schwerpunkte setzt das Tribunal?
Der zweite Punkt ist die Anklage. Wir wollen alle Täter benennen. Nicht
nur das noch immer aktive NSU-Netzwerk, sondern auch die Unterstützer in
den Institutionen, aber auch die Akteure, die von »Dönermorden«
sprachen und die Migranten kriminalisierten. Und dann wäre da noch das
Einklagen: Wir wollen eine postmigrantische Einwanderungsgesellschaft.
Die Nazis haben ja bewusst nicht Asylbewerberunterkünfte angegriffen,
sondern Einheimische. Das waren alles Kleinunternehmer, die teilweise
auch hier geboren sind. Wir wollen zeigen, dass die Nazis verloren haben
und dass die Einwanderungsgesellschaft sich nicht vertreiben oder
wegbomben lässt.
Wie haben Sie es geschafft, dass sich die gegenüber öffentlichen Auftritten skeptischen Betroffenen an dem Tribunal aktiv beteiligen?
Bei mir begann diese Arbeit in der Kölner Initiative »Keupstraße ist
überall«. Als schon klar war, dass Nazis die Täter sind, da wollten die
Leute trotzdem nicht über die dort detonierte Bombe und die Folgen
reden. Sie hatten gelernt: Wer darüber spricht, der bekommt Ärger.
Danach ist es dann gelungen, das Schweigen zu brechen und die Kluft
zwischen Mehrheitsgesellschaft und migrantischen Communities einzuebnen.
Das ist vor allem den Bewohnern zu verdanken. Nach dem Auffliegen des
NSU ist die Antifa als Erstes in einer Demonstration durch die
Keupstraße marschiert, ohne mit den Leuten vor Ort gesprochen zu haben.
Die Geschäftsleute haben sich dem damals in den Weg gestellt und gesagt:
So geht es nicht. Sie zwangen die Aktivisten also zum Dialog, der
danach schnell in Gang gekommen ist - über alle weltanschaulichen
Differenzen hinweg, denn die meisten Bewohner sind ja keine Linken. Im
Gespräch und in der Zusammenarbeit sind die Kräfte dann
zusammengewachsen.
Es gab schon viele solcher Tribunale. Inwiefern sehen Sie sich in einer spezifischen Tradition?
Wir setzen uns von früheren Tribunalen deutlich ab. Bekannt sind ja vor
allem die Russell-Tribunale zum Vietnamkrieg, bei uns in Deutschland
sind es die Berufsverbotstribunale oder vor einiger Zeit das
Kapitalismustribunal. Dort waren jeweils Experten die Hauptfiguren. Bei
uns sitzen diese Experten in der zweiten Reihe und kommen nur zu Wort,
wenn ihr Wissen gebraucht wird. Es sind vor allem die Stimmen der
Betroffenen, die bei uns Anklage erheben und ihre Geschichte erzählen.
Außerdem werden wir im Gegensatz zu früheren Tribunalen kein Urteil
sprechen. Das überlassen wir der Gesellschaft. Wir wollen zur Aufklärung
beitragen, den bislang Stummen ein Forum bieten und das Signal nach
außen senden, dass die Gesellschaft der Vielen stark und vital ist.
Dr. Massimo Perinelli ist Historiker, lebt in Berlin und arbeitet als Referent für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist langjähriges Mitglied von »Kanak Attak«, Mitbegründer der Initiative »Keupstraße ist überall« und des Aktionsbündnisses »NSU-Komplex auflösen«. Er hat zu Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte publiziert sowie zu Rassismus und migrantischen Kämpfen. Außerdem hat Perinelli das NSU-Tribunal in Köln mitorganisiert.