«Die Saudis ticken wie der IS»

Erstveröffentlicht: 
18.12.2015

Wer Madawi al-Rasheeds Bücher in ihrer Heimat liest, riskiert, ins Gefängnis zu kommen. Doch die saudische Professorin fürchtet das Regime in Riad nicht.


Sie kritisieren das saudische Regime von London aus. Können Sie noch zurück in Ihre Heimat, ohne sofort verhaftet zu werden?

Mein saudisches Bürgerrecht ist mir entzogen worden. Die Probleme begannen bereits mit meiner Doktorarbeit in Cambridge über die Geschichte der Arabischen Halbinsel im 19. und im 20. Jahrhundert. Schon bevor ich bloggte und mich für die Menschenrechte einsetzte, beobachtete mich das Regime. Heute habe ich einen britischen Pass.

 

Können Sie damit in Saudiarabien einreisen?

Nein. Dissidenten, die von einem anderen Land das Bürgerrecht erhalten haben, sind nicht mehr geschützt, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Das ist international so üblich.

 

Was wirft Ihnen das saudische Regime vor?

Die Führung in Riad reagiert panisch auf akademische Kritik, welche die offizielle Sicht von Politik, Geschichte und Religion hinterfragt. Als Akademikerin, die die Methoden des Regimes entlarvt und dessen Politik in Sachen Redefreiheit infrage stellt, wird man automatisch zur Dissidentin. Meine Arbeit ist ein Verbrechen in Saudiarabien.

 

Was riskieren Ihre Leserinnen und Leser?

Ich weiss von zwei Fällen, in denen Menschenrechtsaktivisten Texte von mir auf ihre Computer herunterluden. Sie wurden angeklagt und verhaftet. Wer in Saudiarabien meine Bücher liest, muss ins Gefängnis. Das Regime will jede Information unterdrücken, die der eigenen Sicht der Realität widerspricht. Ich bin in keiner Partei, und ich rufe nicht zu Demonstrationen auf. Aber schon als Intellektuelle werde ich als Bedrohung wahrgenommen.

 

Wurde eine Fatwa gegen Sie ausgesprochen?

Nein, obwohl ich auch in den Medien auftrete. Man ärgerte sich sehr, als ich 2009 erstmals bei al-Jazeera oder der BBC erschien. Eine Frau unverhüllt am Fernsehen – das ist nicht das Lieblingsprogramm der saudischen Kleriker. Aber eine Fatwa, um mich zu eliminieren, gibt es bisher nicht.

 

Fürchten Sie, dass es noch so weit kommt?

Wenn auch. Das kümmert mich nicht, denn ich lebe ausserhalb Saudiarabiens. Und sie werden sich zurückhalten, weil sie wissen, wer ich bin. Es ist nicht so einfach, eine Frau mit meinem familiären Hintergrund ins Visier zu nehmen.

 

Aus was für einer Familie stammen Sie?

Wir haben eine lange Geschichte der Feindschaft mit dem Königshaus. Dennoch lebt ein Teil der Verwandtschaft ohne Probleme in Saudiarabien. Denn die Schwester meines Vaters war verheiratet mit König Abd al-Aziz ibn Saud, dem Gründer des saudischen Königreichs. Obwohl die al-Rasheeds gegen den König waren und 1921 einen Krieg verloren, zählt meine Familie zur arabischen Nobilität, zumal es noch weitere strategische Ehen gab zwischen den Rasheeds und den Sauds. Es ist also schwierig für das Regime, eine Scheusslichkeit zu begehen, ohne dass es ein Nachspiel gäbe. Ich fühle mich sicher.

 

Und Ihre Familie in Saudiarabien?

Es gab Drohungen. Als ich in den 90er-Jahren mein erstes Buch veröffentlichte, drohte das Regime meinem Vater mit «disziplinierenden Mass­nahmen». Aber er bremste mich nie, im Gegenteil, er ermutigte mich. Auch meine Angehörigen in Saudiarabien wurden unter Druck gesetzt. Als Frau wurde ich aber nie direkt angesprochen.

 

Frauen dürfen nicht Auto fahren in ­Saudiarabien. Aber durften Sie studieren?

Seit den 1960er-Jahren gibt es Mädchenschulen in Saudiarabien. Als ich etwa 13 Jahre alt war, emigrierte meine Familie in den Libanon. Ich studierte an der Amerikanischen Universität in Beirut. 1982 ging ich wegen des Bürgerkriegs und der israelischen Besatzung nach England. Die saudischen Frauen meiner Generation durften als Erste die Schule besuchen und studieren. Inzwischen haben die Frauen an den Unis die Männer überflügelt.

