Verfassungsschützer wegen Aktenschredderns angezeigt

Erstveröffentlicht: 
09.11.2016

Nach einem „Welt“-Bericht hat die Chefin des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses Anzeige gegen einen Ex-Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gestellt. Er hatte Akten rechter V-Männer vernichtet.

 

Am Dienstag hatte die „Welt“ berichtet, dass sich die Kölner Staatsanwaltschaft weigert, Ermittlungen gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) aufzunehmen. Der Verfassungsschützer hatte zugegeben, vorsätzlich Akten rechter V-Männer vernichtet zu haben. Die Entscheidung, den Mann zu schonen, schlägt nun hohe Wellen.

 

Die Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses des Thüringer Landtags, Dorothea Marx (SPD), hat sich aufgrund der Berichterstattung in der „Welt“ am Mittwochnachmittag an die Kölner Staatsanwaltschaft in Köln gewandt und abermals Strafanzeige gegen den Beamten mit dem Tarnnamen Lothar Lingen gestellt.

 

Marx, Rechtsanwältin und Abgeordnete im Thüringer Landtag, sieht den Anfangsverdacht gegeben, dass Lingen eine Straftat begangen hat, indem er Akten von V-Männern vernichten ließ, die über den „Thüringer Heimatschutz“ berichtet hatten. Aus den Reihen dieser Gruppe stammten die späteren Mitglieder des NSU, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. 

 

Marx: „Offenbarungseid des Rechtsstaates“


Marx ist bereits zum zweiten Mal Vorsitzende eines NSU-Untersuchungsausschusses. Das BfV fällt zwar nicht in Thüringer Zuständigkeit. Aber, so Marx: Die V-Männer des Amtes, deren Akten vernichtet worden sind, waren unter anderem im Rahmen der „Operation Rennsteig“ in Thüringen eingesetzt. Um das Wirken des NSU in Thüringen aufklären zu können, hätte man diese Akten gebraucht.

 

Dass der Oberstaatsanwalt sich weigert, gegen den Verfassungsschützer Lingen vorzugehen, hält Marx für einen „Offenbarungseid des Rechtsstaates gegenüber der NSU-Aufklärung“. Lingen habe sich eines sogenannten Verwahrungsbruchs schuldig gemacht. Beamten dürfen Akten nicht einfach so schreddern lassen.

Erst im letzten Monat war bekannt geworden, dass Lingen, der unter anderem in seiner Karriere für die Führung rechter V-Leute verantwortlich war, im Jahr 2014 ausführlich gegenüber der Bundesanwaltschaft ausgesagt hatte. In seiner Aussage gab er zu, dass er die Akten im November 2011, unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU, vorsätzlich geschreddert hatte. Er sagte damals im Wortlaut: „Vernichtete Akten können … nicht mehr geprüft werden.“ 

 

Marx will der Verjährung vorbeugen


Laut Marx ist unter anderem dieser Satz der zwingende Grund, gegen den Mann vorzugehen. Die Tat von Lingen – Verwahrungsbruch – verjährt spätestens am 11. November, also in zwei Tagen, da der Verfassungsschützer die Akten vor fünf Jahren schreddern ließ. Lingen hat inzwischen zugegeben, dass er sich Sorgen gemacht habe, dass die große Anzahl von V-Männern des BfV im Umfeld des Heimatschutzes öffentlich zu unangenehmen Fragen hätte führen können.

 

Eine dieser Frage hätte sein können, so Lingen, ob der Verfassungsschutz etwas über die Terrorgruppe NSU oder die Pläne der Mitglieder gewusst hat. Mit der Vernichtung der Akten habe er verhindern wollen, dass diese Frage gestellt werden kann.

 

Wenn die Kölner Staatsanwaltschaft bis Freitag keine Ermittlungen aufnimmt, ist die Tat verjährt, und Lingen kann nicht mehr für die Aktenvernichtung belangt werden. Sollte tatsächlich die Verjährung eintreten, will Marx prüfen lassen, ob sich der zuständige Kölner Oberstaatsanwalt, der Lingen bislang schonte, der Strafvereitelung im Amt schuldig gemacht hat. 

 

Justizministerium NRW hält sich raus


Die Staatsanwaltschaft Köln ist deswegen für den Fall zuständig, weil das BfV seinen Sitz in Köln hat. Das Justizministerium Nordrhein-Westfalens hat bisher ebenfalls keinen Anlass gesehen, um von seinem Weisungsrecht gegenüber der Staatsanwaltschaft Gebrauch zu machen. Man will sich offensichtlich aus der Sache heraushalten. Dass Marx Mitglied in der SPD ist und das Justizministerium in Nordrhein-Westfalen ebenfalls von den Sozialdemokraten geführt wird, hat an der Situation nichts geändert.

 

Die Anzeige gegen Lingen hatten ursprünglich Anwälte gestellt, die unter anderem Hinterbliebene von NSU-Opfern vertreten. Sie kritisieren, dass der zuständige Kölner Staatsanwalt in seinem Ablehnungsbescheid auf die umfangreiche Anzeige nicht eingegangen ist, keine Ermittlungen angestrengt und fast ausschließlich auf öffentliche Medienerkenntnisse zugegriffen hat.

 

Die Staatsanwaltschaft begründet ihre Entscheidung, keine Ermittlungen gegen Lingen vorzunehmen, unter anderem damit, dass man im Amt angeblich alle fraglichen Akten wieder rekonstruieren konnte. Das allerdings stimmt nicht. Vielmehr hatte ein Bericht des Bundestages schon vor drei Jahren festgehalten, dass tatsächliche Aktenteile für immer vernichtet worden sind.