[B] Parlamentarische Anfrage: Was weiß Henkel, das die Polizei nicht weiß?

Erstveröffentlicht: 
01.03.2016

Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Fabio Reinhardt und Oliver Höfinghoff (PIRATEN) vom 09. Februar 2016 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 10. Februar 2016) und Antwort

 

Was weiß Henkel, das die Polizei nicht weiß?


Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Schriftliche Anfrage wie folgt:

1. Welche Erkenntnisse hat der Senat über die Sachbeschädigungen, die an der Flottwellstraße in Tiergarten in der Nacht des 4. Februar und in der Neuköllner Weserstraße in der Nacht des 6. Februar stattgefunden haben?

Zu 1.: Es wird davon ausgegangen, dass mit den Sachbeschädigungen in der Flottwellstraße die Nacht des 6. Februar 2016 gemeint ist. In dieser Nacht gegen 01:15 Uhr bewegte sich eine mindestens 30 Personen umfassende, vermummte, schwarz beziehungsweise dunkel gekleidete Gruppe aus der Parkanlage Gleisdreieck in Berlin-Tiergarten kommend in den Bereich Flottwellstraße/ Ecke Lützowstraße. Im Straßenkreuzungsbereich wurde aus den dort vorhandenen Verkehrsbaken eine Art Barrikade errichtet und entzündet. Anschließend bewegte sich die Personengruppe in Klein- und Kleinstgruppen und im Laufschritt die Flottwellstraße in südliche Richtung entlang bis zur Straßenecke Pohlstraße.

Auf diesem etwa 150 Meter langen Teilabschnitt der Flottwellstraße beschädigte die Gruppe mittels mitgeführter Gegenstände zahlreiche parkende Fahrzeuge sowie Wohnneubauten und Geschäfte, die teilweise noch nicht bezogen sind. An den Gebäuden wurden bodentiefe Fenster und Verglasungen von Haustüren beschädigt beziehungsweise eingeschlagen. Nach Zeugenaussagen führten die Täterinnen beziehungsweise Täter unter anderem Hämmer, Kleinpflastersteine und pyrotechnische Gegenstände mit.

Insgesamt wurden nach heutigem Stand 26 Fahrzeuge und zwölf Gebäude zum Teil massiv beschädigt. Vier der angegriffenen Fahrzeuge wurden entzündet und brannten nahezu vollständig aus. In einem weiteren Fahrzeug wurde eine Brandvorrichtung aufgefunden. Bei den restlichen Pkw wurden überwiegend die Scheiben beschädigt beziehungsweise eingeschlagen.

Auf Höhe Pohlstraße flüchteten einige der Täterinnen beziehungsweise Täter in die Parkanlage am Gleisdreieck zurück, andere entfernten sich auf der Flottwellstraße weiter in südliche Richtung.

Am 6. Februar 2016 fand die „Freiräume-Demonstration“ in Berlin-Friedrichshain statt, die mit etwa 4.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern vergleichsweise störungsarm verlief und gegen 19:30 Uhr durch den Veranstalter vorzeitig beendet wurde. Gegen 23:10 Uhr lief eine etwa 50 – 100-köpfige vermummte Personengruppe auf der Fahrbahn der Weserstraße, skandierte verbalaggressive Sprüche und trug ein über die gesamte Fahrbahn reichendes Transparent mit roter Aufschrift mit sich.

Die Personen liefen schreiend auf das in der Zwischenzeit alarmierte Einsatzfahrzeug des Polizeiabschnitts 54 zu und bewarfen das Fahrzeug mit Steinen und anderen Gegenständen. Dadurch wurde das Fahrzeug erheblich beschädigt, die Einsatzkräfte blieben unverletzt.

 

Gegen 23:15 Uhr wurde in der Hobrechtstraße die gläserne Ladenfront des im Erdgeschoss befindlichen Quartiersbüros Reuterplatz zerstört und mit Farbgeschossen beworfen.

Gegen 23:30 Uhr wurde laut Zeugenaussagen durch eine mindestens 50-köpfige, aus der Richtung Maybachufer kommende Personengruppe zunächst Pyrotechnik (Böller) entzündet und direkt anschließend ein in der Friedelstraße geparktes Dienstfahrzeug der Firma Vattenfall mit einer teerartigen Flüssigkeit beworfen. Anschließend habe sich die Gruppe weiter in Richtung Weserstraße bewegt.

Eine Sachbeschädigung an einem Haus des Rütli-Campus in der Rütlistraße durch Kleinpflastersteine und Farbe wurde am Montag, den 8. Februar 2016, angezeigt. Im Nachhinein wurden - ergänzend zu den benannten Straftaten - in der Hobrecht- sowie in der Friedelstraße nach jetzigem Stand 17 weitere Fahrzeuge festgestellt, die Beschädigungen in Form von Kratzern und Dellen aufweisen.