 

Eine Entwicklung, die Hoffnung macht?

Die Frauen werden besser in verschiedenen Be­rufen. Dennoch bleibt Saudiarabien das einzige Land der Region, in dem dieser ganze Teil der ­Bevölkerung nicht repräsentiert ist in einem Rat. In Oman wurde eine Frau ins Parlament gewählt. Auch andere Golfstaaten haben repräsentative Gremien.

 

Das höchste saudische Gericht hat kürzlich die Todesstrafe gegen den Schiiten Ali Bakr al-Nimr bestätigt, der das Regime kritisierte. Er war sogar minderjährig, als er sein ­angebliches Verbrechen beging. Basiert die saudische Diktatur auf Intoleranz?

Das Regime schürt die konfessionellen Spannungen. Ich bin Sunnitin, aber 10 Prozent der Bevölkerung sind schiitisch. In den Ostprovinzen, wo die Schiiten leben, werden häufig Moscheen angegriffen, auch diese Woche wieder. Das Regime bezeichnet sie als Ungläubige. Zu Beginn des arabischen Aufstands 2011 gingen die Schiiten auf die Strasse und forderten Gleichberechtigung. Angeblich stand der Iran dahinter. Deshalb gab es keine Solidarität im Rest des Landes. So wurde das Regime gestärkt, zumal Riad noch auf die Bedrohungen durch islamistische Gruppen im Jemen und den Isla­mischen Staat verweisen kann. Deshalb gebe es keine demokratischen Reformen, hiess es.

 

Für Reformen setzte sich auch der Blogger Raif Badawi ein. Er wurde zu 1000 Peitschenhieben verurteilt. Hörten Sie Neues von ihm?

Ich habe über ihn geschrieben. Er hat nichts Falsches getan. Er hat lediglich eine Website eingerichtet, auf der Kleriker kritisiert werden konnten. Im sunnitischen Islam ist das kein Verbrechen, Geistliche gelten nicht als Heilige, sondern als Menschen, die eine Interpretation des Islam anbieten. Doch er wurde inhaftiert und erhielt die ersten 50 Hiebe. Dem Regime geht es nur darum, den Klerikern zu demonstrieren, dass Saudiarabien nach wie vor ein islamischer Staat ist. So soll die Allianz zu den Geistlichen gestärkt werden.

 

,Raif Badawi hat am Freitag den Sacharow-Preis des EU-Parlaments erhalten. Ist Riad immun gegen internationale Kritik?

 

Raif Badawi ist einer von vielen politischen Häftlingen. Wie viele es sind, wissen wir nicht. Er erhielt einfach mehr Aufmerksamkeit wegen der 1000 Peitschenhiebe. Aber den anderen droht Ähnliches.

 

Bleibt die internationale Kritik ohne Folgen?

Menschenrechtsorganisationen haben Raif Badawi bekannt gemacht. Die westlichen Regierungen halten sich jedoch zurück mit Kritik an Riad. Sie wollen ihre guten wirtschaftlichen und strategischen Beziehungen nicht unterminieren. Ich vermute, dass die westlichen Regierungen nicht daran interessiert sind, dass es in Saudiarabien Demokratie und ein gewähltes Parlament gibt. Denn ein Parlament müsste jedem Waffendeal mit Grossbritannien und den USA zustimmen. Da gäbe es Opposition. Deshalb ist London und Washington eine geheime Beziehung zu den saudischen Prinzen lieber.

 

Ist ein Aufstand wie in Ägypten oder Tunesien unmöglich in Saudiarabien?

Das Regime konnte den Status quo halten. Man verteilte mehr Geld aus Öleinnahmen an die Bürger. Und dann sagte man, der Iran bedrohe Saudiarabien, weshalb man nun keine Reformen einleiten könne. Viele Aktivisten verstummten, um nicht als Verräter verhaftet oder gar hingerichtet zu werden.

 

Gemäss Amnesty International wurden im vergangenen Jahr 134 Personen exekutiert.

Saudiarabien benutzt die Todesstrafe, um die Leute einzuschüchtern. Freitags werden nach dem Gebet in Saudiarabien Menschen hingerichtet. Die Saudis verwenden dieselbe Methode wie der IS, sie ticken wie der IS und haben dieselbe Logik, wenn sie behaupten, es sei eine islamische Strafe.

 

Wie erfolgreich ist diese Machtdemonstration?

