Tod eines Punks

Erstveröffentlicht: 
29.06.2015

Vor 15 Jahren starb in Eberswalde der Punk Falko Lüdtke - sein Tod wird von den Forschern als eindeutig politisch motiviert bewertet. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen offizieller Statistik von Todesopfern rechtsextremer Gewalt und Recherchen von Journalisten und Stiftungen. Als erstes Bundesland hat Brandenburg eine externe Forschungsstelle damit beauftragt, Altfälle zu überprüfen: Die Forscher kommen in neun Fällen zu dem Ergebnis, dass die Taten politisch motiviert waren. Von Antonie Rietzschel

 

Der Taxifahrer kann nicht mehr bremsen. Der Körper von Falko Lüdtke knallt gegen die Motorhaube des Autos, zerschlägt die Windschutzscheibe, wird hochgeschleudert und bleibt leblos auf der Straße liegen. Zwei Stunden später stirbt Falko Lüdtke im Krankenhaus an einem Lungenriss. Was am 30. Mai 2000 an der Bushaltestelle Spechthausenerstraße in der brandenburgischen Stadt Eberswalde geschah, war jedoch kein einfacher Verkehrsunfall.

 

Falko Lüdtke, ein Punk mit roten Rastalocken, hatte sich vor dem Aufprall mit Mike B. geprügelt. Der, vorbestraft und damals stadtbekannter Rechtsextremist, versetzte Lüdtke einen Schlag gegen den Brustkorb. Lüdtke verlor das Gleichgewicht und stolperte rückwärts auf die Straße, wo er von dem Auto erfasst wurde.

B. wurde daraufhin unter anderem wegen fahrlässiger Tötung zu einer Haftstrafe verurteilt. Doch entgegen der Forderung von Opferverbänden hat das Land Brandenburg den Fall Falko Lüdtke bisher nicht als rechtsextrem motivierte Tat anerkannt. 15 Jahre nach seinem Tod könnte sich das nun ändern. 

 

Forscher überprüfen 24 weitere Verdachtsfälle


Seit Jahren gibt es in Deutschland eine große Diskrepanz zwischen den offiziellen Opferzahlen und Recherchen von Journalisten sowie Verbänden. Die Bundesregierung erkennt zwischen 1990 und 2013 insgesamt 64 Taten als rechtsextrem motiviert an. Zeit und Tagesspiegel zählen jedoch 152 Fälle, die Amadeu-Antonio-Stiftung sogar 184. (Siehe Grafik: Die grünen Fälle sind offiziell als Fälle rechtsextrem motivierter Gewalt anerkannt, die roten nicht. Quelle: Amadeu-Antonio-Stiftung)

 

Nach Entdeckung des NSU ordnete das Bundesinnenministerium an, unaufgeklärte Tötungen und Tötungsversuche auf rechtsextreme Motive hin zu untersuchen. 746 Fälle aus den vergangenen 23 Jahren mit entsprechenden Anhaltspunkten wurden herausgefiltert. Das Ergebnis sollte eigentlich im zweiten Quartal 2014 vorliegen. Jetzt, Ende Juni 2015, ist immer noch unklar, ob die offizielle Opferstatistik korrigiert werden muss.

 

In Zugzwang könnte die Bundesregierung jetzt ein Forschungsbericht des Moses Mendelssohn Zentrums der Uni Potsdam bringen, der diesen Montag erscheint und der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Zum ersten Mal hat mit Brandenburg ein Bundesland eine unabhängige Stelle damit beauftragt, die Diskrepanz der Opferstatistiken aufzuarbeiten - und damit das Versagen von Polizei, Justiz und auch Politik zu dokumentieren.

 

Laut offizieller Statistik starben in Brandenburg seit der Wiedervereinigung neun Menschen aus politischen Gründen. Die Forscher haben 24 weitere Verdachtsfälle neu überprüft. "Wir haben uns jede Tat einzeln angeschaut, ohne feste Kriterien festzulegen", sagt Forschungsleiter Christoph Kopke zur SZ. Das Vorgehen unterscheidet sich damit von dem der Polizei. Diese beurteilt politisch motivierte Straftaten nach Kategorien wie Hautfarbe, Religion, Weltanschauung oder Herkunft. 

 

Zahl der Todesopfer rechtsextremer Gewalt verdoppelt sich


Nach Durchsicht der Prozessakten kommen die Forscher zu einem erschreckenden Ergebnis: Nur vier der insgesamt dokumentierten 24 Fälle sind weder politisch motiviert noch von einem rechtsextremen Täter begangen worden. In neun Fällen ist aus Sicht der Forscher eindeutig bewiesen, dass Menschen aufgrund der rechtsextremen Weltanschauung der Täter starben. Damit würde sich die Zahl der Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Brandenburg fast verdoppeln.

 

Der Fall Falko Lüdtke sticht heraus. Der damals 22-Jährige hatte keine andere Hautfarbe, sprach keine fremde Sprache. Er war Punk, einer, der Menschen zur Rede stellte - und sich wehrte. Nach seinem Tod fiel es vielen schwer ihn als bloßes Opfer zu sehen. Die Polizei und sogar das Gericht gaben ihm eine gewisse Mitschuld. Dennoch war sein Tod so eindeutig politisch motiviert, dass sich Forschungsgruppenleiter Christoph Kopke fragt, warum er nicht schon längst in der offiziellen Statistik auftaucht. Da bestehe Klärungsbedarf. 

