Selbstjustiz in Berliner Supermarkt "Mit der Polizei, das bringt nichts"

Erstveröffentlicht: 
26.03.2017

Selbstjustiz war an der Tagesordnung in einem Berliner Supermarkt: Das Personal verprügelte Ladendiebe - bis einer nach einem der Übergriffe starb. Im Prozess gegen den Filialleiter steht nun das Urteil bevor.

 

Voller Hoffnung, dass vieles in seinem Leben besser werden würde, hatte sich Eugeniu B. im Oktober 2015 auf den Weg von Moldawien nach Deutschland gemacht. Er wünschte sich einen Neuanfang fern der Heimat, mit einem Arbeitsplatz, einem Zuhause, ein bisschen mehr Glück.

 

Es blieb ein Wunsch. Eugeniu B. hatte Mühe, Deutsch zu lernen. Er fand keinen Job und Trost im Alkohol. Er verlor den Halt, seine Ehe scheiterte. Auf einmal war sein Leben nicht nur anders, sondern schlechter als zuvor: Die Straßen Berlins waren sein Zuhause, andere Obdachlose und Gescheiterte seine Freunde.

 

Einmal pro Woche, meist am Samstag, klingelte Eugeniu B. bei seiner Cousine Marianna, die mit ihrem Ehemann und der gemeinsamen kleinen Tochter in der neuen Heimat so lebte, wie Eugeniu B. es sich gewünscht hatte: Der Mann, gelernter Maurer, arbeitet als Bauhelfer, sie absolviert einen Integrationskurs, das Kind besucht den Kindergarten.

 

Bei seiner Cousine duschte sich Eugeniu B., bekam warmes Essen und oft ein Bett, wenn auch nur für eine Nacht.

 

So hatte Eugeniu B. auch am 17. September vergangenen Jahres sein Kommen angekündigt. Als der Mann der Cousine die Tür öffnete, erschrak er: Eugeniu B., 34, stand da, ein großes Hämatom am Auge. Er sei in einem Laden geschlagen worden, weil er eine Flasche Chantré gestohlen habe. Er habe mal wieder kein Geld gehabt, aber nicht mit leeren Händen dastehen und ihnen etwas mitbringen wollen. Nach der Prügel habe man ihn durch die Hintertür rausgeschmissen, "wie einen Hund".

 

Regiment der Selbstjustiz


Am nächsten Morgen saß Eugeniu B. mit stark geschwollenem Gesicht beim Frühstück, hielt sich immer wieder den Kopf, er zitterte stark; wenn er hustete, kam Blut mit. Seine Cousine wollte einen Krankenwagen rufen, redete auf ihn ein, er müsse zum Arzt. Eugeniu B. wehrte sich, er sei nicht versichert. Am Sonntagabend verließ er die Familie. Montagmorgen erschien er in einer Arztpraxis, einen Tag später erlag er seinen schweren Verletzungen im Unfallkrankenhaus Marzahn.

 

Kriminalgericht Moabit, Saal 621: André S. ist angeklagt wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge, er soll auf Eugeniu B. eingeprügelt haben. Der 29-Jährige war der Leiter des Supermarkts im Bahnhof Lichtenberg, in dem der Obdachlose den Weinbrand geklaut hat.

 

Und ein Chef mit wohl recht eigenwilligen Methoden im Kampf gegen den permanenten Ladendiebstahl. Das zumindest hat der Prozess bislang ergeben. Am Montag will die 35. Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Ralph Ehestädt das Urteil verkünden.

 

Demnach führte André S. in seinem Supermarkt offenbar ein Regiment der Selbstjustiz. In seinem Büro soll er Blick auf mehr als 30 Überwachungskameras gehabt haben, mit denen er versuchte, dem Einhalt zu gebieten, was ihn als Chef von 35 Mitarbeitern am meisten in Wallung brachte: der nahezu tägliche Diebstahl.

 

"Da war immer irgendwie wat los"


Typisch für einen Markt in dieser Lage, sieben Tage in der Woche geöffnet, mit Mitarbeitern einer externen Sicherheitsfirma. Dazu ständig wechselnde Kundschaft, dazwischen die Gestrandeten vom Bahnhofsvorplatz, teils verwahrlost, betrunken, zugedröhnt, nicht mehr Herr ihrer Sinne, auf der Suche nach Hochprozentigem und abgestumpft gegenüber Verboten und Regeln. "Da war immer irgendwie wat los", sagt ein Sicherheitsmitarbeiter.

 

So auch am 17. September 2016, als Eugeniu B. sich die Flasche Chantré in die Hose steckt und dabei von André S. erwischt wird. Überwachungsaufnahmen zeigen, wie Eugeniu B. um 8.12 Uhr auf dem Boden des Lieferanteneingangs kauert. André S. trägt an der rechten Hand einen schlagverstärkenden Quarzsandhandschuh und prügelt von oben auf Eugeniu B. ein. Dann tritt er mit dem rechten Fuß zu und versetzt ihm einen weiteren Faustschlag.

 

Ein Mitarbeiter steht daneben, schaut zu. André S. schleift sein Opfer nach draußen. Zurück bleibt Blut auf den weißen Bodenfliesen.

 

Der Gewaltakt dauert nur Sekunden, routiniert vom Chef persönlich ausgeführt. Für Routine spricht auch, dass der anwesende Mitarbeiter ohne Anweisung mit der Wischmaschine den blutigen Tatort reinigt und bis heute mit seinem Chef kein Wort über den Vorfall gewechselt hat.

