Reichsbürger in Sachsen

Erstveröffentlicht: 
05.11.2016

Innenminister Ulbig: Einschnitte bei Sozialleistungen denkbar / Separatisten-Hinweise bei drei Polizisten

 

VON ANDREAS DEBSKI

Dresden. In Plauen versuchte ein als Justizwachtmeister getarnter Reichsbürger, eine Grünen-Politikerin zu entführen – er stand mit einem Gewehr im Anschlag vor ihr. In Moritzburg hob die Polizei bei einer Ärztin, die sich offen zur Separatisten-Bewegung bekannte, ein Waffenarsenal aus – die Hobby-Jägerin hatte acht Gewehre und Flinten sowie fünf Pistolen gehortet. Und schließlich Nürnberg: Vor zwei Wochen erschoss ein Reichsbürger dort einen SEK-Beamten. „Dass ein Polizist erschossen wurde, ist ein trauriger Höhepunkt in der Geschichte von Vorfällen mit Reichsbürgern“, sagt Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) der Leipziger Volkszeitung – und kündigt ein deutlich härteres Vorgehen als bislang an. Am Dienstag treffen sich die Verfassungsschützer der Bundesländer, um Maßnahmen zu beraten; am nächsten Mittwoch wird der sächsische Landtag über das Thema beraten.

 

Schlagzeilen durch „Festnahme“

 

Ein Waffenverbot ist für Ulbig einer der ersten Schritte: „Wir müssen dafür sorgen, dass solche Typen nicht in den Besitz von Waffen kommen. Reichsbürgern sollten deshalb die Waffenbesitzkarten entzogen werden. Wer in irgendeiner Form als Reichsbürger in Erscheinung getreten ist, darf keine Waffe tragen.“ Zugleich stellt Ulbig klar, dass es keine klassische Reichsbürgerbewegung gibt – „sondern viele Einzelfälle und krude Ideen, bis hin zu Leuten, die bereit sind, Gewalt auszuüben“. Und genau bei Letzteren müsse als Erstes eingeschritten werden.

 

Die selbst ernannten Reichsbürger erkennen die Bundesrepublik nicht an. Stattdessen sehen sie das Deutsche Reich – meist in den Grenzen von 1937 – fortbestehen. Üblicherweise geben Reichsbürger ihre Pässe und Personalausweise zurück und wollen im Gegenzug einen Staatsbürgerschaftsnachweis, nicht selten bis 1937 zurückreichend. Bekanntester Fall war die Hilfspolizei-Truppe DPHW, die in Sachsen ihren Schwerpunkt hatte. Bundesweit Schlagzeilen machte dieses Deutsche Polizei-Hilfswerk im November 2012 durch die eigenmächtige „Festnahme“ eines Gerichtsvollziehers.

 

Laut dem sächsischen Justizministerium wurde seither gegen fast 400 Personen wegen Mitgliedschaft in und Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Insgesamt stehen mehr als 50 verschiedene Straftatbestände im Raum, am häufigsten Nötigung (57 Mal). Weiter stechen Freiheitsberaubungen (17) sowie Bedrohungen und Erpressungen (13) hervor. Hinzu kommen sieben Körperverletzungen. Außerdem liegen mehrere Fälle der Volksverhetzung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vor – klassische Staatsschutzdelikte. Innerhalb der sächsischen Polizei gibt es momentan Hinweise, dass auch drei Polizisten Reichsbürger sein sollen. „Wenn sich das bestätigt, werden die Konsequenzen hart sein“, erklärt Ulbig. „Reichsbürger gibt es in allen Bereichen, die Polizei ist da keine Ausnahme.“ Bereits Anfang des Jahres sei ein Polizist wegen extremistischer Äußerungen suspendiert worden.

 

Beobachtung durch Verfassungsschutz

 

„Mein Auftrag an das Landesamt für Verfassungsschutz lautet: Wir brauchen ein einheitliches Lagebild, einen Überblick über die Reichsbürger“, macht Sachsens Innenminister klar, „der Staatsschutz, das OAZ und der Verfassungsschutz sind angewiesen, Reichsbürger stärker in den Fokus zu nehmen.“ Denn, so Ulbig: „Die Überschneidungen mit Rechtsradikalen nehmen zu.“ Aktuell liege die Zahl der Beobachtungen im zweistelligen Bereich, wobei die Zahl der Reichsbürger „insgesamt eher dreistellig“ sein dürfte. „Es gibt eindeutig Schnittstellen zum Rechtsextremismus, zum Beispiel sind Reichsbürger beim Dritten Weg oder den Weißen Raben. Der Verfassungsschutz muss sich auch mit der Bewegung Republik Sachsen beschäftigen.“

 

Da insbesondere auch Behördenmitarbeiter angegriffen werden, hat der Freistaat bereits 2013 einen 14-seitigen Ratgeber herausgegeben. Jetzt wird nachgelegt: „Mitarbeiter in Kommunen und Behörden bekommen einen erweiterten Rechtsschutz: Denn die Angestellten werden zum Teil auch privat verklagt. Hier müssen wir unsere Mitarbeiter besser schützen“, erklärt Ulbig. Zugleich müsse darüber nachgedacht werden, bekennenden Reichsbürgern sogar Sozialleistungen zu kürzen: „Wer diesen Staat ablehnt, muss genau angeschaut werden und mit entsprechenden Konsequenzen leben. Was aus den Kommunen bekannt ist: Einerseits wird der Staat abgelehnt – aber wenn es darum geht, Sozialleistungen zu erhalten, sind viele Reichsbürger plötzlich in der Lage, das Geld zu holen. Hier muss sich angeschaut werden, welche Einschnitte möglich sind.“ Zudem sei auch die Justiz bei der Verfolgung von Reichsbürgern stärker gefordert: „Hier muss konsequent demonstriert werden: Wer sich nicht an unsere Rechtsordnung hält, muss mit deutlichen Strafen rechnen.“

 

Lob für seine Initiative erhält Ulbig diesmal von ungewohnter Seite: DieLinken-Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz, die sich seit vielen Jahren mit Rechtsextremismus und auch der Reichsbürgerbewegung befasst, fordert den Innenminister auf, den Worten auch Taten folgen zu lassen. „Der sogenannte Verfassungsschutz in Sachsen schläft bei diesem Thema ebenso notorisch wie bei den Identitären lange Zeit“, erklärt Köditz. Sie hoffe, dass es nicht bei der Ankündigung der Entwaffnung bleibe – wie schon bei sächsischen Neonazis, die einen Waffenschein haben, meint die Linken-Politikerin. „Vielleicht sollte sich Sachsen mal in Brandenburg kundig machen, was alles möglich ist und wie.“

 


 

Behauptungen und Tatsachen: Wie Reichsbürger argumentieren und was dagegen spricht

Behauptung 1: Deutschland habe keine gültige Verfassung und sei somit als Staat nicht existent. Das Grundgesetz habe mit der Wiedervereinigung 1990 seine Gültigkeit verloren. Es sei folglich dringend notwendig, dass sich Deutschland nach Artikel 146 des Grundgesetzes eine neue Verfassung gebe. Bis dahin befinde sich Deutschland nach wie vor im Kriegszustand mit den Kriegsparteien des Zweiten Weltkrieges, da kein Friedensvertrag vorliege. Alle staatlichen Institutionen seien ergo illegitim.

 

Tatsache: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist durch die Anpassung der Präambel und der Artikel 23 und 146 des Grundgesetzes die Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands. Ein Friedensvertrag ist aufgrund des Abschlusses des Zwei-Plus-Vier-Vertrages nicht notwendig. Das Staatsgebiet der Bundesrepublik steht seitdem fest. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist das Deutsche Reich untergegangen.

 

Behauptung 2: US-Außenminister James Baker und UdSSR-Außenminister Eduard Schewardnadse hätten im Rahmen der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen zur Einheit Deutschlands durch mündliche Äußerungen die Artikel 23 und 146 außer Kraft gesetzt. Da der Artikel 23 den Geltungsbereich des Grundgesetzes regelt, sei somit dessen Wirksamkeit entfallen.

 

Tatsache: Vorschriften und Artikel des Grundgesetzes können ausschließlich nach Artikel 79 des Grundgesetzes geändert werden. Zudem regelt eben jener Zwei-Plus-Vier-Vertrag den Umgang mit Artikel.

 

Behauptung 3: Das Bundesverfassungsgericht (BVG) in Karlsruhe habe im Jahr 1973 mit dem Urteil zum Grundlagenvertrag die Legitimation zur Gründung von „Reichsregierungen“ geschaffen.

 

In diesem Urteil attestierte das BVG, dass das Deutsche Reich nicht untergegangen, allerdings auch nicht handlungsfähig sei. Die Bundesrepublik sei nicht dessen Rechtsnachfolger, sondern mit diesem grundsätzlich identisch, in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings nur teilidentisch. Dadurch ist jedoch kein Recht auf Gründung von kommissarischen „Reichsregierungen“ entstanden. Die Teilidentität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich ermöglichte es der Bundesregierung, mit der DDR einen Einigungsvertrag abzuschließen und sich somit alsRegierung für ganz Deutschland zu legitimieren.