Handgranaten-Anschlag : Wenn Hass eskaliert

Kriminalbeamte der Spurensicherung untersuchen nach dem Anschlag in Villingen-Schwenningen die Flüchtlingsunterkunft
Erstveröffentlicht: 
29.01.2016

Erst Steinwürfe und Brandsätze, jetzt Pistolenschüsse und eine Handgranate: Angriffe auf Flüchtlingsheime werden zu Terror. Rechte Demagogen treiben die Täter an.

 

Von Kai Biermann, Philip Faigle, Karsten Polke-Majewski und Sascha Venohr


Am Anfang waren es Pflastersteine und Böller, inzwischen aber fliegen sogar Handgranaten. Die Angriffe auf Flüchtlinge werden immer gewalttätiger. Fast jeden Tag werden inzwischen Asylbewerberheime in Deutschland attackiert. Mal werfen Gewalttäter Molotowcocktails, mal werden Wohnungen angezündet oder geflutet. Flüchtlinge werden mit Maschinenpistolen bedroht, mit Pistolen und Zwillen beschossen oder es werden Sprengkörper vor ihren Unterkünften abgelegt. Doch immer noch sind Ermittler und Justiz erschreckend hilflos, bleiben die Täter viel zu oft unbehelligt.

 

Der jüngste Fall ereignete sich im baden-württembergischen Villingen-Schwenningen. Die Doppelstadt liegt am Rande des Schwarzwalds, ein beschaulicher Ort, mittelalterliche Häuser in rotem Buntsandstein prägen das Zentrum. Zehn Minuten vom Ortkern entfernt ziehen sich an der Dattenbergstraße ehemalige Kasernengebäude entlang. Früher waren hier französische Soldaten stationiert. Heute gehören die Häuser zu einer Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge.

 

In der Nacht zum Freitag hört ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, der die Unterkunft rund um die Uhr bewacht, gegen 1:15 Uhr ein verdächtiges Geräusch. Als er das Gelände kontrolliert, findet er auf der geteerten Fläche eines Innenhofes eine Handgranate. Irgendjemand muss sie über den Zaun bis hierher geworfen haben. Sofort ruft der Mann die Polizei. Die Beamten riegeln den Hof ab, 20 Bewohner der Unterkunft müssen die umliegenden Häuser verlassen. Ein Entschärfer des Landeskriminalamts kann die Granate gegen fünf Uhr morgens kontrolliert sprengen. Niemand wird verletzt.

 

Kein Hinweis auf die Täter

 

Wie gefährlich die Situation war, kann die Polizei noch nicht genau sagen. Sicher ist, dass die Granate mit Sprengstoff gefüllt war. Ob sie auch explosionsfähig war, ist noch unklar. Berichte, der Sicherheitssplint sei gezogen gewesen, kann ein Polizeisprecher nicht bestätigen.

 

Noch weniger kann die Polizei bislang zu den Hintergründen der Tat sagen. Sie hat keinerlei Hinweise auf mögliche Täter. Zeugen wurden bisher nicht gefunden; die Polizei ruft nun alle Bürger auf, sich zu melden, wenn sie verdächtige Personen oder Fahrzeuge bemerkt haben. Die Kriminalpolizei in Rottweil hat eine Sonderkommission Container gebildet.

 

Der Anschlag von Villingen ist nur ein weiterer in einer langen Reihe von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte. Recherchen von ZEIT ONLINE und der ZEIT hatten im vergangenen Jahr ergeben, dass zwischen dem 1. Januar und 30. November mindestens 222 Gewalttaten gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte verübt wurden, darunter 93 Brandanschläge, 93 Sachbeschädigungen, acht Wasserschäden und 28 tätliche Angriffe. Auch im Dezember ließen die Attacken nicht nach, im Gegenteil: Es wurden 48 Gewalttaten verübt, so viele wie in keinem Monat zuvor.

 

Erschreckend auch: Nur in vier Fällen haben Gerichte bisher Täter verurteilt, in weniger als 20 Fällen wurde Anklage erhoben. Und in weniger als einem Viertel der Fälle konnte die Polizei überhaupt einen Tatverdächtigen ermitteln.

 

Das Bundeskriminalamt warnt mittlerweile vor einer neuen "Dynamik der rechtsextremen Straftaten". Man brauche jetzt schnelle Ermittlungsergebnisse und Urteile, sagt der BKA-Präsident Holger Münch noch vor wenigen Tagen. Geschehe das nicht, könnten sich schlimmstenfalls terroristische Strukturen bilden.

