Arnsdorfer Strudel

Erstveröffentlicht: 
21.04.2017

Am Montag beginnt der Prozess gegen jene vier Männer, die im Mai 2016 einen Iraker an einen Baum auf dem Parkplatz eines Supermarktes in Arnsdorf fesselten. Der Flüchtling ist tot, das Dorf gespalten, und auch ein Motorradklub spielt eine Rolle.

 

Von Ulrich Wolf

 

Ungewollt wurde er zum Internetstar. Zehntausende schauten sich im Frühjahr 2016 ein Handyvideo an, in dem er eine wichtige Rolle spielte. Es dauert nur zweieinhalb Minuten. Es zeigt eine Szene in einer Filiale der Supermarktkette Netto in Arnsdorf bei Dresden am frühen Abend des 21. Mais. Er, das ist ein junger Mann, ein Flüchtling aus dem Irak. Er steht an der Kasse. Beigefarbene Shorts, graues T-Shirt, weiße Latschen, in der rechten Hand zwei Weinflaschen. Wortfetzen auf Arabisch sind auszumachen. Die Kassiererin wird laut: „Stell die Flasche hin, nimm dein Telefon und geh!“ Plötzlich tauchen vier Männer auf. Einer von ihnen trägt ein weißes T-Shirt. Das ist Gemeinderatsmitglied Detlef Oelsner, ein Christdemokrat. Ohne Vorwarnung packen sie den Asylbewerber, nehmen ihm die Weinflasche ab, führen ihn zum Ausgang. Dort beginnt er sich zu wehren, holt zu einem Tritt aus. Oelsner dreht ihm den Arm um. Sie drücken ihn nieder. Einer schreit: „Was willst du von mir? Schwein du!“ „Raus mit dir!“, brüllt ein anderer. „Kriegst noch eene.“ Dann drängen sie den Flüchtling aus dem Markt. Eine weibliche Stimme sagt aus dem Off: „Ist schon schade, dass man eine Bürgerwehr braucht, oder?“ Die Stimme gehört der Frau, die das Video gemacht hat. Ein Video, das wirkt, als sei es organisiert.

 

Was dann nicht mehr zu sehen ist: Vor dem Markt drücken die vier den Iraker auf den Boden und fesseln ihn mit Kabelbindern an einen Baum. Er wird erst befreit, als die vom Personal des Marktes gerufene Polizei eintrifft. Die Staatsanwaltschaft Görlitz sieht darin eine Freiheitsberaubung, am kommenden Montag beginnt der Prozess gegen die vier Männer vor dem Amtsgericht Kamenz. Der Iraker war als Hauptbelastungszeuge vorgesehen. Doch er wird nicht kommen können. Er ist tot.

 

Es ist Ostermontag, früher Abend, ein Jäger ist in seinem Revier im Tharandter Wald auf der Pirsch. „Pferdestall“ nennen die Einheimischen die Gegend rechter Hand der kleinen Landstraße von Dorfhain nach Hartha. Der Wald wird hier begrenzt von der Bahnlinie Dresden - Chemnitz. Zwischen Bäumen am Wanderweg „Zum Kannenhenkel“ entdeckt der Jäger im Gebüsch einen stark verwesten Leichnam. Inzwischen steht fest: Bei dem Toten handelt es sich zweifelsfrei um jenen jungen Iraker, der vor fast einem Jahr seinen Auftritt in dem Handyvideo von Arnsdorf hatte. Schon seit Januar soll er dort im Wald gelegen haben, vermutlich jämmerlich erfroren, im Alter von nur 21 Jahren. Das ergab die Obduktion. Hinweise auf einen gewaltsamen Tod hat die Polizei nicht gefunden.