Darüber hinaus wurden zwei Sachbeschädigungen durch Graffiti in der Reuterstraße („friedel bleibt“) an einer Hausfassade und in der Weichselstraße („F54!“ und Anarchiezeichen) an einer Hofzufahrt festgestellt.

2. Stuft der Senat den auf dem Portal linksunten.indymedia.org am 5.2. veröffentlichten Blogpost "In der Flottwellstrasse zugeschlagen" als authentisches Bekennerschreiben ein und falls ja, welche Maßnahmen ergreift der Senat, um das "4. sozialdemokratische Volksfahrräderkommando "Noske und Ebert"", welches sich als "Sozialdemokrat/-innen verpflichtet [fühlt], die Stimmung anzuheizen, damit der Volksgenosse Tom Schreiber was zum Hetzen hat", an weiteren Aktionen zu hindern?

Zu 2.: Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen wird nicht von einer Authentizität dieses Schreibens ausgegangen. Der in satirischer Form gestaltete Artikel des „Kommando Noske und Ebert“ nimmt nur kurz und in allgemeiner Form Bezug auf die Ereignisse in der Flottwellstraße. Er offenbart keine über Medienlektüre hinausgehenden Kenntnisse zu den Taten. Inhaltlich geht es den Autorinnen beziehungsweise Autoren offenbar eher darum, eine politische Verantwortung für die Aktion zu konstruieren.

3. Hält der Senat es für möglich, dass die laut Bekennerschreiben offenkundig in Köpenick vorgesehene "Aktion des 2. sozialdemokratischen Volksfahrräderkommandos "Bebel und Liebknecht"", die nicht stattfand, weil "leider hatten die Genoss/-innen alle einen Platten und so sind sie lieber in die nächste Kneipe gegangen" in den nächsten Wochen noch stattfindet und welche Vorsichtsmaßnahmen trifft der Senat diesbezüglich? Gibt es spezielle Maßnahmen zur Überwachung von Fahrradreparaturwerkstätten, falls ja welche?

Zu 3.: Nein, nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen wird nicht von einer Authentizität dieses Schreibens ausgegangen.

4. Wie kommt es, dass der Sprecher der Berliner Polizei, Stefan Redlich am 6.2. abends um 22:00 Uhr in der Sendung RBB Aktuell sagte, es sei "sinnvoll auf das Ergebnis der Ermittlungen zu warten", bevor man "irgendeine Szene für diese verantwortlich [mache]", während Innensenator Frank Henkel am 7.2. um 14:03 per Pressemitteilung verkündete, dass es sich um "linke Chaoten" beziehungsweise einen "linken Mob" handele?

Zu 4.: Dem Pressesprecher der Polizei Berlin war am Abend des 6. Februar 2016 bekannt, dass Zweifel an der Authentizität des ersten Bekennerschreibens bestehen. Zum anderen lagen noch keine Ermittlungsergebnisse vor, mit denen die Taten in der Flottwellstraße eindeutig einer Gruppierung zugeordnet werden konnten. Daher wurde in der „Spätabendschau“ auf die noch laufenden Ermittlungen hingewiesen und die konkrete Zuordnung zunächst offen gelassen. Ein Senatsmitglied hingegen kann Taten politisch bewerten und das Offensichtliche aussprechen, wenn wie hier die Motivation dieses sinnlosen Angriffs klar auf der Hand liegt. Die Offenkundigkeit des Beweggrundes wurde im Übrigen auch in einem später eingegangenen Bekennerschreiben der Täterinnen oder Täter thematisiert.

5. Bezeichnet der Begriff „Chaoten“ konkret die potentiellen Täter/-innen in der Flottwellstraße und „Mob“ die in der Weserstraße oder sind diese beiden Begriffe frei austauschbar?

Zu 5.: Die Begriffe sind bezüglich der Täterinnen und Täter in der Flottwellstraße beziehungsweise in der Weserstraße frei austauschbar. Als „Chaoten“ werden Menschen bezeichnet, die ihre politischen Ziele auf radikale Weise mit Gewaltaktionen und gezielten Zerstörungsmaßnahmen durchzusetzen versuchen. Ein Mob bezeichnet eine Gruppe von Personen, die gemeinsam ohne erkennbare Führung zusammen agiert und gruppendynamisch kurzfristige Ziele verfolgt.

6. Welche zusätzlichen Erkenntnisse konnten in diesem Zeitraum gewonnen werden, die dem Sprecher der Polizei am Abend des 6.2. noch nicht vorlagen?

Zu 6.: Zum angegebenen Zeitpunkt (6. Februar 2016, 22:00 Uhr) lag ein zweites - nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen als authentisch zu erachtendes - Selbstbezichtigungsschreiben nicht vor.

