Flüchtlingspolitik: Merkel soll zahlen

Erstveröffentlicht: 
09.05.2017
Sven Krüger schreibt einen Brief an die Kanzlerin und fordert die Kosten für die Flüchtlingspolitik zurück. Freibergs Bürgermeister wundert sich, dass er der einzige ist.
Von Doreen Reinhard, Freiberg (Sachsen)

 

Sven Krüger aus Freiberg in Mittelsachsen ist zuletzt ein bisschen berühmt geworden. Die Schlagzeilen über ihn lassen sich in etwa so zusammenfassen: Provinzbürgermeister hat eine Rechnung mit Angela Merkel offen. Wenn es ihm nicht so ernst wäre, sagt Krüger, müsste er zugeben, dass das komisch ist. Denn was hat er eigentlich mit der mächtigsten Frau Deutschlands zu schaffen? Im Grunde immer noch nicht viel, denn auf den zweieinhalb Seiten langen Brief, den Krüger im März nach Berlin geschickt hat an die "Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin", hat er keine Antwort bekommen.

 

Dafür hat das Schreiben eine Debatte entfacht. Krüger fordert Kosten für die Integration von Flüchtlingen zurück. Exakt 736.200 Euro, so viel hat er für 2016 addiert. Er will den Betrag erstattet bekommen, denn der fehle in der Stadtkasse. Krüger pocht auf ein Versprechen aus dem Kanzleramt, das er vor vielen Monaten im Fernsehen gehört habe: Keine Kommune soll auf den Kosten für Integration sitzen bleiben. Der Bürgermeister weiß nicht mehr, wer genau das eigentlich gesagt hat, ob Angela Merkel oder ihr Vize Sigmar Gabriel, vielleicht auch jemand anderes aus dem Regierungsviertel. Aber diese Sätze haben sich bei ihm eingebrannt. Sie wurden sein Antrieb, es ganz genau zu nehmen.

 

Sven Krüger, 43 Jahre, fast die Hälfte seines Lebens SPD-Mitglied, "aber vor allem Bürgermeister meiner Stadt", ist ein Experte für Zahlen. Er stammt aus der Region, hat lange bei der Sparkasse gearbeitet und zog vor einigen Jahren als Finanzbürgermeister ins Freiberger Rathaus, ein Prachtstück am Marktplatz, wie vieles hier topsanierte Renaissance. In seinem Büro hat Krüger stets den Taschenrechner parat, ein älteres, schon ein wenig abgegriffenes Modell, um dies und das mit flinken Fingern einzutippen. Die Bilanz seiner Stadt, früher mal ein Bergbauzentrum, sieht ordentlich aus: etliche starke Unternehmen, viele Jobs, eine Hochschule, die für Dynamik sorgt, 42.000 Einwohner, wachsende Tendenz wegen guter Entwicklungen auch bei Zuzug und Geburtenquote, keine demografischen Sorgen also.

 

"Die Stadt hatte schwierige Zeiten, typische ostdeutsche Probleme, vor allem in den Neunzigern, aber durch eine kluge Politik hat sich vieles zum Positiven entwickelt", sagt Krüger. "Helmut Kohls Spruch von den blühenden Landschaften ist in Freiberg wahr geworden."

 

Im Sommer 2015 wurde er zum Oberbürgermeister gewählt. Statt eines gemäßigten Einstiegs ins Amt erwartete ihn ein Ausnahmezustand. Das hatte vor allem mit der Ankunft von Flüchtlingen zu tun. Anfang 2015 lebten nur etwa 200 Asylbewerber in der Stadt. In wenigen Monaten stieg die Zahl auf 1.700. Freiberg nahm mehr Flüchtlinge auf als vereinbart. Ursprünglich war im Landkreis eine gleiche Verteilung unter allen Kommunen vorgesehen, aber in einigen Orten gab es keine passenden Quartiere oder eine schlechte Infrastruktur. "In dieser Zeit waren wir alle Getriebene", sagt Krüger. "Da kommt ein Thema auf einen zu, das einen erst mal 90 Prozent der Arbeitszeit beschäftigt. Man will irgendwie versuchen, in der Stadt ein friedliches, ein anderes Miteinander hinzubekommen." 