 

Prügel-Lektion mit Quarzsandhandschuhen


Es war nicht das erste Mal, dass Eugeniu B. in diesem Supermarkt gestohlen hatte. Exakt eine Woche zuvor hatte ihn André S.' Stellvertreter beim Klauen erwischt, ihn nach hinten gezerrt. Ein Überwachungsfilm zeigt, wie sich Eugeniu B. hinhocken muss, Schläge und Tritte über sich ergehen lässt.

 

Oft hatte André S. die Polizei gerufen, wenn er oder einer seiner Mitarbeiter einen Ladendieb auf frischer Tat ertappte. Höflich, unauffällig wurde der Kunde nach hinten zum Lieferanteneingang gebeten oder eben mit Unterstützung der Sicherheitsleute dorthin begleitet, die Personalien wurden aufgenommen, auf die Polizei gewartet. Die nahm die Strafanzeige auf, der Dieb bekam Hausverbot - und kam gerne wieder, auch zum Klauen.

 

Irgendwann rief André S. keine Polizei mehr - er begann, die Vorfälle auf seine Art zu regeln. "Ich hatte das Gefühl, mit der Polizei, das bringt nichts", sagt André S. vor Gericht. Er habe gehofft, "wenn man einmal zeigt, dass das so nicht geht, dass man bei uns nicht klaut", das habe dann Wirkung.

 

Die Wirkung verstärkte er mit Quarzsandhandschuhen. André S. zog sie über, wenn er einen Ladendieb erwischt. Am Lieferanteneingang gab es die Art von Lektion, von der er sich die ideale Wirkung versprach.

 

"Er wirkte nach den Taten so, als habe er Spaß daran gehabt"


Einige Mitarbeiter eiferten dem Chef nach. Ronny E. zum Beispiel. Vor Gericht nennt er diesen Akt der Selbstjustiz "Ordnungsgong", angeblich ein Tipp von Polizisten, die genervt waren, wenn man sie wegen einer geklauten Schrippe oder einer gestohlenen Dose Bier alarmierte. "Wir sollten denen einen Ordnungsgong geben", sagt Ronny E., dann würden sie das mit dem Klauen lassen. André S. habe das Personal nicht aufgefordert, so vorzugehen. "Aber er hat es so vorgelebt."

 

Ein anderer Mitarbeiter sagt: übliche Praxis, ideale Abschreckung, besser als das lange Warten auf die Polizei. Am Lieferanteneingang seien schon mal "die Fäuste geflogen", erinnert sich ein Sicherheitsmann. Einem Dieb sollen gar die Zähne ausgeschlagen worden sein.

 

Die Gewalt, mit der André S. und ein Teil seiner Mannschaft gegen Ladendiebe vorging, mag für Außenstehende schon schockierend genug sein. Ebenso verstörend ist das sogenannte Nachtatverhalten: André S. und andere Mitarbeiter fotografierten oder filmten die Gewaltorgien von den Überwachungskameras ab und schickten sie sich gegenseitig per WhatsApp. Versehen mit Botschaften wie: "Frühstück. Moldawier zu Gast bei Freunden", "Guten Appetit!" und "Dann hast du Würstchen gemacht?" Dazu Smileys und andere vermeintlich lustige Symbole.

 

André S. schämt sich, als die Nachrichten in Saal 621 verlesen werden. Sie passen zu dem, was ein ehemaliger Mitarbeiter in der Hauptverhandlung über den Supermarktchef sagt: "So pervers es auch klingen mag, er wirkte nach den Taten so, als habe er Spaß daran gehabt."

 

Blut an den Schuhen des Supermarktleiters


So deutet es auch die Kriminalbeamtin, die 80 Seiten WhatsApp-Nachrichten ausgewertet hat, in denen Mitarbeiter des Supermarkts sich darüber austauschen, wie sie "Ladendiebe belehrt" haben. Allen voran: André S. Es habe für sie so geklungen, als hätten die Betroffenen "aus Lust und Spaß" gehandelt, sagt die Beamtin. "Als hätte man darauf gewartet, den nächsten Ladendieb zu schnappen." Auf André S.' Handy wurden zudem mehrere Videos sichergestellt, die ihn bei derartigen Gewalttaten zeigen.

 

Einige von denen, die auf die Ladendiebe eindroschen, sie traten und verprügelten, sollen damit geprahlt haben.

 

Der Prozess hat gezeigt, dass André S. den Tod des Ladendiebs sicher nicht geplant hat. Aber er hat auch gezeigt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es zu einem Fall wie dem des Eugeniu B. kommt. Ohne den Tod des Moldauers, ohne die Razzia der 8. Mordkommission in dem Supermarkt hätte André S. seine Praxis von Selbstjustiz vermutlich nicht geändert.

 

Bei der Spurensicherung am Lieferanteneingang und bei der Durchsuchung seines Zuhauses fanden die Ermittler Blut, unter anderem an zwei Paar Schuhen, die André S. trug. Es war teilweise von Eugeniu B., aber auch von unbekannten Personen.

 

Unklar ist, inwieweit André S.' Schläge ursächlich für Eugeniu B.s Tod waren. Ein Gerichtsmediziner konnte dazu keine eindeutige Aussage machen.

 

Für Oberstaatsanwalt Ralph Knispel hat die Beweisaufnahme ergeben, dass Eugeniu B. den Diebstahl mit seinem Leben bezahlte. Er beantragte vier Jahre Haft für André S. Dessen Verteidigerin plädierte auf eine Bewährungsstrafe, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Obdachlose noch von weiteren Personen verletzt worden sei.

 

Die medizinische Fachangestellte der Arztpraxis, bei der sich Eugeniu B. wenige Stunden vor seinem Tod vorstellte, beschrieb den Zustand des verletzten Obdachlosen vor Gericht. Eugeniu B. habe leicht gebückt dagestanden, fahrig und verschwitzt gewirkt. "Er sah aus wie ein geprügelter Hund."