Nachruf Die letzte bekannte Kölner Edelweißpiratin ist tot

Gertrud „Mucki“ Koch 2007 im El-De-Haus. Foto: Wand
Erstveröffentlicht: 
22.06.2016

Köln Gertrud „Mucki“ Koch liegt im Bett, sie kann sich kaum noch bewegen, und singt ein Lied vom „ahle Kölle“, das niemand aufgeschrieben hat. „Schau mer in die Auge deef. Hück es alles anders, die Welt hät sich jedrieht.“

 

Sie ist schwach, aber der Kampfgeist und Humor der 92-Jährigen ist noch da. „Wenn wat passiert, sing!“, hat sie Filos Tselipoulos, der sich in den vergangenen Jahren um sie kümmerte, vor ein paar Tagen mitgegeben. Am Montag hat er ihr Lied aufgezeichnet und als Gruß an die Unterstützer des Edelweißpiratenfestivals ins Internet gestellt. Es ist das letzte Zeugnis einer beeindruckenden Frau. Die letzte bekannte Kölner Edelweißpiratin ist am Montag gestorben.

Mucki“ war ihr Tarnname in der NS-Zeit, als sie Anti-Hitler-Flugblätter von der Kuppel des Hauptbahnhofs regnen ließ, Leute versteckte und in Lebensmittellager einbrach, um Verfolgte zu versorgen. Sie schrieb Parolen an Häuserwände, bevor sie 1942 als 17-Jährige das erste Mal verhaftet wurde.

Sie wurde von der Gestapo im El-De-Haus am Appellhofplatz vernommen, misshandelt, saß fünf Monate in Brauweiler in Haft. Nach einer weiteren Flugblatt-Aktion wurde sie erneut verhaftet. Glück habe sie gehabt, hat sie immer wieder erzählt. Sie hätte sterben können. Sie floh mit ihrer Mutter aus Köln. Der Vater war im Arbeitslager der Nazis gestorben.

 

Musik gegen die Angst

 

Die Lieder haben sie uns nicht nehmen können“, antwortete Mucki Koch auf die Frage, wie sie Verfolgung und Inhaftierung ertragen habe. „Sie waren ein schöner Trost. Und wenn wir nicht singen durften, haben wir eben im Traum gesungen.“ Musik helfe gegen die Angst. Gertrud Koch war ein politischer Mensch, der Ungerechtigkeiten nie ertragen konnte und sich immer sozial engagierte.

Genauso prägend war aber auch ihre Freude am Leben, an den kleinen Dingen, die es leichter machen. „Wann wird endlich gesungen?“, fragte sie schon mal, wenn ihr die politischen Diskussionen zu lang erschienen, erinnert sich Jan Krauthäuser, Macher des Edelweißpiratenfestivals. Dann stimmte sie politische Lieder der bündischen Jugendbewegung an, sang „Edelweißpiraten sind treu“, aber auch „Heißer Sand“ von Conny Froboes oder „Tipitipitipso, beim Calypso ist alles wieder gut“ von Caterina Valente. Wenn sie bei Mitsingabenden im „Weißen Holunder“ oder in Filos Tselipoulos ehemaliger Imbissbude die Liedauswahl bestimmen durfte, überraschte sie nicht selten das Publikum.

Vor Schulklassen, bei Lesungen und in öffentlichen Diskussionen hatte sie eine andere Rolle. Dann mahnte sie zu Wachsamkeit vor wachsendem Rechtsextremismus und las aus ihren Erinnerungen vor, die unter der Überschrift „Edelweiß“ in der Reihe „Stille Helden im Dritten Reich“ veröffentlicht wurden. „Die Jugendlichen wissen zu wenig über die Vergangenheit“, sagte sie oft. Sie glaubte, dass man aus der Geschichte lernen kann.

 

Die Edelweißpiraten in Köln

 

Man weiß nicht genau, wie viele „Edelweißpiraten“ es gab und was aus ihnen geworden ist. Nicht jeder hat sich nach dem Krieg zur Mitgliedschaft bekannt. Auch Gertrud Koch war eher eine „spätgeborene Zeitzeugin“, wie Werner Jung vom NS-Dokumentationszentrum sagt. Erst im Jahr 2000, bei einer Ausstellung über die Edelweißpiraten im El-De-Haus, hatte sie sich gemeldet. Vorher hatte sie ihre Geschichte nur im Familien- und Freundeskreis erzählt.

Den Ton beim Umgang mit der deutschen Vergangenheit hatten lange Zeit nicht die Opfer und Verfolgten angegeben, sondern die Täter und Mitläufer. Die Edelweißpiraten wurden diffamiert und kriminalisiert. Mancher sprach ihnen das Recht ab, sich „Widerstandskämpfer“ zu nennen – im Rückblick eine bizarre Debatte, weil sie völlig verkannte, dass man Einstellungen, Taten und Leistungen von Jugendlichen in der Nazizeit einordnen sollte.

Mucki Koch war im Vergleich zu anderen Edelweißpiraten eher alt. Während Gleichaltrige in der NS-Zeit mitmarschierten, passten sich die Edelweißpiraten nicht an, verweigerten die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen der Nazis und äußerten auch offen ihren Protest. Das geschah durch Kleidung, Lieder, Prügeleien mit der Hitlerjugend und andere Aktionen. Einige gingen im Chaos der letzten Kriegsjahre weiter und verübten Sabotageakte und Anschläge.

Historiker nennen die Edelweißpiraten eine „unangepasste Jugendbewegung“. Die deutsche Nachkriegsjustiz übernahm dagegen wie viele, die sich in der NS-Zeit nicht verweigert hatten, bis weit in die 1970er Jahre ihre pauschale Einstufung als Kriminelle. Nach den Repressalien in der Hitler-Zeit mussten Koch und ihre Mitstreiter noch bis in die 1990er Jahre weitere Verunglimpfungen ertragen. Dieser Umgang, aber auch viele persönliche Schicksalsschläge, setzten ihr zu. Um so beeindruckender war ihr Lebensmut, den sie sich immer wieder erkämpfte. „Stehen bleiben im Leben wäre doch langweilig“, sagte sie im vergangenen Jahr, als sie zum letzten Mal beim Edelweißpiratenfestival öffentlich auftrat. „Ich habe ihren Mut und ihre Konsequenz bewundert“, sagt Werner Jung. „Sie wusste genau, was sie wollte. Nach ihr sollte man Schulen benennen.“

Die Art ihrer Bestattung hat sie sich selbst ausgesucht: Anonym soll ihre Urne auf dem Ostfriedhof unter hohen Bäumen vergraben werden, in der Nähe ihres Mannes. Einen Grabstein wollte sie nicht. Als Anweisung hat sie hinterlassen: „Erinnert Euch an mich, wenn ihr singt und fröhlich seid – nicht, wenn ihr zu einem Grab zieht.“

 

Musikfest als lebendiges Denkmal

 

Vor 11 Jahre ging aus einem Musikprojekt des NS-Dokumentationszentrums und einer Konzertreihe des Humba e.V. das erste Kölner Edelweißpiratenfestival hervor – ein lebendiges Denkmal für die mutigen, unangepassten Jugendlichen während der NS-Diktatur.

Am Sonntag, 3. Juli, wird im Friedenspark in der Südstadt wieder mit vielen Bands gefeiert. Zum kölschen Jubiläum erscheint eine Dokumentation in Wort, Bild und Ton, die bereits am kommenden Freitag 24. Juni, in Mannis Rästorang, Kyffhäuserstr. 18, vorgestellt wird.