7. Bezieht sich die Aussage Innensenator Henkels, „Wir werden dem linken Mob nicht die Straße überlassen.“ auch auf Demonstrationen, die bei der Berliner Versammlungsbehörde regulär angemeldet werden?

Zu 7.: Die Entscheidungen der Versammlungsbehörde richten sich allein nach gesetzlichen Vorgaben.

8. Schließt sich der Senat der Einschätzung von Innensenator Henkel an, dass die oben erwähnten Sachbeschädigungen als "Terroraktionen" zu bezeichnen sind?

 

9. Nach welchen Kriterien werden Straftaten vom Senat als "Terroraktion" definiert und folgt diese Eistufung der Resolution 1566 des UN-Sicherheitsrats (UNSCR 1566) vom 8. Oktober 2004 bildet, die die völkerrechtliche Grundlage für verschiedene Aktivitäten zur Terrorismusbekämpfung bietet?

Zu 8. und 9.: Ja.
Mit Beschluss des Rates der Europäischen Union (EU) vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (2002/475/JI) wurde EU-weit unter anderem eine Definition der terroristischen Straftaten und terroristischen Vereinigungen als Grundlage zur zukünftigen effektiven Bekämpfung des Terrorismus geschaffen. Dieser ist mit dem „Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung und zur Änderung anderer Gesetze“ vom 22. Dezember 2003 (Bundesgesetzblatt (BGBl.) I 2836) in nationales Recht umgesetzt worden. Hierbei erfolgte insbesondere eine Anpassung des § 129a Strafgesetzbuch (StGB).
Terrorismus ist über die Strafbarkeit der Bildung einer terroristischen Vereinigung (§§ 129a, 129b StGB) gesetzlich bestimmt. Als Terrorismus werden darüber hinaus schwerwiegende Politisch motivierte Gewaltdelikte (Katalogtaten des § 129a StGB) sowie Verstöße gegen die §§ 89a, 89b, 89c und 91 StGB erfasst.
Der Begriff „Terrorakt“ ist nicht gesetzlich definiert und in der umgangssprachlichen Verwendung der subjektiven Auslegung der jeweiligen Verwenderin beziehungsweise des jeweiligen Verwenders unterworfen.

10. Oder folgt die Definition eher der Aussage „Terror ist nichts anderes als rasche, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend. Der Terror ist nicht ein besonderes Prinzip der Demokratie, sondern er ergibt sich aus ihren Grundsätzen, welche dem Vaterland als dringendste Sorge am Herzen liegen müssen.“, die Maximilien de Robespierre am 5. Februar 1794 vor dem Nationalkonvent tätigte, bevor er noch im selben Jahr dem Pariser Revolutionstribunal zum Opfer fiel?

Zu 10.: Nein.

11. Welche weiteren in Berlin seit 2011 begangenen Straftaten oder -serien sieht der Senat als "Terrorakt" an? Gehören dazu auch die 25 Anschläge und Schmähungen, die 2015 gegen Gotteshäuser und andere religiöse Einrichtungen gab, ohne dass dabei ein einziger Tatverdächtiger ermittelt wurde oder die 57 fremdenfeindlichen Angriffe auf Flüchtlingsheime, welches einen Anstieg gegenüber 2014 von 46 Prozent bedeutet?

Zu 11.: Der nachfolgenden tabellarischen Aufstellung kann entnommen werden, wie viele Fälle der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) mit der Deliktsqualität „Terrorismus“ in Berlin erfasst wurden.

 

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Alle Taten sind dem Phänomenbereich „Politisch motivierte Ausländerkriminalität“ (PMAK) - jedoch nicht ausschließlich dem Islamismus - zuzurechnen. Insgesamt neun Taten wurden im Themenzusammenhang „PKK/Kurdenproblematik“ registriert (2013 - 2015 jeweils drei Fälle pro Jahr).

Die in der Frage genannten strafbaren Handlungen gegen Gotteshäuser und andere religiöse Einrichtungen sowie Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte haben nicht die Deliktsqualität „Terrorismus“.

12. Was unternimmt der Senat gegen die von ihm als "Terroraktion" eingestuften Straftaten und wie unterscheidet sich die Vorgehensweise gegenüber sonstigen Straftaten und Delikten?

Zu 12.: Die Polizei Berlin ist bei der Verfolgung von allen Straftaten - also auch bei terroristischen Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuches - dem Legalitätsprinzip unterworfen. Sie wird alle Maßnahmen treffen, die für die Aufklärung des Sachverhaltes notwendig sind. Die dafür zur Verfügung stehenden Mittel sind in der Strafprozessordnung genannt und stehen hinsichtlich ihrer Anwendung in Abhängigkeit zur Schwere der zu verfolgenden Tat.

 

 

 

Berlin, den 23. Februar 2016

In Vertretung
Bernd Krömer
Senatsverwaltung für Inneres und Sport
(Eingang beim Abgeordnetenhaus am 01. Mrz. 2016)