 

Es gibt Menschen, die ihre Schadenfreude über den Tod des Irakers unverhohlen ausdrücken. Auf der Facebook-Seite „Solidarität für Arnsdorf“ etwa. Dort schreibt ein Mann aus Coswig: „Hätte er sich an die hier herrschenden klimatischen Bedingungen angepasst, so würde er vielleicht noch leben. Tja, integrationsunwillig halt.“ Besagte Facebook-Seite ist erst seit Februar online, sie hat fast 800 Likes. Das Profilbild zeigt eine Gruppenaufnahme. Dazu heißt es, rund 100 Bürger aus der Gemeinde Arnsdorf und Umgebung hätten sich zu einer Fotoaktion getroffen, „um die vier Angeklagten symbolisch zu unterstützen“. Man stehe hinter den Betroffenen und trete für Zivilcourage ein. „Wir kämpfen für Gerechtigkeit!“ Die Gruppe hält das am Montag in Kamenz anstehende Verfahren für einen „Schauprozess“, für eine „Kriminalisierung von Zivilcourage“. Es könne nicht angehen, dass Bürger helfend eingriffen und dann wegen Freiheitsberaubung angeklagt würden. Ihr Logo zeigt zwei Hände, die ineinander greifen.

 

Zweck der Seite ist es, Spenden zu sammeln „für die Finanzierung des Gerichtsprozesses und der Anwaltskosten“. Das Spendenkonto lautet auf den Namen des angeklagten Detlef Oelsner. Sein Verteidiger ist inzwischen so etwas wie ein Star der neurechten Szene: Maximilian Krah. Im vergangenen Spätsommer noch war der Jurist Mitglied im CDU-Kreisverband Dresden, wollte sich sogar als Direktkandidat zur Bundestagswahl 2017 aufstellen lassen. Ende September jedoch verließ Krah die Christdemokraten und wechselte zur AfD. Er stellt sich gern auf den Balkon seiner Kanzlei, im Hintergrund die Frauenkirche, und hält politische Statements, die er auf Facebook oder seinem Blog postet. Von der Arbeit etablierter Medien hält Krah nicht viel. Und so erklärt der knapp 40-Jährige seine Verteidigungsstrategie vor allem in einem Video der neurechten Ein-Prozent-Bewegung. Sein Mandant Detlef Oelsner habe aus Notwehr gehandelt, sagt er da. „Juristisch korrekter aus Nothilfe.“ Denn er habe die Mitarbeiter des Netto-Marktes beschützt. Krah beruft sich zudem auf das Jedermann-Festnahmerecht, demzufolge jedermann einen Straftäter vorläufig festnehmen darf, bis die Polizei eintrifft. Nichts anderes hätten die vier Männer mit dem jungen Iraker gemacht, als sie diesen mit Kabelbindern fesselten.

 

Nur: War der Iraker ein Straftäter? Zumindest war er nicht unbedingt ein leuchtendes Vorbild an Integrationswilligkeit. Lag das an seiner psychischen Erkrankung? Bereits zum Zeitpunkt der Fesselaktion war der Asylbewerber Patient im Arnsdorfer Fachkrankenhaus, ab Spätherbst hat er sich nach SZ-Informationen in Dresden-Friedrichstadt - teilweise gegen seinen Willen und sich aggressiv verhaltend - behandeln lassen. Die Dresdner Polizei spricht gar von „mehreren Krankenhausaufenthalten“. Zuletzt sei er in einer dezentralen Unterkunft in Tharandt untergebracht gewesen, heißt es von Seiten der Polizei. Dort habe er sich jedoch nur sporadisch aufgehalten, sein Betreuer habe ihn zuletzt am 2. Januar gesehen und am 30. Januar eine Vermisstenanzeige gestellt.

Darüber hinaus lief ein weiteres Aufenthaltsverfahren, weil die Zweigstelle Pirna der Staatsanwaltschaft Dresden gegen den jungen Mann wegen zweier Körperverletzungen ermittelte. Den Vorwurf, er habe die Kassiererin im Netto-Supermarkt von Arnsdorf bedroht, ließ die dort zuständige Staatsanwaltschaft Görlitz hingegen fallen. Das habe die Analyse des Handyvideos von dem Vorfall ergeben, teilte die Behörde mit. Stattdessen klagte sie die Männer an, die den Asylbewerber fesselten.

