[Delitzsch] Jagdszenen unter dem Balkon

Erstveröffentlicht: 
05.09.2000

In einem Delitzscher Plattenbauviertel schlagen sich Neonazis und Aussiedler. Die Stadt ist hilflos, die Anwohner bleiben mit ihrer Angst allein


Wolfgang Kohrt

DELITZSCH, im September. In diesen Tagen muss man gar nicht lange nach ihnen suchen. Man fährt nach Delitzsch hinein und geht zum Marktplatz. Dort hocken sie dann schon in ihrer üblichen Staffage, gleich vor dem Rathaus: fünf Neonazis mit Beinahe-Glatze, Springerstiefeln und schwarzen T-Shirts von Lonsdale. Eigentlich möchte man sofort wieder die Stadt verlassen, aber um gleich wieder wegzufahren, ist man nicht hergekommen.

Es folgt der Versuch einer Kontaktaufnahme. Auf die Frage, wo Mike Scheffler [gemeint ist Maik Scheffler; Anm. d. Transkriptors] zu finden sei, zischt ein fetter Zwanzigjähriger: "Verpiss dich." Man hat wohl Glück, dass er noch kein Bier getrunken hat. Ein etwa 15-jähriges Mädchen im "White-Power"-Shirt ruft mahnend "Mario". Mario verschwindet übellaunig im Rathaus, wo sein Führer Scheffler gerade beim Bürgermeister sitzt, um über den geplanten Aufmarsch für das Wochenende zu reden. Nach ein paar Minuten kommt Mario zurück. Scheffler lässt im Stil eines Politikers ausrichten, dass er "zu einer Stellungnahme nicht bereit" sei.

Dies ist eine kleine Spätsommerszene aus der Kleinstadt Delitzsch in Sachsen. Bisher war die Stadt eher durch nichts bekannt. Sie war nur der typische Ort, in dem die schnellen Züge nicht halten. Es wird gebaut und angestrichen in den Straßen, und unter der Spätsommersonne schwimmt die lokale Stadtreinigung im Ruderboot auf dem Wallgraben, um Unrat aus dem Wasser zu fischen.

Neuerdings starren die 27 000 Einwohner aber auch auf etwa 30 einheimische Neonazis. Unter Beteiligung des fahrenden Schlägervolks aus Wurzen oder den umliegenden Dörfern treten sie auch schon mal mit 60 bis 80 Mann auf. Vorwiegend im Plattenbauviertel Delitzsch-West. Dort gibt es jetzt immer wieder Szenen, die an Bürgerkrieg erinnern. Dann schlagen sich die Neonazis mit den deutschstämmigen Spätaussiedlern aus Russland. In Delitzsch-West wohnen viele sozial schwache Familien mit etwa 450 Aussiedlern zusammen. Die Rechtsradikalen wollen diese Leute mit dem "unreinen Blut" weghaben.

Es gibt Menschen in der Stadt, die sagen, dass die Gewalt zu gleichen Teilen von beiden Seiten ausgeht. Zu ihnen gehört der CDU-Oberbürgermeister Heinz Bieniek. Bieniek äußert seine Meinung am Freitag. Einen Tag später veröffentlicht die Lokalredaktion der "Leipziger Volkszeitung" eine Seite mit Stellungnahmen von örtlichen Persönlichkeiten unter der Zeile "Gegen den rechten Terror - die Öffentlichkeit schweigt nicht mehr".

Hat es vor vier Wochen angefangen, als der 19-jährige Aussiedler Viktor Schlund von Rechtsradikalen mit dem Messer niedergestochen wurde? Oder vor zwei Monaten? Oder schon am letzten Silvestertag, als der Sohn eines Aussiedlers von den Rechten zusammengeschlagen wurde? Die Meinungen gehen auseinander, und eigentlich ist das auch nicht mehr besonders wich- tig. Tatsache ist, dass jetzt selbst die sächsische Sonderkommission Rechtsradikalismus in der Stadt unterwegs ist und das Krisengebiet Delitzsch-West von einer Kamera beobachtet wird.

Immer wieder das gleiche Gebrüll

Elena Talheimer braucht keine Kamera, sie kann auch so alles sehen. Zusammen mit ihrem Mann und zwei Kindern ist sie vor vier Jahren aus Irkutsk am Baikalsee nach Delitzsch gekommen. Sie wohnt in der Monheimer Straße und muss nur die Gardine am Wohnzimmerfenster zur Seite ziehen. "Kommen Sie", sagt sie und löscht das Licht. "Dort drüben stehen sie wieder."