 

Lebensgefahr für die Retter

 

Eine Handgranate zu werfen ist ein terroristischer Akt. Doch ähnlich brutale Anschläge gibt es seit Monaten. In Freital bei Dresden haben ein Mann und eine Frau im November 2015 eine von Syrern bewohnte Wohnung mit Sprengsätzen angegriffen, die einer Handgranate schon ziemlich nahe kommen. Die im Ausland erhältlichen, in Deutschland wegen ihrer Wirkung verbotenen Knallkörper entwickeln große Gewalt. Werden sie gebündelt oder ummantelt, ist ihre Wirkung noch schlimmer. In Freital rissen die Explosionen mehrere Fenster heraus, Glassplitter flogen wie Schrapnelle umher und verletzten einen Menschen. In Dresden-Übigau kombinierten Täter solche Böller mit einer Buttersäureflasche, um die Wirkung noch zu erhöhen.

 

In Waghäusel in Baden-Württemberg störten zwei Flüchtlinge aus dem Kosovo am Abend des 28. Dezember auf ihrem Heimweg zwei Männer, die sich vor ihrer Unterkunft an Fahrrädern zu schaffen machten. Als die Flüchtlinge die Männer ansprachen, zog einer von ihnen eine Maschinenpistole und bedrohte die Kosovaren.

 

Im hessischen Dreieich schoss ein Unbekannter am 4. Januar 2016 mit einer Pistole auf die Fenster einer Flüchtlingsunterkunft. Ein Bewohner wurde getroffen und leicht verletzt.

 

Im niedersächsischen Barsinghausen versuchten Unbekannte am 23. Januar, eine im Bau befindliche Unterkunft zu sprengen. Dazu hatten sie Gasflaschen in den Rohbau geschleppt, sie geöffnet dort liegengelassen und in mehreren Stockwerken Dämmmaterial in Brand gesetzt. Die Feuerwehr fand die Flaschen erst während der Löscharbeiten. Ein Sprecher sagte, für die Feuerwehrleute habe akute Lebensgefahr bestanden.

 

Gewalttäter fühlen sich legitimiert

 

Nahezu wöchentlich gibt es Anschläge mit Molotowcocktails. Solche Brandflaschen können in Sekunden eine verheerende Wirkung erzielen, noch dazu, wenn sie mit Substanzen gefüllt sind, die dazu führen, dass der Inhalt nicht nur heiß brennt, sondern auch an Oberflächen haftet. Ganze Benzinkanister wurden beispielsweise im Dezember in Herxheim in Rheinland-Pfalz von zwei Unbekannten in eine Unterkunft geworfen. Wären sie wie geplant explodiert, hätten sie wie eine Bombe gewirkt, die alles in dem Raum vernichtet.

 

Staatsanwälte, die im Milieu ermitteln, berichten davon, wie sich die Ausländerfeinde im Netz gegenseitig zu Taten anstacheln. Sie schreiben von einem angeblichen Krieg, den sie führen müssten, von der drohenden Vernichtung des deutschen Volkes, der "Überfremdung", gegen die man sich zur Wehr setzen müsse. Es entstehe ein neues Klima des Hasses, das es Gewalttätern leichter mache, die eigenen Taten zu legitimieren. 

 

Gleichzeitig nutzen Rechte die Stimmung, um mit ihren Meinungen und Taten Anschluss an andere Teile der Gesellschaft zu suchen. Schon lange warnen Konfliktforscher, Gewalt werde auch von Bürgern, die nicht im rechtsextremen Milieu verankert sind, zunehmend als legitimes Mittel der Auseinandersetzung betrachtet. Im vergangenen Jahr veröffentlichte beispielsweise die Friedrich-Ebert-Stiftung Ergebnisse einer Befragung. Darin stimmten 15 Prozent der Befragten, die explizit als nicht-rechtsextrem herausgefiltert worden waren, dieser Aussage zu: "Ich bin bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Fremde durchzusetzen." Jeder sechste Bürger findet es also in Ordnung, Fäuste statt Worte sprechen zu lassen.

Die Täter folgen dem Bild, Gewalt gegen Flüchtlinge sei Notwehr, und fühlen sich bestätigt von Bewegungen wie Pegida oder anderen rechtspopulistischen Gruppen. Dass bislang niemand gestorben ist, ist reines Glück. "Wenn der erste Mord sich für die Community wie eine Heldentat feiern lässt, dann wird es Nachahmungstaten geben", warnt der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick.