Ertrunken in den Armen des Vaters

Erstveröffentlicht: 
12.12.2015
„Papa, ich will schlafen“: Der 33-jährige Ali wollte nach Europa fliehen – doch bei der Fahrt über das Mittelmeer sterben zwei seiner Kinder vor seinen Augen

Von Philipp Hedemann und Eva Fischl

 

Kos. „Ich habe ihrer Mutter doch versprochen, dass ich gut auf sie aufpassen werde. Und jetzt, und jetzt ...“ Ali kann den Satz nicht zu Ende sprechen. Als der 33-Jährige auf sein Telefon guckt, bricht er in Tränen aus. Auf dem Display ist ein Foto seines sechsjährigen Sohnes Hussain und seiner vierjährigen Tochter Zainab zu sehen. Zainab liegt zu diesem Zeitpunkt im Leichenhaus, Hussains lebloser Körper treibt irgendwo im Meer zwischen Kos und Bodrum. Die beiden Kinder sind im Arm ihres Vaters ertrunken, als er sie vor Krieg und Gewalt in Sicherheit bringen wollte.

 

„Was hätte ich denn machen sollen?“, entgegnet Ali auf den Vorwurf, den nur er selbst sich macht. „Wären wir im Irak geblieben, wären meine Kinder jetzt auch tot“, sagt der Mann, der in seiner Heimat Polizist war.

 

Es ist drei Monate her, dass die Bilder eines toten Jungen am Strand des türkischen Badeortes Bodrum weltweit Entsetzen auslösten. Der dreijährige Aylan aus Syrien war ertrunken, als seine Eltern mit ihm nach Europa fliehen wollten. Es darf keinen weiteren Aylan geben, forderten Politiker angesichts der Bilder des toten Kindes. Doch das Sterben geht weiter. Mindestens 3671 Flüchtlinge sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration in diesem Jahr bereits im Mittelmeer ertrunken. Die vierjährige Zainab und der sechsjährige Hussain, Alis Kinder, gehörten zu den jüngsten.

 

Ali erzählt seine Geschichte auf Kos, der griechischen Insel, drei Tage nach dem Tod der Kinder. Dass er fliehen musste, beschloss Ali nach einem Zwischenfall an einem Checkpoint in Bagdad vor einigen Wochen. In einem Auto entdeckte er mehrere Schalldämpfer. Ali hielt die Männer in dem Wagen für Attentäter – und ließ sie festnehmen. Kurz darauf erhielt er einen Anruf seines Vaters. „Bei dir zu Hause sind maskierte Männer aufgetaucht. Sie haben nach deinen Kindern gesucht. Sie wollen dich und deine Kinder töten“, sagte der Vater.

 

Ali nahm die Drohungen der Komplizen der von ihm festgenommenen Männer ernst. Mit dem zehnjährigen Hassan, der neunjährigen Hawra sowie mit Hussain und Zainab fuhr er in die Türkei. Seine Frau war zwei Jahre zuvor an Herzversagen gestorben. Ihr hatte er geschworen, die Kinder zu beschützen.

 

In der Türkei wurde der Vater von Menschenschmugglern angesprochen. Sie zeigten ihm das Bild einer großen Yacht. Sie sah vertrauenerweckend aus. „Für meine Kinder wollte ich das sicherste Boot. Dafür war ich bereit, jeden Preis zu zahlen“, sagt Ali. 8000 Euro knüpften ihm die Schleuser für fünf Plätze ab.

 

Kurz darauf brachten sie ihn und seine Kinder nachts an einen einsamen Strand in der Nähe von Bodrum. Doch statt einer seetauglichen Yacht lag dort ein altes, drei Meter langes Schlauchboot. „Da gehe ich mit meinen Kindern nicht rauf“, sagte Ali. Als er die Pistole eines Schleusers im Rücken spürte, ging er doch. Mit elf weiteren Menschen an Bord legte das Boot ab. Ein Scherge des Menschenschmugglerrings nahm Kurs auf die Lichter der nur wenige Kilometer entfernten griechischen Insel Kos.

 

Doch um ihren Profit zu steigern, hatten die Schleuser nicht vollgetankt. Als der Außenborder stotternd ausging, wurde der überladene Kahn manövrierunfähig, Wellen schlugen ins Boot, es verlor immer mehr Luft. Panik brach aus. Als ein Flüchtling die Küstenwache rufen wollte, schlug der Schleuser ihm das Handy aus der Hand.

 

Das Wasser im Boot stieg höher und höher. Hawra und Hassan klammerten sich am untergehenden Boot fest. Vater Ali, der selbst nicht schwimmen kann, versuchte, seine beiden jüngsten Kinder irgendwie über Wasser zu halten. Doch Zainab und Hussain schluckten immer wieder Wasser, verloren im Arm ihres Vaters mehrfach das Bewusstsein. „Schlaf nicht ein“, brüllte Ali seinen Sohn an. Hussain antwortete: „Papa, ich will schlafen.“

 

Als nach Stunden endlich ein Boot der griechischen Küstenwache auftauchte, kletterten Hawra und Hassan entkräftet an Bord, Ali reichte den Rettern zunächst seine Tochter Zainab. Als er selbst an Bord gezogen wurde, entglitt ihm Hussain. „Mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn! Er ist da im Wasser“, schrie der Vater. Doch in der Nacht konnte niemand einen Sechsjährigen entdecken.

