Streit um "Kommt nach vorne!" Dresdner Justiz will Strafe für H. erzwingen

Erstveröffentlicht: 
13.03.2017

Im Februar 2011 greifen Linksradikale in Dresden die Polizei an. Ein Berliner wird als mutmaßlicher Rädelsführer angeklagt und freigesprochen - im bereits dritten Prozess. Doch die Staatsanwaltschaft will ein viertes Urteil.

 

Von Thomas Schmoll

 

Die Polizei in Dresden war von Anfang an in Sorge, die Lage nicht in den Griff kriegen zu können, und riet zum Verbot. Trotzdem gestattete die Justiz der Neonaziszene Demonstrationen an drei verschiedenen Orten der Stadt. Die Polizei behielt Recht. Dresden erlebte am 19. Februar 2011 - dem 66. Jahrestag seiner Bombardierung - einen Gewaltexzess. Unter Tausenden Gegendemonstranten waren zahlreiche Autonome. Sie griffen die Polizei mit Steinen, Flaschen und Stangen an. Die wiederum setzte Schlagstöcke, Reizgas und Wasserwerfer ein. Es kam zu Straßenschlachten, wie man sie aus Berlin kennt.

 

Auf der Seite der Neonazigegner lief Tim H. aus Berlin mit, ein bekennender Linker, der seit Jahren in der Antifa-Bewegung mitmischt und Anfang 2011 Gewaltanwendung zwar nicht offen propagierte, wohl aber duldete. Der inzwischen 40-Jährige war anwesend, als einige hundert Linksradikale eine Polizeiabsperrung durchbrachen. Aber zählte er zu den Steinewerfern? Agierte er gar als Rädelsführer?

 

Die Staatsanwaltschaft war überzeugt davon und klagte den Vater zweier Kinder an. Es folgte ein Rechtsstreit, wie es ihn selten gibt. Er dauert inzwischen mehr als vier Jahre - und ein Ende ist nicht in Sicht. Im Januar war der Beschuldigte im schon dritten Prozess in allen Punkten freigesprochen worden, die zunächst auf schweren Landfriedensbruch, Körperverletzung und Beleidigung eines Polizisten lauteten, aber von Instanz zu Instanz abgemildert worden waren.

 

Die Ankläger mussten sukzessive Teile ihrer Vorwürfe zurücknehmen, weil die Verteidigung es schaffte, die Beweis- und Indizienkette zu entkräften. Hauptbelastungsargument der Staatsanwaltschaft war die in einem Polizeivideo festgehaltene und von ihr Tim H. zugeschriebene Megafonansage: "Kommt nach vorne!" Sie betrachtete diese drei Worte als Aufruf an Gewaltbereite, eine Sperre mit 14 Polizisten zu durchbrechen, wodurch die Situation eskaliert sei. 

 

Erstes Urteil: Haft


Im ersten Prozess folgte das Amtsgericht Dresden vollständig den Ermittlern und verurteilte Tim H. im Januar 2013 wegen Körperverletzung, besonders schweren Landfriedensbruchs und Beleidigung - er soll einen Polizisten "Nazischwein" genannt haben - zu einem Jahr und zehn Monaten ohne Bewährung. "Er wollte die Menschenmenge steuern und aufwiegeln", hieß es in der Urteilsbegründung, die sich vor allem auf das Video stützte.

 

Nicht nur unter linken Sympathisanten machte der Begriff vom "politisch motivierten Justizskandal" die Runde. Auch in der Fachwelt war die Entscheidung umstritten. Der Hauptbelastungszeuge, ein Anwohner, hatte den Angeklagten entlastet. Vor allem aber löste die Begründung des Richters Hans-Joachim Hlavka Empörung aus, warum er auf Bewährung verzichtete. "Ich kann Ihnen keine günstige Sozialprognose ausstellen", hatte er dem nicht vorbestraften Angeklagten bescheinigt. "Irgendwann ist es genug." Die Bevölkerung habe die Ausschreitungen "von rechts und links" satt. "Was andere getan haben, müssen Sie sich mit anrechnen lassen."