 

Eine Anklage, die eine Welle der Empörung in dem Dorf bei Dresden auslöste. Das Solidaritätsfoto vor dem Supermarkt entstand am 19. Februar, einem Sonntag. Ohne Wissen des Supermarkt-Betreibers. Die Zentrale der Netto-Marken-Discount AG & Co KG bei Regensburg teilt mit, es habe keine Genehmigung für das Foto vor der Filiale in Arnsdorf gegeben. „Das Foto wurde ohne unsere Kenntnis, Zustimmung oder gar Beteiligung außerhalb der Öffnungszeiten erstellt.“ Man betone „darüber hinaus mit Nachdruck“, dass Netto in keiner Weise in Zusammenhang mit der Initiative „Solidarität für Arnsdorf“ stehe und diese auch nicht unterstütze. Inzwischen ist der Netto-Markt auf der Facebook-Seite wegretuschiert, die Supermarktkette erwirkte eine Unterlassung. Die Bürgerinitiative reagierte prompt: „Wir nehmen dies als Anlass, kreativ darauf zu reagieren. Und kaufen künftig nur noch gegenüber ein - denn Lidl lohnt sich!“

 

All das ist die Handschrift der Identitären Bewegung, einem neurechts anzusiedelnden intellektuellen Zusammenschluss meist jüngerer Leute, oft Studenten. Der Übergang zur Ein-Prozent-Bewegung, die die Aktion „Solidarität für Arnsdorf“ nachweislich unterstützt, ist fließend. Sie drehte ein Video, in dem sich nicht nur Anwalt Krah zu Wort kommt, sondern auch drei Angeklagte äußern. Einer von ihnen ist der 29-jährige Felix Leutloff. Er stammt aus dem Ortsteil Fischbach und sagt: „Wir haben doch nur Hilfe geleistet, und jetzt sollen wir ins Gefängnis. Ich fasse das nicht.“ Der Angestellte ist oft auf Facebook-Seiten der Identitären unterwegs und postet dort gerne so genannte Hashtags: #Zivilcourage, #Bürgermut, #Notwehr, #Nothilfe, #HinschauenHelfenGesichtzeigen. Seine Verteidigerin Deborah von Canal gehört zur Kanzlei von Krah, die in den vergangenen Wochen rund um Radeberg Werbe-Postkarten verschickte.

 

Nur wenig älter ist der aus Oschatz stammende Sebastian Rätke. Er wohnt seit ein paar Jahren in Arnsdorf, arbeitet als Lagerist und sagt in dem Video: „Wir sind doch keine Bürgerwehr, kein rechter Mob, gar brauner Mob.“ Auf seiner Facebook-Seite teilt er Sprüche wie: „“Lieber eine Schwester im Puff als ein Bruder bei der Antifa.“ Auch er treibt sich zumindest virtuell bei den Identitären um, bei Pegida, der „Russlanddeutschen Front“. Und beim Motorradklub „Road Eagle“.

 

Das Klubhaus mit dem getäfelten Giebel liegt einsam inmitten einer Wiesenlandschaft nördlich des Arnsdorfer Ortsteils Kleinwolmsdorf, begrenzt von der Schwarzen Röder und der Bahnlinie Dresden-Bautzen. So abgeschieden das Domizil der Rocker ist, gesellschaftlich sind sie vor Ort voll integriert. Hauptsponsor des Klubs ist der Verlag der Radeberger Heimatzeitung. Zu weiteren Unterstützern zählt fast die gesamte lokale Wirtschaft: Bau- und Taxiunternehmer, Raumausstatter, Dachdecker, Elektriker, Kfz- und Zweiradwerkstätten, Brunnenbauer, Veranstaltungstechniker, Computershops, eine Physiotherapie und ein Gasthaus. Mit dem gebürtigen Arnsdorfer Bernd Götz zählt ein Führungsmitglied der „Road Eagle“ zu den Angeklagten.