 

Lüdtke wächst in einem Klima der Angst auf - und provoziert


Schon der Ort der Tat ist bezeichnend: Eberswalde war zu DDR-Zeiten ein Industriestandort. Nach der Wende werden die großen Betriebe geschlossen, 20 Prozent der Bevölkerung sind damals arbeitslos. In Eberswalde entwickelte sich eine starke rechtsextreme Szene, ihr gehörten vor allem die "Abgehängten" an. Menschen wie Mike B., die in der menschenverachtenden Ideologie ein Ventil für ihren Hass und Frust finden.

 

"Es gab ständig Übergriffe", sagt Kai Jahns vom Netzwerk Tolerantes Eberswalde. Er lebt seit fast 47 Jahren in Eberswalde und betreibt einen Punkrockclub. "Wenn die in Gruppen irgendwo rumlungerten, hat sich keiner getraut, die zu verjagen. Jeder musste Angst haben, dass er es gleich mit zehn weitere Kameraden zu tun bekommt." 1990 schlagen und treten zehn Rechtsextreme in Eberswalde den aus Angola stammenden Amadeu Antonio Kiowa zu Tode. Zwei Zivilfahnder schauen zu und trauen sich nicht, einzugreifen (hier der genaue Ablauf). Kiowa war eines der ersten Todesopfer rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung. 

 

Der Täter trägt ein Hakenkreuz am Hinterkopf


In dieser Atmosphäre der Angst und des Wegschauens wächst Falko Lüdtke auf. Als Jugendlicher färbt er sich die Haare - das provoziert. Lüdtke gehört zur Punkszene der Stadt, so wie Kai Jahns. "Das war aber kein Asi-Punk. Das war einer, der sehr viel mit Leuten diskutiert hat", sagt Jahns. Letztendlich wird ihm das zum Verhängnis:

 

An seinem Todestag trifft der damals 22-Jährige Falko Lüdtke an einer Bushaltestelle auf Mike B., den er als Mitglied der rechtsextremen Szene kennt. Beide sind leicht angetrunken. Lüdtke spricht Mike B. auf das Hakenkreuztattoo am Hinterkopf an. Er fragt ihn, ob in seiner Kindheit etwas falsch gelaufen sei, will mit ihm über seine Gesinnung diskutieren.

 

Beide steigen in den Bus. Lüdtke redet weiter auf B. ein. Der bleibt ruhig. An der Haltestelle Spechthausener Straße steigen die Männer aus. B. fordert Lüdtke mehrmals auf, mit in einen Hinterhof zu kommen, um noch ein Bier zu trinken. Der Punk lehnt ab. Plötzlich geht B. auf Lüdtke los. Er schubst und schlägt ihn mit den Fäusten. Der verteidigt sich. Durch das Gerangel kommen sie der Straße immer näher, auf der Lüdtke dann von einem Taxi erfasst wird.

 

Den Tod von Falko Lüdtke hätte womöglich keiner verhindern können. Dennoch schauten auch in diesem Fall Bevölkerung und Behörden weg. "Das wurde lediglich als Auseinandersetzung zwischen Linken und Rechten abgetan - die Mitte der Gesellschaft hielt es für unnötig, sich zu positionieren", sagt Kai Jahns.

 

Bestätigt fühlten sich die Eberswalder durch die Einschätzung von Justiz und Polizei. In den Akten zu den Ermittlungen findet sich ein tendenziöser Vermerk, der sich vor allem auf die Aussagen der Kumpel von Mike B. konzentriert: Da ist davon die Rede, dass Falko Lüdtke Mike B. aus eigenem Entschluss ein Gespräch "aufgedrängelt" habe. "Im Bus führte Lüdtke sein 'Vollgetexte' gegenüber B. weiter." 

 

Gericht: Motiv konnte angeblich nicht geklärt werden


Das Gericht stellt immerhin fest, dass Lüdtke Zivilcourage gezeigt habe, als er den Angeklagten auf dessen Tätowierung ansprach. Gleichzeitig wird das Opfer für sein Verhalten kritisiert: "Ob die Art und Weise, insbesondere die Dauer, trotz mehrfacher Aufforderung durch Dritte, Ruhe zu geben, sinnvoll und notwendig war, kann dahingestellt bleiben, denn der Angeklagte blieb im verbalen Gespräch ruhig (...)." Und schließlich heißt es: "Das Motiv des Angeklagten, warum er nach dem Aussteigen aus dem Bus gegen Falko Lüdtke tätlich vorgegangen ist, konnte in der Hauptverhandlung nicht geklärt werden."

 

Für die Forschungsgruppe, die auch den Fall Lüdtke neu überprüft hat, ist diese Entscheidung nicht nachzuvollziehen: "Lüdtke spricht den Täter aus politischen Gründen an und positioniert sich als Gegner. Daraus entwickelt sich ein Streit - das kann ich also als eindeutig rechtsextrem ansehen." Ob Falko Lüdtke nun in die offizielle Statistik aufgenommen wird, ist noch offen. Der Bericht gibt lediglich eine Empfehlung ab. Kai Jahns hofft indes. "Sie sollen ihn als Opfer und damit seine Zivilcourage anerkennen", sagt er.

 

Viele von Lüdtkes Freunde leben noch in Eberswalde. Sie kommen regelmäßig im Punkrockclub von Jahns zusammen. "Falko ist immer dabei - wenn wir ein Konzert haben, spielt die Band nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Toten." Anfang Juni wäre Falko Lüdtke 37 Jahre alt geworden.