 

Das kam einem rechtsstaatswidrigen Verzicht auf individuellen Strafnachweis gleich, wie Kritiker meinten. Der Richter sei anmaßend, im Namen "einer vermeintlichen Mehrheitsbevölkerung" zu urteilen. Im Prozess gegen Lutz Bachmann sah sich das politisch linke Spektrum bestätigt. Hlavka brummte dem vorbestraften Pegida-Gründer für die Beleidigung von Flüchtlingen als "Gelumpe, Dreckszeug und Viehzeug" 9600 Euro Geldstrafe auf. Eine Haftstrafe sah er "nicht zwingend als geboten an". Der Richter: "Sie wäre nicht tat- und schuldangemessen." 

 

Zweites Urteil: Geldstrafe


Die Verteidigung, die stets Freispruch verlangte, fochte das Urteil erfolgreich an. Im zweiten Prozess schaffte sie es, die Filmaufnahme als Beweisstück zu entwerten, in dem sie dokumentierte, dass "ein Polizist ein Video derart zusammenschneidet, dass es für die Anklage passt". In der Originalversion sei zu sehen, wie "nur eine Sekunde, nachdem das offizielle Polizeivideo endet, noch vier weitere Personen mit Megafon durchs Bild laufen". Wer also hatte "Kommt nach vorne!" gerufen?

 

Die Staatsanwaltschaft beharrte auf Schuldspruch in allen Punkten und forderte acht Monate Haft - dieses Mal auf Bewährung. Das Landgericht kassierte das Urteil im Januar 2015 weitgehend. Übrig blieben 4000 Euro Geldstrafe wegen Beleidigung. 

 

Drittes Urteil: Freispruch


Doch auch das hielt abermaliger Überprüfung durch die nächsthöhere Instanz nicht stand. Das Oberlandes- trug dem Landgericht auf zu erkunden, ob einfacher Landfriedensbruch nachzuweisen sei. Schließlich seien unter mutmaßlicher Beteiligung des Berliners Polizisten in Gefahr gebracht und verletzt worden.

 

Kurz vor Weihnachten 2016 stand Tim H. daher abermals vor dem Landgericht. Der Vorsitzende Richter Martin Schulze-Griebler legte den Schwerpunkt darauf, ob die Megafondurchsagen einzelnen Beteiligten zugeordnet werden könnten. Er kam zu dem Schluss: Nein. Den Vorwurf der Beleidigung verwarf das Gericht ebenfalls, weil die Anzeige des Polizisten zu spät erfolgt sei. Daraus folgte: Freispruch.

 

Der Rechtsanwalt von Tim H., Ulrich von Klinggräff, rechnete damals nicht mit abermaliger Revision, sagte allerdings: "Wetten würde ich auch nicht." Tatsächlich strebt die Staatsanwaltschaft nach eigenen Angaben jetzt einen vierten Prozess an. Nach von Klinggräffs Darstellung dreht sich der Revisionsantrag um das Sprachrohr. "In Dresden soll nun allein das Mitführen eines Megafons strafbar sein. Das ist abenteuerlich", so der Jurist, der vor allem "die jahrelange seelische und finanzielle Belastung für meinen Mandanten" bedauert.

 

Selbst Richter Schulze-Griebler hatte dem Rechtsstaat im Fall Tim H. ein Armutszeugnis ausgestellt. Mit Blick auf die Länge des Verfahrens mit drei sehr unterschiedlichen Ergebnissen hatte er im Januar gesagt: "Mein Vertrauen in die Strafjustiz würde das nicht unbedingt festigen." Von Klinggräff glaubt weiterhin nicht, dass es zu einem vierten Prozess kommt. Wetten will er aber immer noch nicht.