Stuttgart - Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der sich eindeutig gegen Stuttgart 21 positioniert hat, beobachtet die zunehmende Radikalisierung des Protests gegen das Projekt mit Sorge. In einem Gastkommentar für Stuttgart 21 macht er sich Gedanken über einen Ausweg aus der verfahrenen Situation:
"Im Streit um den Tunnelbahnhof fahren zwei Züge mit voller Wucht
aufeinander zu. Im einen sitzt das Volk. Im anderen seine Vertreter. Wo
ist der Ausweg?
Die Argumente zu Stuttgart 21 sind ausgetauscht. Je mehr die Bevölkerung
über das Projekt "aufgeklärt" wurde, um so größer die Ablehnung. Das
Volk und seine Vertretung entfremden sich zunehmend.
Die Befürworter in der Politik behaupteten lange, eine schweigende
Mehrheit stütze Stuttgart 21. Doch mittlerweile ist die Ablehnung so
offenkundig, dass Behelfsargumente entwickelt werden. Auch der
Fernsehturm und die neue Messe seien vor dem Bau umstritten gewesen und
heute allseits akzeptiert, heißt es. Der Widerstand spiegle die
Fortschrittsfeindlichkeit der Alten. Und außerdem hätten drei Viertel
der Leute nie die Grünen und folglich den Tiefbahnhof gewählt.
Nur halbherzig versucht man, das Volk noch zu überzeugen. Was Worte
nicht schafften, sollen Bagger richten. Deshalb müssen schon diesen
Herbst die symbolgeladenen Bauten und Bäume im Talkessel fallen. Dann,
so die Hoffnung, wird der Widerstand zwecklos und in sich
zusammenbrechen. Das ist eine Strategie, die an den Grundfesten der
Demokratie rüttelt, weil sie den Bürgerwillen nicht nur für unmaßgeblich
erklärt, sondern bewusst zu brechen versucht.
Weil die Politik nicht ihre Haltung, sondern nur die Werbeagenturen
wechselt, wächst die Verbitterung. Der Bahnhofsabriss müsste nicht gegen
eine radikale Minderheit, sondern gegen die bürgerliche Mehrheit
durchgesetzt werden. Es drohen Auseinandersetzungen, wie sie Stuttgart
noch nicht erlebt hat. Egal ob man nun für oder gegen den Tunnelbahnhof
ist, eine solche Eskalation kann niemand gutheißen.
Doch einfach ist ein Ausweg nicht. Die maßgeblichen Politiker können
ohne Gesichtsverlust nicht zurück. Für sie ist der Durchgangsbahnhof
eine Sackgasse und zu eng zum wenden. Umgekehrt sind viele Menschen
mittlerweile so empört, dass sie mit nichts weniger als dem Stopp von
Stuttgart 21 zufrieden zu stellen sind. In einer dermaßen verfahrenen
Situation ist etwas Bürgerbeteiligung zu Bauflächen, die in 15 Jahren
frei werden, gewiss völlig ungeeignet, das Problem zu lösen.
Wenn die These zutrifft, dass es längst nicht mehr nur um den Bahnhof
geht, sondern um die fundamentale Frage, ob der Bürgerwille etwas zählt
in unserer Gesellschaft, dann kann ein Ausgleich nur gelingen, wenn die
Befürworter in der Politik einen entscheidenden Schritt auf das Volk
zutun. Die Politik der gefällten Bäume und nieder gerissenen
Baudenkmäler muss einem Moment des Nachdenkens weichen. Es gibt eine
Reihe von offenen Fragen, die mit dem Volk zu klären wären, bevor die
endgültige Entscheidung fällt.
Erstens müssen die Kosten und die Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke
Wendlingen-Ulm transparent werden. Es ist zu fürchten, dass sie doppelt
so teuer wird wie geplant. Die Finanzierung steht für diesen Fall nicht,
die Wirtschaftlichkeit ist zweifelhaft, ein Bauende vor 2025 wäre dann
unwahrscheinlich.
Zweitens ist die Planung für die Anbindung des Flughafens abzuschließen.
Die bisher vorgesehenen eingleisigen Kurven sind nicht nur
bahntechnisch höchst kritisch, es ermangelt nach wie vor einer
Genehmigung für die Mitnutzung der S-Bahn-Tunnels. Mehrkosten in
dreistelliger Millionenhöhe und jahrelange Verzögerungen stehen im Raum.
Drittens fehlt bis heute ein Infrastruktur- und ein Fahrplankonzept für
den Schienenverkehr in der Region mit Stuttgart 21. Ohne die Kenntnis
künftig notwendiger Abstellbahnhöfe, Elektrifizierungen und
Streckenausbauten zur Anpassung des Netzes an Stuttgart 21 sind die
wahren Kosten und Folgen des Tunnelbahnhofs nicht entfernt abschätzbar.
Viertens ist die Frage ungeklärt, ob Teile des Bonatzbaus abgerissen
werden dürfen oder durch Urheberrechte geschützt sind. Diese Frage wird
vor Gericht entschieden, die Klage ist eingereicht, eine Entscheidung
würde aber nach dem jetzigen Zeitplan vermutlich erst einige Monate nach
dem Nordflügel fallen.
Spricht etwas gegen ein Moratorium bis zur Klärung dieser Fragen? Sicher
nicht der geplante Fertigstellungstermin. Die zeitlich kritischen und
ungelösten Abschnitte liegen am Flughafen und auf der Alb, nicht unter
Schlossgarten und Bonatzbau. Sachlich kostet ein Innehalten nichts. Nur
das politische Momentum für Stuttgart 21 wäre in Gefahr. Kein zu hoher
Preis, wenn der demokratische Grundkonsens auf dem Spiel steht.
Dieses Risiko müssten die Politiker um der Demokratie und des
gesellschaftlichen Friedens willen eingehen. Wenn der
schwäbisch-schaffige Grundkonsens im Stuttgarter Bahnhof begraben wird
und sich breite Schichten verbittert abwenden, kann das auch
wirtschaftlich gravierende Folgen haben.
Und nicht immer sind die Volksvertreter klüger als das Volk. Ja, der
Fernsehturm ist trotz des Widerstands zur Bauzeit heute ein Wahrzeichen
der Stadt. Doch würde das – nur beispielhaft – auch gelten, falls man in
den 70er Jahren die halbe Tübinger Altstadt zu Gunsten eines neuen
Rathausblocks und einer vierspurigen Straße abgerissen hätte? Wohl kaum.
Trotz erdrückender Mehrheit im Gemeinderat wurde nichts davon gebaut.
Warum? Ein Bürgerentscheid endete mit 90% Nein-Stimmen."