 

Die Kriminalität ist gestiegen


Damit meint Krüger auch: Anders als etwa in Bautzen, Clausnitz oder Freital, jenen sächsischen Orten, in denen zur gleichen Zeit Unruhen ausbrachen, asylfeindliche Proteste stattfanden und sich Anschläge auf Asylbewerberheime häuften. "Man hat in den Nachrichten immer wieder gehört, dass hier und dort Flüchtlingsheime brennen, in Sachsen und in ganz Deutschland", sagt er. "In Freiberg war unser Anspruch von Anfang an: Wir müssen die Integration gestalten. Dafür sind Investitionen notwendig." Damals hat der Bürgermeister auch den Beschluss gefasst, über diese Investitionen penibel Buch zu führen. "Ich bin den Freibergern ja Rechenschaft schuldig, weil sie den Weg mit uns gegangen sind."

 

Asyl und Integration heißt die Kostenstelle im Stadthaushalt. Sven Krüger zählt auf, was 2016 unter anderem dazu gehörte:

  • rund 50.000 Euro für die Beschäftigung einer Integrationsbeauftragten, einer Deutschen mit syrischen Wurzeln, die ihm seit einem Jahr direkt unterstellt ist
  • circa eine halbe Million Euro für zusätzliche Klassen, in denen Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird, für neue Kita-Programme und die Ausstattung sozialer Vereine
  • etwa 180.000 Euro, anteilig berechnet für einen Sicherheitsdienst, acht Mitarbeiter, die in Freiberg seit vorigem Jahr Streife laufen.

 

Die Kriminalität sei gestiegen, sagt Krüger. Statistiken kann er nicht vorlegen, die führe man nicht gesondert für die Stadt. "Das sind Entwicklungen, die wir beobachtet haben. Der wöchentliche Polizeibericht war vor 2015 nicht auffällig. Plötzlich war er jede Woche ein paar Seiten lang, darunter ein starker Anstieg von Eigentumsdelikten und auch immer wieder Taten von Migranten." Seit es den Sicherheitsdienst gibt, habe sich die Situation wieder beruhigt. Nicht in seiner Rechnung aufgeführt, aber ebenfalls ein Teil von Krügers Gesamtbilanz: Man habe städtische Steuern und Gebühren erhöhen müssen, um die Kosten für Integration zu decken. 

 

Die AfD ist begeistert


Die Krüger-Rechnung ist nun Gesprächsthema, obwohl sie streng genommen noch nicht öffentlich ist. Auch das Schreiben an die Kanzlerin bezeichnet Krüger nicht als Offenen Brief, aber das ist Interpretationssache. Er hat eine Kopie in seinem Büro, die zeigt er, gibt sie aber nicht heraus. Dass die groben Inhalte vor einigen Wochen erstmals in einer Regionalzeitung auftauchten und sich schnell verbreiteten, war dem Bürgermeister durchaus recht. Er wollte ja eine Debatte anstoßen.

 

Auch in seiner Nachbarschaft hat er das geschafft. Die Meinungen sind kontrovers. Einigkeit gibt es bei diesem Punkt: Man habe sich in der Stadt sehr um Integration bemüht, bisher sei das ein eher positiver Weg. Nur ob die Rechnung an die Kanzlerin eine so gute Idee ist? Die Grünen-Stadträtin Ulrike Neuhaus findet: durchaus. "Es ist wichtig, dass die Kommunen nicht auf ihren Kosten sitzen bleiben, deshalb ist der Ansatz richtig. Die Aufschlüsselung des Bürgermeisters teile ich nicht in jedem Punkt, aber daran will ich mich nicht hochziehen."