 

Als Ali seinen Blick vom untergehenden Boot abwandte, sah er an Deck des Rettungsbootes Zainab. Die Vierjährige atmete nicht mehr. „Sie sagten mir, dass sie in meinem Arm ertrunken war, aber sie haben nicht mal versucht, sie wiederzubeleben“, erzählt der Vater unter Tränen.

 

Für Hawra und Hassan versucht er, irgendwie zu funktionieren. Es gelingt ihm kaum. Nachts liegen die beiden Kinder in seinen Armen. Schlaf finden sie selten, denn zur Trauer kommt die Angst. „Der Schleuser, der mit uns im Boot saß, wurde festgenommen. Ich habe gegen ihn ausgesagt. Danach erhielt ich einen Anruf der Menschenschmuggler aus der Türkei. Sie wollen mich und meine Kinder umbringen. Wir müssen weg“, sagt der Vater. „Außerdem kann ich den Anblick dieses Meeres nicht mehr ertragen.“

 

Ali wird von Omar Mansour, einem griechischen Geschäftsmann mit ägyptischen Wurzeln, gestützt. Zainabs Tod macht ihn traurig und wütend zugleich. „Das Schleusergeschäft ist nichts anderes als organisierter Mord. Der Tod dieser Kinder ist eine Schande für die ganze Welt“, sagt Mansour.

 

Nachdem ihre kleine Schwester vor ihren Augen ertrunken und ihr jüngerer Bruder untergegangen war, haben Hawra und Hassan zunächst kaum gesprochen. „Am Anfang konnten sie nicht weinen. Sie waren leer, einfach leer“, sagt ihr Vater.

 

Statt mit Worten versuchte der zehnjährige Hassan, sich über Bilder mitzuteilen. Immer und immer wieder malte der Zehnjährige dasselbe Motiv: Mehrere Menschen schwimmen auf dem Bild im offenen Meer. Einer von ihnen hält zwei kleine Kinder im Arm. Es ist Hassans Vater mit Zainab und Hussain. Auch sich selbst und seine Schwester Hawra hat Hassan gemalt. Unter einem schwarzen Himmel versuchen sie, sich über Wasser zu halten. Auf dem langsam untergehenden Schlauchboot sitzt ein Mann mit Bart. Es ist der Schleuser.

 

Auch Hassans Schwester malt. Doch auf ihren Bildern sieht man keine ertrinkenden Menschen, sondern eine warme Sonne, grüne Bäume und bunte Blumen. Dazwischen hat sie glitzernde Prinzessinnen-Sticker geklebt.

 

Marina Spyridaki, Psychologin der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, betreute Hassan, Hawra und ihren Vater unmittelbar nach dem Schiffsunglück. „Die beiden Kinder versuchen, das Erlebte auf ganz unterschiedliche Weise zu verarbeiten“, sagt die Therapeutin. „Während Hassan malt, was geschah, flüchtet Hawra sich in eine heile Traumwelt.“

 

Mittlerweile ist Ali mit seinen beiden Kindern in Athen. Dort kümmert sich die Hilfsorganisation Praksis um die traumatisierte Familie. Rechtsanwältin Antonia Moustaka hat für die Familie einen Antrag auf die von EU-Kommissionspräsident Juncker vorgeschlagene Umverteilung von Flüchtlingen gestellt. „Eigentlich wollten Ali und seine Kinder in die Schweiz, weil dort bereits seine Mutter und seine zwei Geschwister wohnen. Aber da die Schweiz kein EU-Mitglied ist, steht Deutschland jetzt ganz oben auf der Liste“, sagt Moustaka.

 

Weil Ali und seine Kinder aufgrund der traumatischen Erlebnisse auf der Flucht als besonderer Härtefall gelten, soll ihr Anliegen bevorzugt behandelt werden. Vielleicht können Vater, Tochter und Sohn schon in ein paar Wochen in Athen ein Flugzeug in ihre neue Heimat besteigen. Die Kosten für den Flug wird die Internationale Organisation für Migration übernehmen, Ali und seinen Kindern wird so zumindest die lange und anstrengende Flucht über die Westbalkan-Route erspart bleiben.

 

„Sie realisieren allmählich, was passiert ist. Zugleich versuchen sie, sich auf ihre Zukunft zu konzentrieren“, sagt Antonia Moustaka. Das Schicksal der Familie nimmt die Anwältin mit – auch wenn sie immer wieder mit Eltern zu tun hat, die auf der Flucht Kinder verloren haben. Einmal beriet sie eine Frau, bei der mitten auf dem Meer die Wehen einsetzten. Weil das Kind im Geburtskanal stecken blieb, nahmen andere Flüchtlinge ein Messer zur Hand.

 

Die Frau überlebte den Kaiserschnitt im Schlauchboot. Das Baby nicht.