Sachsens Polizei hat sich eine Riesendatei mit inkriminierten Personengruppen angelegt

Erstveröffentlicht: 
21.05.2016

Wahrscheinlich gibt es kein anderes Bundesland, in dem polizeilich derart viele Daten über die Einwohner gesammelt werden wie in Sachsen. Das fing 2011 mit der riesigen Funkzellen-Datenabfrage an und wird, wie es aussieht, mit der riesigen Fußballfan-Landstreicher-Linksextremisten-Datei der Gegenwart nicht aufhören. Nach der hat sich der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Valentin Lippmann, mal gesondert erkundigt.

 

Denn im Polizeilichen Auskunftssystem Sachsen „PASS“ hat die sächsische Polizei mittlerweile 1.156 Personen allein unter dem Merkmal „Gewalttäter Sport“ gespeichert. Das sind, stellt Lippmann fest, viel mehr als bislang angenommen. Zudem werden weitere, sogenannte personengebundene Hinweise zu Personen gespeichert, die die dort gespeicherten Betroffenen regelrecht stigmatisieren.

 

„Die Datensammlung der Polizei zu den personengebundenen Hinweisen ist uferlos“, stellt der Grünen-Abgeordnete nach dieser jüngsten Anfrage im sächsischen Landtag fest. „Ein Großteil dieser, bestimmten Personen zugeordneten Merkmale ist überflüssig, stigmatisierend und möglicherweise rechtswidrig. So werden 723 Personen bei der sächsischen Polizei mit dem Merkmal ‚Ansteckungsgefahr‘, 1.529 Personen mit dem Merkmal ‚psychische und Verhaltensstörung‘ und 432 Personen als sogenannte Land- und Stadtstreicher stigmatisiert. Auch der Hinweis ‚wechselt häufig Aufenthaltsort‘, der zu mehr als 2.000 Personen gespeichert ist, kriminalisiert eine Lebensweise oder soll möglicherweise verklausulieren, dass es sich um Sinti und Roma handelt.“

 

Schon fertig mit den Menschengruppen, die hier erfasst werden? Noch lange nicht.

 

Valentin Lippmann: „Da die personengebundenen Hinweise primär dem Schutz des Betroffenen und der Eigensicherung von Polizeibediensteten dienen sollen, ist der Zweck der Speicherung für die Merkmale ‚Landstreicher‘ und ‚häufig wechselnder Aufenthaltsort‘ nicht ersichtlich. Auch die Rechtmäßigkeit der Bezeichnung von 1.454 Personen als ‚Sprayer‘ oder von 859 Personen als ‚Urkundenfälscher‘ erscheint vor diesem Hintergrund höchst zweifelhaft.“

 

Die Zahl der Fußballanhänger, die hier namentlich gesammelt werden, weil sie in den Fokus der Polizei gerieten, ist dann nach Lippmanns Einschätzung doch erstaunlich hoch und mit anderen Dateien dieser Art nicht mehr vergleichbar.

 

„Dass zudem 1.156 sogenannte ‚Gewalttäter‘ Sport geführt werden, ist mehr als verwunderlich“, sagt er deshalb. „Zuletzt hatte die Polizei auf mehrere Anfragen von mir mitgeteilt, dass an die Gewalttäterdatei Sport des Bundeskriminalamtes 313 Personensätze aus Sachsen übermittelt wurden. In der von mir kritisierten Datensammlung zu angeblich gewaltbereiten Fußballfans in der Datei ‚Efas‘ war noch von 594 Personen die Rede. Dass PASS nunmehr fast doppelt so viele Personen als angeblich gewaltbereite Fußballfans bezeichnet, muss Innenminister Markus Ulbig erklären.“

 

Und dann ist da noch das Lieblingssteckenpferd des sächsischen Innenministers: Die Jagd auf Linksextremisten. Und selbst da findet Lippmann erstaunliche Zahlen.