Ja, dort stehen sie. Auch an diesem Abend sammeln sich nur 50 Meter entfernt wieder die Rechtsradikalen an der Tankstelle. Dort kaufen sie Bier, und von dort hören die Talheimers immer wieder das gleiche Gebrüll: "Zickzack Russenpack", "Russen raus, Russen raus" und "Der nationale Widerstand - das sind wir". Einmal hat Elena Talheimer versucht, mit Tino zu reden. Tino ist 16 und läuft mit Springerstiefeln und Glatze durch das Viertel. "Irgendwann gingen ihm die völkischen Argumente aus", sagt Frau Talheimer, "und auf einmal fing er an zu brüllen: ,Wir sind die Deutschen, wir haben reines Blut, wir sind die Deutschen, wir haben reines Blut. "

Manche Nächte müssen hier verheerend gewesen sein. Erika Kovacs nimmt das Wort "Pogromstimmung" in den Mund. Auch sie kann von ihrem Balkon sehen, was passiert. "Eigentlich", sagt sie, "möchte man wegrennen. Man muss hier Angst um seine Kinder haben. Aber wenn wir alle den Kopf in den Sand stecken, dann geben wir den Glatzen die Schlüssel für das Wohngebiet in die Hand. Ich war auch lange ruhig, aber das ist jetzt vorbei. Ich sehe hier immer, wer anfängt, und das sind nicht die Aussiedler."

Es gab Abende, da ist Erika Kovacs vom Balkon zurück in ihre Wohnung gegangen und hat gezittert vor Aufregung und Angst. Neulich erst sagte eine Nachbarin zu ihr: "Du alte Schlampe hältst es mit den Russen, aber dich treffen wir auch noch mal in der Nacht." Ihre Tochter hat sie schon beschworen, abends nicht auf die Straße zu gehen. Aber Frau Kovacs glaubt jetzt, dass auch sie helfen muss, dem Ganzen ein Ende zu setzen. "Ich habe das am letzten Sonntagabend gesehen", sagt sie, "und da sind mir die Tränen runtergelaufen."

Über diesen Sonntagabend gibt es ein kurzes Video. Wer es gedreht hat, bleibt ein Geheimnis der Aussiedler. Die Bilder scheinen unwirklich, aber sie bilden einen Abend in Delitzsch-West ab. Es ist dunkel auf der Kampfbahn, und nur eine hohe Laterne beleuchtet mit ihrem fahlen Licht die Szenerie. 40 Rechtsradikale - Elena Talheimer hat sie gezählt - toben im Hintergrund. Sie haben Knüppel in den Händen und werfen mit Flaschen nach den Aussiedlern im Vordergrund. Etwa 80 von ihnen, die meisten Frauen, sind spontan auf die Straße gegangen, nachdem ihre Kinder durch das Wohngebiet gehetzt wurden. Nun fliegen ihnen Flaschen und Hass-Parolen um die Ohren. Plötzlich fangen die Aussiedlerfrauen gellend an zu schreien. "Einigen von uns waren wohl die Nerven durchgegangen", sagt Elena Talheimer. Ohne zu überlegen, was passieren könnte, stürzen die Aussiedler auf die Rechtsradikalen zu. Die sind überrascht und fliehen. Zurück bleibt zum wiederholten Mal der große Delitzscher Scherbenhaufen.

Auch an diesem Abend ist die Polizei zurückhaltend aufgetreten. Schon um 20 Uhr hatte Frau Tal-heimer um Hilfe gebeten, aber im Delitzscher Revier hatte man gesagt, es seien nur zwei Beamte verfügbar. Später rief sie noch einmal an. Aber als die Polizei um 21.30 Uhr kam, war schon alles vorbei.

Ähnliche Erfahrungen hat Veysel Akbacak in seinem Döner-Bistro gemacht. Vor drei Wochen standen abends sechs Rechtsradikale vor ihm. Seine Freundin konnte noch die Polizei rufen. Nach 40 Minuten kamen zwei Mann aus Torgau. Da waren die Glatzen weg. Von Torgau nach Delitzsch fährt man am Abend normalerweise 25 Minuten.

Julia Dausz wundert sich nicht über solche Erzählungen. Sie ist Sozialpädagogin im städtischen Jugendklub, den seit einigen Wochen auch die Rechten frequentieren. Der Delitzscher Anführer Scheffler hatte ihr gesagt, dass sie Präsenz zeigen wollten und sich dafür den größten Klub ausgesucht hätten. So kommt es dort zu Situationen, in denen Julia Dausz nicht weiß, wie der Abend zu Ende geht. Auch sie sagt: "Von der Polizei fühlen wir uns nicht besonders unterstützt."