 

Mike Brettschneider, Mitglied im Verein Freiberg grenzenlos, der Aktionen mit Flüchtlingen organisiert, hält dagegen nichts von diesem Weg. "Er wird zu keinem Erfolg führen. Nur dazu, dass von der falschen Seite, Beifall geklatscht wird, zum Beispiel von der AfD. Außerdem erwähnt der Bürgermeister unseren Verein gern als Beispiel für das Engagement in der Stadt, dabei bekommen wir gar kein Geld. Das haben wir auch nie verlangt." 

 

Keine Antwort aus Berlin


Die Freiberger AfD ist tatsächlich begeistert von der Aktion. "Weil Frau Merkel, ja ich denke sogar die ganze Bundesregierung, in einer Wolke aus Pseudomoral und Abwälzung von Verantwortung leben, kann der Brief ein begrüßenswerter Kontakt mit der Realität sein", sagt der Stadtrat Marko Winter.

 

Die Kanzlerin sagt hingegen nichts. Krüger hat ihr eigentlich eine Antwort auf sein Schreiben erwartet. Nur kam die nicht. Er erfuhr nur indirekt, dass er kürzlich Thema bei einer Pressekonferenz in Berlin war. Dort wurde nach seinem Brief gefragt. Die Antwort einer Regierungssprecherin: "Das Schreiben ist im Bundeskanzleramt eingegangen. Die Bundesregierung beantwortet ganz grundsätzlich Offene Briefe nicht." Und es folgte der Hinweis: "Der Bund unterstützt die Länder und Kommunen in vielfacher Weise. Im Gegenzug erwartet natürlich der Bund von den Ländern, dass sie ihre Zusagen einhalten und die dafür vorgesehenen Mittel an die Gemeinden weiterleitet."

 

Bleibt also die Frage: Wer überblickt alle Finanzströme, die in Sachen Integration hin und her geflossen sind? Ist alles Geld dort angekommen, wo es gebraucht wird? Inzwischen hat sich auch der Sächsische Städte- und Gemeindetag in die Debatte eingeklinkt. Der Verband "warnt vor Zahlenspielereien" und erklärt: "Wir reden nicht über die Unterbringung von Flüchtlingen, sondern über die Kosten der Integration. Von den 100 Millionen Euro, die der Bund dem Freistaat Sachsen dafür jährlich zur Verfügung stellt, haben die Städte und Gemeinden unmittelbar keine Mittel erhalten." Der Vorwurf lautet also: Offenbar hat das Land das Geld nicht korrekt an die Kommunen übermittelt.

 

Zumindest ein Gespräch hat der Freiberger Bürgermeister inzwischen geführt, mit der sächsischen Integrationsministerin Petra Köpping, die bald nachdem der Brief bekannt worden war, in seinem Büro saß und sich den Freiberger Weg erklären ließ. Ihr Fazit: "Nach allem, was ich über die Arbeit mit Geflüchteten in Freiberg weiß, kann ich guten Gewissens sagen, diese Stadt ist, neben vielen anderen Kommunen, ein wirklich gutes Beispiel für gelebte Integrationsbemühungen." Dass einige Orte mehr Flüchtlinge als andere aufgenommen haben, müsse man "diskutieren und gegebenenfalls auch noch einmal neu bewerten". In den kommenden Wochen soll es darüber Verhandlungen mit der sächsischen Regierung geben.

 

Ist Sven Krüger enttäuscht, dass er keinen Besuch aus Berlin bekommen hat? Nein, so will er das nicht ausdrücken, aber gerecht findet er all das auch wieder nicht. "Ich hätte mir schon gewünscht, dass man nicht immer nur dann vor Ort ist, wenn etwas aus dem Ruder gelaufen ist, sondern auch mal, wenn etwas gut funktioniert." Noch mehr Post will er nicht ins Kanzleramt schicken. Sein erster Brief an Angela Merkel soll auch der letzte sein. "Die Diskussion ist ja angestoßen." Und trotzdem noch nicht erledigt. Auch dieses Jahr wird Krüger alle Ausgaben summieren. Die Kostenstelle für Asyl und Integration hat er nicht abgeschafft.