 

Götz ist mit 56 Jahren der älteste des Quartetts. Er arbeitete unter anderem als Tätowierer in Radeberg. Mit Frank Hannig hat er sich einen Anwalt genommen, der - wie Krah - ebenfalls einen Namen hat in Dresden: als Ex-Treuhänder für die Spendenkonten von Pegida; als Ex-Stasi-Mann; als Ex-CDU-Mitglied, der einst Kanzlerin Angela Merkel verklagte wegen des Kaufs von Schweizer Steuer-CDs; als Ex-Partner von TV-Moderator Peter Escher, die sich nach heftigem Streit trennten. Seine Pressemitteilung zum Tod des irakischen Flüchtlings schickt er nicht an die Medien, sondern postet sie unter dem Slogan „Hannig - wir lösen Probleme“ auf der Facebook-Seite „Solidarität mit Arnsdorf“. Darin betont der Jurist: „Weder gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen der Randale im Netto-Markt und dem bedauerlichen Tod des Irakers, noch gibt es irgendeine Art von Bürgerwehr (…), die mit derartigen Dingen irgendwie in Verbindung zu bringen wären.“ Er warnt vor „Vorverurteilungen und böswilligen Spekulationen“, die „die öffentliche Meinung zu Lasten der Arnsdorfer Bürger manipulieren“.

 

Er ist nicht der einzige, der sich sorgt. In ihrem Büro der eher unscheinbaren Gemeindeverwaltung wählt Bürgermeisterin Martina Angermann ihre Worte mit Bedacht. Am liebsten würde sie sich aus den Diskussionen um den anstehenden Prozess heraushalten und abwarten, was das Urteil bringt. Mit Bauschmerzen blicke sie aber auf die Zukunft Arnsdorfs, sagt sie. Die Gemeinde könnte sich während des Verfahrens um die vier Männer weiter spalten. „Ich bin gegen jegliche Gewalt. In dem Video aus dem Netto-Markt ist allerdings viel Gewalt zu sehen.“

 

Mit Detlef Oelsner sitzt einer ihrer Widersacher auf der Anklagebank. Im Sommer 2015 war er für die CDU gegen Angermann als Bürgermeisterkandidat angetreten, verlor jedoch haushoch. Der knapp 50-Jährige verteidigte sich bereits wenige Wochen nach der Fesselaktion vehement im Arnsdorfer Gemeinderat. „Wir sind Bürger, keine Untertanen. Die Staatsgewalt geht von uns aus. Die Polizei hat ihre Befugnisse, aber deshalb hören wir nicht auf, für unser Dorf und unser Land verantwortlich zu sein“. Er sieht in der Gemeinde einen „beachtlichen Zusammenhalt angesichts des Mediendrucks“. Am Ende des Prozesses, das ein „Symbolverfahren“ sei, könne nur ein Freispruch stehen. „Falls nicht, gehen wir weiter.“ Seine Tischlerei und sein Wohnhaus liegen gleich neben dem Netto-Markt. Oelsners Frau betreibt auf dem Grundstück den Imbiss „Holzwurmgrill“, an warmen Tagen wie damals im Mai 2016 ein beliebter Treffpunkt. In der rechten Ecke oberhalb der Verkaufstheke prangt ein Spendenaufruf für das Verfahren gegen ihren Mann. „Diesen Prozess, den können wir nur alle zusammen überstehen“, rief sie bei einem Kurzauftritt auf der 100. Pegida-Demonstration vor rund zwei Wochen ins Mikrofon. Nach Angaben der identitären Ein-Prozent-Bewegung sollen bereits 20.000 Euro gesammelt worden sein. „Vielen Dank an alle Spender und Unterstützer! Zivilcourage ist kein Verbrechen, keiner bleibt zurück!“

 

Die Arnsdorfer Bürgermeisterin und ihre Gemeinde - sie werden sich erneut auf turbulente Wochen einstellen müssen. Der Prozess in Kamenz am kommenden Montag, zu dem sich zahlreiche Unterstützer der Angeklagten angekündigt haben, wird bundesweit für Interesse sorgen. Der Medienrummel war schon nach der Veröffentlichung des Videos im vergangenen Jahr enorm. Das elektronische Postfach der Gemeinde quoll über, zahlreiche Drohmails waren darunter. All das wird diesmal nicht anders sein - erst recht nicht nach dem Erfrierungstod des Hauptbelastungszeugen.