 

„Erklärungsbedürftig ist auch die große Abweichung von an das bundesweite Polizei-Informationssystem (INPOL) übermittelten Daten im Vergleich zu im PASS gespeicherten Daten. So wurden im INPOL aus Sachsen nur 341 linksmotivierte Straftäter, im PASS hingegen 1.765 Personen registriert. Das sind mehr als fünfmal so viele.“

 

Das Problem: Das Sächsische Polizeigesetz gibt der Polizei sehr weitreichende Befugnisse, solche personengebundenen Daten zu speichern. In Paragraph 43, der von Markus Ulbig als Grundlage der Datensammlung genannt wird, heißt es in Abschnitt 1: „Der Polizeivollzugsdienst kann personenbezogene Daten in Akten oder Dateien speichern, verändern und nutzen, soweit dies zur Erfüllung seiner Aufgaben, zu einer zeitlich befristeten Dokumentation oder zur Vorgangsverwaltung erforderlich ist. Der Polizeivollzugsdienst kann personenbezogene Daten nur für Zwecke speichern, verändern und nutzen, für die die Daten erhoben worden sind. Für andere Zwecke kann er personenbezogene Daten nur speichern, verändern und nutzen, wenn die Daten für diese Zwecke mit den Mitteln hätten erhoben werden dürfen, mit denen sie zulässigerweise erhoben worden sind.“

 

Das ist ein echter Gummiparagraph. Genauso wie Absatz 3, wo steht: „Die Dauer der Speicherung ist auf das erforderliche Maß zu beschränken. Für automatisierte Dateien sind Termine festzulegen, an denen spätestens überprüft werden muss, ob die suchfähige Speicherung von Daten weiterhin erforderlich ist (Prüfungstermine). Für nichtautomatisierte Dateien und Akten sind Prüfungstermine oder Aufbewahrungsfristen festzulegen. Dabei sind der Speicherungszweck sowie Art und Bedeutung des Anlasses der Speicherung zu berücksichtigen.“

 

Schwer vorstellbar, dass all die Hunderten von Namen dort innerhalb eines Jahres gesammelt wurden. Hier haben Polizeibeamte über Jahre Daten zusammengetragen und sich eine Datei irgendwie „polizeibekannter Personen“ zusammengebaut. Dabei haben sie sichtlich eine ganze Reihe von Grauzonen im sächsischen Polizeigesetz genutzt.

 

Und statt ehrlich Stellung zu nehmen nach den Kriterien, nach denen die Datensätze gesammelt werden, redet sich Innenminister Markus Ulbig mit einem obskuren Geheimnisschutz heraus: „Darüber hinaus kann die Frage nicht beantwortet werden. Einer Beantwortung stehen überwiegende Belange des Geheimschutzes entgegen. Mit der Frage werden Auskünfte aus Vorgängen begehrt, die gemäß Nummer 8 in Verbindung mit Nummer 3 der Verwaltungsvorschrift der Sächsischen Staatsregierung über die Behandlung von Verschlusssachen vom 4. Januar 2008 als ‚VS – Nur für den Dienstgebrauch‘ eingestuft wurden.“

 

Wie können Kriterien für die Aufstellung so einer Datei unter „VS“ fallen?

 

Logisch, dass Valentin Lippmann bezweifelt, dass diese Dateien in irgendeiner Weise auf einer rechtlichen Grundlage entstanden sind: „Ob diese Daten auf einer rechtlichen Grundlage erhoben worden sind, ist mehr als fraglich. Anders als das BKA-Gesetz kennt das sächsische Polizeigesetz personengebundene Hinweise nicht. Ich fordere den Innenminister auf, sämtliche gespeicherten Hinweise auf ihre Erforderlichkeit für die Polizeiarbeit zu überprüfen und alle nicht erforderlichen Daten zu löschen.“

 

Antwort von Innenminister Markus Ulbig (CDU) auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Valentin Lippmann (GRÜNE) „Personengebundene Hinweise (PHW) in polizeilichen Datenbanken“ (Drs. 6/4861).


Die Zahl der an die umstrittene BKA-Datei „Gewalttäter Sport“ auch Sachsen übermittelten Personen findet sich in der Antwort auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Lippmann „Verbunddateien im Freistaat Sachsen 2016“ (Drs. 6/4562).