Sehr erfolgreich. Dabei wenden die Saudis die ­Todesstrafe selektiv an. So werden Drogenhändler eigentlich enthauptet. Anfang Woche aber hörte ich von einem Prinzen, der auf einem Schiff Drogen von Beirut nach Saudiarabien geschmuggelt hatte. Jetzt frage ich mich, was wohl mit ihm passiert. Denn angewendet wird die Todesstrafe vor allem gegen arme Einwanderer aus Afrika und Asien. Aber auch gegen saudische Schiiten wie den jungen Bakr al-Nimr. Sunnitische Kritiker wie der Blogger Raif Badawi haben bessere Chancen, mit dem ­Leben davonzukommen.

 

Bei so viel Übereinstimmung – unterstützt Saudiarabien den Islamischen Staat?

Es gibt Gemeinsamkeiten. Etwa die Art, wie sie die Theologie benützen. Auch ist der IS ähnlich entstanden wie 1932 Saudiarabien: Jemand, der nicht König war, fachte die Fantasie der Stämme an, indem er behauptete, dass der Rest der Bevölkerung nicht wahre Muslime seien. Deshalb starteten die Saudis einen Jihad, unter anderem gegen meine Familie. Nach mehr als tausend Jahren Islam sollten wir plötzlich keine Muslime mehr sein. Auch der IS strebt eine solche religiöse Vereinheitlichung an.

 

Dazu passt, dass saudische Kleriker ihre Landsleute in Syrien aufrufen, den Jihad gegen das alawitische und damit schiitische Assad-Regime fortzuführen. Gleichzeitig unterstützt Riad die Bombardierung des IS. Wo steht Saudiarabien?

Dieser Widerspruch ist real. Die Kleriker sprechen deshalb nie vom IS, sondern nur von Jihadisten. Denn sonst müsste die Regierung reagieren. Aber tief drinnen hat wohl auch das sunnitische Regime in Riad Sympathien für den sunnitischen IS.

 

Weshalb blockiert Saudiarabien eine ­politische Lösung in Syrien?

Im Allgemeinen hat sich Saudiarabien gegen die Aufständischen gestellt. Mehr noch: In Bahrain förderte man die Gegenrevolution. In Ägypten strichen die Saudis dem gewählten Präsidenten Mursi von den Muslimbrüdern alle Unterstützung, bis es zum Putsch kam. Sobald das Militär unter General Sisi die Macht wieder übernahm, floss wieder Geld von Riad nach Kairo. Ganz anders ist die Politik in Syrien. Hier unterstützte die erzkonservative Monarchie eine Revolution und forderte jene Demokratie, die man selber nicht hat und nicht will. Der Krieg in Syrien ist längst ein Stellvertreterkrieg.

 

Und dabei geht es nur um den Iran.

Ja, wie auch im Jemen. Die Saudis haben nicht die militärische Macht, um den Iran direkt herauszufordern. Deshalb fördert man den konfessionellen Krieg zwischen Schiiten und Sunniten, was Extremisten wie den IS hervorbringt. Es ist ein Stell­vertreter­krieg zwischen zwei Regionalmächten mit den syrischen Zivilisten als Geiseln.

 

Gleichzeitig ist es ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland. Beide Seiten liefern Waffen und entsenden offen oder verdeckt Truppen. 2014 hat kein Land mehr Waffen importiert als Saudiarabien.

Die arabische Welt ist insgesamt überbewaffnet, im Jemen hat jeder ein Gewehr. Die westlichen Länder unterstützen die Golfstaaten. Franzosen und Briten haben die Vereinigten Arabischen Emirate hochgerüstet. Die Briten errichteten eine neue Basis in Bahrain, und das nach der brutalen Unterdrückung des Aufstands. Die USA führen in Syrien militärische Trainings für verschiedene Rebellengruppen durch, russische Kampfjets sind am Himmel. Dabei gefährdet dieser Nahostkonflikt die Sicherheit Euro­pas sowie der USA und schafft Probleme wie die Flüchtlingskrise. Es ist offensichtlich: Die Unter­stützung von Diktatoren bringt langfristig nichts, obwohl sie kurzfristig einträglich ist.

 

Besteht Hoffnung auf ein Ende des ­Krieges in Syrien?

Es ist fast kein Spielraum vorhanden für eine diplomatische Initiative, die Lage ist so verfahren. Die Saudis beharren darauf, dass Assad verschwindet. Alles andere werden sie nicht akzeptieren. Indem sie Assad als ungläubig bezeichneten, haben die Saudis aus dem Bürgerkrieg einen Religionskrieg gemacht. Politische Konflikte sind einfacher zu ­lösen als religiöse. Denn in einem Glaubenskrieg heisst es immer: Entweder wirst du so wie wir, oder wir bekämpfen dich.