Boris Palmer: "Nebensache Bahnhof, Hauptsache Demokratie"

Erstveröffentlicht: 
22.04.2010

Stuttgart - Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der sich eindeutig gegen Stuttgart 21 positioniert hat, beobachtet die zunehmende Radikalisierung des Protests gegen das Projekt mit Sorge. In einem Gastkommentar für Stuttgart 21 macht er sich Gedanken über einen Ausweg aus der verfahrenen Situation:

 

"Im Streit um den Tunnelbahnhof fahren zwei Züge mit voller Wucht aufeinander zu. Im einen sitzt das Volk. Im anderen seine Vertreter. Wo ist der Ausweg?

Die Argumente zu Stuttgart 21 sind ausgetauscht. Je mehr die Bevölkerung über das Projekt "aufgeklärt" wurde, um so größer die Ablehnung. Das Volk und seine Vertretung entfremden sich zunehmend.

Die Befürworter in der Politik behaupteten lange, eine schweigende Mehrheit stütze Stuttgart 21. Doch mittlerweile ist die Ablehnung so offenkundig, dass Behelfsargumente entwickelt werden. Auch der Fernsehturm und die neue Messe seien vor dem Bau umstritten gewesen und heute allseits akzeptiert, heißt es. Der Widerstand spiegle die Fortschrittsfeindlichkeit der Alten. Und außerdem hätten drei Viertel der Leute nie die Grünen und folglich den Tiefbahnhof gewählt.

Nur halbherzig versucht man, das Volk noch zu überzeugen. Was Worte nicht schafften, sollen Bagger richten. Deshalb müssen schon diesen Herbst die symbolgeladenen Bauten und Bäume im Talkessel fallen. Dann, so die Hoffnung, wird der Widerstand zwecklos und in sich zusammenbrechen. Das ist eine Strategie, die an den Grundfesten der Demokratie rüttelt, weil sie den Bürgerwillen nicht nur für unmaßgeblich erklärt, sondern bewusst zu brechen versucht.

Weil die Politik nicht ihre Haltung, sondern nur die Werbeagenturen wechselt, wächst die Verbitterung. Der Bahnhofsabriss müsste nicht gegen eine radikale Minderheit, sondern gegen die bürgerliche Mehrheit durchgesetzt werden. Es drohen Auseinandersetzungen, wie sie Stuttgart noch nicht erlebt hat. Egal ob man nun für oder gegen den Tunnelbahnhof ist, eine solche Eskalation kann niemand gutheißen.

 

Doch einfach ist ein Ausweg nicht. Die maßgeblichen Politiker können ohne Gesichtsverlust nicht zurück. Für sie ist der Durchgangsbahnhof eine Sackgasse und zu eng zum wenden. Umgekehrt sind viele Menschen mittlerweile so empört, dass sie mit nichts weniger als dem Stopp von Stuttgart 21 zufrieden zu stellen sind. In einer dermaßen verfahrenen Situation ist etwas Bürgerbeteiligung zu Bauflächen, die in 15 Jahren frei werden, gewiss völlig ungeeignet, das Problem zu lösen.

Wenn die These zutrifft, dass es längst nicht mehr nur um den Bahnhof geht, sondern um die fundamentale Frage, ob der Bürgerwille etwas zählt in unserer Gesellschaft, dann kann ein Ausgleich nur gelingen, wenn die Befürworter in der Politik einen entscheidenden Schritt auf das Volk zutun. Die Politik der gefällten Bäume und nieder gerissenen Baudenkmäler muss einem Moment des Nachdenkens weichen. Es gibt eine Reihe von offenen Fragen, die mit dem Volk zu klären wären, bevor die endgültige Entscheidung fällt.

Erstens müssen die Kosten und die Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm transparent werden. Es ist zu fürchten, dass sie doppelt so teuer wird wie geplant. Die Finanzierung steht für diesen Fall nicht, die Wirtschaftlichkeit ist zweifelhaft, ein Bauende vor 2025 wäre dann unwahrscheinlich.

Zweitens ist die Planung für die Anbindung des Flughafens abzuschließen. Die bisher vorgesehenen eingleisigen Kurven sind nicht nur bahntechnisch höchst kritisch, es ermangelt nach wie vor einer Genehmigung für die Mitnutzung der S-Bahn-Tunnels. Mehrkosten in dreistelliger Millionenhöhe und jahrelange Verzögerungen stehen im Raum.

Drittens fehlt bis heute ein Infrastruktur- und ein Fahrplankonzept für den Schienenverkehr in der Region mit Stuttgart 21. Ohne die Kenntnis künftig notwendiger Abstellbahnhöfe, Elektrifizierungen und Streckenausbauten zur Anpassung des Netzes an Stuttgart 21 sind die wahren Kosten und Folgen des Tunnelbahnhofs nicht entfernt abschätzbar.

 

Viertens ist die Frage ungeklärt, ob Teile des Bonatzbaus abgerissen werden dürfen oder durch Urheberrechte geschützt sind. Diese Frage wird vor Gericht entschieden, die Klage ist eingereicht, eine Entscheidung würde aber nach dem jetzigen Zeitplan vermutlich erst einige Monate nach dem Nordflügel fallen.

Spricht etwas gegen ein Moratorium bis zur Klärung dieser Fragen? Sicher nicht der geplante Fertigstellungstermin. Die zeitlich kritischen und ungelösten Abschnitte liegen am Flughafen und auf der Alb, nicht unter Schlossgarten und Bonatzbau. Sachlich kostet ein Innehalten nichts. Nur das politische Momentum für Stuttgart 21 wäre in Gefahr. Kein zu hoher Preis, wenn der demokratische Grundkonsens auf dem Spiel steht.

Dieses Risiko müssten die Politiker um der Demokratie und des gesellschaftlichen Friedens willen eingehen. Wenn der schwäbisch-schaffige Grundkonsens im Stuttgarter Bahnhof begraben wird und sich breite Schichten verbittert abwenden, kann das auch wirtschaftlich gravierende Folgen haben.

Und nicht immer sind die Volksvertreter klüger als das Volk. Ja, der Fernsehturm ist trotz des Widerstands zur Bauzeit heute ein Wahrzeichen der Stadt. Doch würde das – nur beispielhaft – auch gelten, falls man in den 70er Jahren die halbe Tübinger Altstadt zu Gunsten eines neuen Rathausblocks und einer vierspurigen Straße abgerissen hätte? Wohl kaum. Trotz erdrückender Mehrheit im Gemeinderat wurde nichts davon gebaut. Warum? Ein Bürgerentscheid endete mit 90% Nein-Stimmen."