Schlafen mit dem Beil am Bett

So fragt man sich, was in dieser Stadt eigentlich geschieht. Oder unterlassen wird. Delitzsch-Nord ist ein anderes Plattenbauviertel und nur durch eine Fernverkehrsstraße von Delitzsch-West getrennt. Seit Wochen hören auch dort die Anwohner in den Nächten von Freitag bis Sonntag, wie die Jung-Nazis Präsenz zeigen. Sie grölen "Sieg Heil", "Heil Hitler" oder "Wir sind der nationale Widerstand". Jeder weiß das. Und die Polizei weiß, dass dies Straftatbestände sind. Aber eingeschritten ist niemand.

Vielleicht haben die örtlichen Polizisten Angst. Vielleicht wollen sie sich nur heraushalten. Die Rechtsradikalen haben keine Angst. Ein Mann aus dem alternativ orientierten "Haus der Begegnung" sagt, "die probieren hier immer mehr aus, wie weit sie gehen können". Er selbst schläft mit einem Beil neben dem Bett. Auch der Döner-Verkäufer Veysel glaubt, "dass die Glatzen Allmachtsgefühle haben". Ein Lokaljournalist meint: "Die fürchten sich hier nicht, denn es passiert ihnen doch kaum etwas." Viele Dinge seien in den letzten Jahren verniedlicht worden. "Überfälle auf das ,Haus der Begegnung hat es hier doch schon lange gegeben, aber das wurde von der Stadt immer als Auseinandersetzung zwischen jugendlichen Rabauken dargestellt. So konnten die Glatzen bis heute ungestört ihre Strukturen entwickeln."

Oberbürgermeister Bieniek würde das wahrscheinlich nicht so sagen. Auf die Frage, ob seine Stadt ein Neonazi-Problem hat, schweigt er einen Moment. Er fühlt sich sichtlich unwohl. Dann sagt er: "Ja, seit diesem Jahr. Aber Sie merken, die Antwort fällt mir nicht leicht." Danach nebelt er nur noch mit dem Begriff "rechtsorientierte Jugendliche" herum. Das scheint die Sprachregelung im Rathaus zu sein. Bieniek zeigt den Reflex jedes Bürgermeisters, in dessen Stadt die Glatzen marschieren. Er sagt auf, was für die Jugend getan wurde. Und dass sich in Delitzsch so viel bewege, man brauche ja nur durch die Straßen zu gehen.

Irgendwann schweift der Oberbürgermeister zu den Aussiedlern ab. Etwa dem 13-Jährigen, der von den Rechten zusammengeschlagen wurde. "Der hatte ja 49 Vorstrafen." Oder: "Ich muss doch hier noch sagen dürfen, dass die Aussiedler in Delitzsch-West provokativ ständig Russisch sprechen. In ihrer alten Heimat sprachen sie doch Deutsch. Wo bleibt denn da der Grund, dass sie überhaupt hergekommen sind?" Viele Aussiedler sprechen tatsächlich meist Russisch. Sie schämen sich wegen ihrer unfertigen Deutschkenntnisse.

Was aus Delitzsch wird, weiß niemand so genau. Am Sonntag ist die Stadt voller Polizei. Allein am Bahnhof stehen 25 grüne Autos. Die Rechtsradikalen wollen marschieren, obwohl ihre Demonstration verboten worden ist. Auch Bieniek sagt, dass er keine Lösung kennt. Immerhin habe die Stadt jetzt Hilfe vom Bundesgrenzschutz bekommen. Und er hat einen Rat an die Aussiedler: "Sie sollten sich so benehmen, wie sich das gehört."

Am Abend fahren jetzt die grünen Autos gut wahrnehmbar durch die Straßen. Am Neonazi-Treffpunkt Shell-Tankstelle steht in der Dunkelheit ein Mannschaftswagen. Die Polizisten wollen nicht viel sagen. Einer meint nur lakonisch: "Das wird wie im vergangenen Jahr. Damals haben wir die Konsulate vor den Kurden geschützt, und jetzt schützen wir Delitzsch." Schräg gegenüber sitzen ein paar Skinheads und zechen. Der Tankstellen-Mitarbeiter spricht um diese Zeit nur noch durch die Sprechanlage an der Fensterscheibe. "Das ist unglaublich", sagt er, "was hier passiert. Fahren Sie schnell nach Hause. Ich würde hier nicht bleiben."